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MARATHONMANN, CASINO BLACKOUT, SPERLING – Backstage Halle, München – 19.11.2021

Nach einem turbulenten Jahr 2021 laden MARATHONMANN zum Jahresabschluss-Konzert ins Münchner Backstage, um nach der Akustik-Tour im Sommer endlich wieder die Stromgitarren sprechen zu lassen. Zusammen mit den befreundeten Bands CASINO BLACKOUT und SPERLING liefern die Münchner nach der Durststrecke dann auch eine explosive Show, die weit über das Standardprogramm hinausgeht.

Manchmal hat man das Gefühl, dass die gesamte Welt gegen einen ist. Eigentlich hatten MARATHONMANN ja schon im Frühjahr gehofft, in München ihren großen Tour-Abschluss zu feiern. Doch die Pandemie kam 2021 mit Härte zurück, die Inzidenzen stiegen und die Show wanderte vorerst in den November. Termine hatte man zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach verschieben müssen, die Zeit dazwischen mit Akustik-Auftritten gefüllt, um schließlich im Herbst endlich wieder die Verstärker auf elf drehen zu können.

Doch selbst dieses Vorhaben steht bis zuletzt auf wackeligen Beinen: Deutschland steckt mitten in der vierten Covid-Welle, als die bayerische Landesregierung im November neue Beschränkungen für die Kulturbranche erlässt. Auch MARATHONMANN selbst diskutieren in den sozialen Medien die Situation mit ihren Anhängern, ob man angesichts der gegenwärtigen Entwicklung eine derartige Veranstaltung verantwortungsvoll und möglichst sicher durchführen kann. Erst wenige Tage im Voraus gibt man schließlich grünes Licht: Mit der „2G+“-Regelung, aber kurzfristig leider ohne die beiden geplanten Support-Acts CADET CARTER und RAUM/27 findet das Heimspiel tatsächlich statt.

Unter ähnlich widrigen Umständen suchen wir demnach an diesem Freitagabend den Weg ins Backstage: Lange Schlangen vor den Testzentren und ein Oberleitungsschaden im Schienennetz lassen unsere Anreise zur kleinen Odyssee werden, bis wir endlich gegen halb sieben die kalte Münchner Abendluft gegen wohlige Hallen-Atmosphäre eintauschen können. Innen angekommen wirkt alles beinahe wie früher: Auf der Bühne wird fleißig am Setup gewerkelt, im hinteren Bereich lockt der üppige Merch-Stand mit diversen Angeboten und über das große Areal verteilt genießen die zeitig angereisten Fans Bier, Cocktail und Plaudereien unter Gleichgesinnten. Die Atmosphäre ist entspannt und ungezwungen, weshalb in der Zeit bis zum Konzertauftakt trotz der 35-minütigen Verspätung kaum eine ungenutzte Minute zu vergehen scheint.

SPERLING

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Als aber dann endlich die Lichter ausgehen, wird es schnell still in der Halle, bevor SPERLING zum Auftakt erstmal das gegenwärtige Musik-Deutschland zusammenfalten: „Obwohl sie in fremden Kulturen rhythmisch tanzen und flowen, reicht in Deutschland ein Musikstil für die ganze Nation.“, lässt uns Sänger Johannes mit einer Mischung aus Sarkasmus und Frust wissen. Nicht unbegründet, denn mit einem einzigen Genre will sich das Quartett nicht zufriedengeben: Die Art und Weise wie sich in „Eintagsfliege“ der Sprechgesang des Bassisten über das Post-Rock-Fundament legt, ist durchaus eigen und markant. Schon der erste Song macht uns somit klar: SPERLING haben eine ganze Menge Charakter und das nicht nur aufgrund ihres E-Cellos, das beispielsweise in „Stille“ auch mal die Melodieführung übernehmen darf.

Wir sind anfangs selbst überrascht, wie viel Variation die Musiker aus dem Spannungsfeld zwischen Rock, Post Hardcore und Rap herauskitzeln, als etwa „Relikt“ zum Ende mit Riff-Gewalt in Richtung MESHUGGAH schielt – eine Referenz, die wir am heutigen Abend nie im Leben erwartet hätten. Offenbar sind wir nicht die Einzigen, die zunächst auf dem falschen Fuß erwischt wurden: Das Publikum im Backstage lauscht zwar aufmerksam, kann das Gehörte aber nicht immer sofort einordnen. Zumindest, bis MARATHONMANN-Frontmann Michi auf die Bühne gebeten wird, um die gemeinsame Single „Es geht“ anzustimmen. Auch dank des Engagements des Lokalmatadoren und des explosiven Refrains scheint das Eis plötzlich gebrochen: Vor den Brettern kehrt auf einmal munteres Treiben ein, während die Titelzeile lautstark mitgesungen wird.

In nur 35 Minuten zeigen SPERLING eine ganze Menge Charakter

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Eigentlich schade, dass wir kurz danach mit dem nachdenklichen „Mond“ schon fast am Ende des Sets angelangt sind. Das langsam aber stetig anwachsende „Baumhaus“ steuert schließlich auf ein intensives Finale zu, dem unglücklicherweise von der kurzzeitig ausgefallenen PA-Anlage ein Strich durch Rechnung gemacht wird. Im Nachhinein halb so wild, denn was uns wirklich nach diesen 35 Minuten in Erinnerung bleiben wird, ist eben das, was dem heutigen Mainstream-Musik-Deutschland irgendwie abhandengekommen scheint, von dem SPERLING selbst aber eine ganze Menge besitzen: Authentizität und Charakter.

SPERLING Setlist – ca. 35 Minuten

1. Eintagsfliege
2. Relikt
3. Stille
4. Laut
5. Es geht
6. Bleib
7. Mond
8. Baumhaus

Fotogalerie: SPERLING

CASINO BLACKOUT

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Dass die gut gelaunte Fan-Schar nach der halbstündigen Umbaupause keinerlei Vorlaufzeit brauchen würde, hätten wir uns derweil denken können: Nicht nur haben CASINO BLACKOUT offensichtlich ein kleines Regiment an treuen Anhänger:innen im Gepäck, ihr Kontrastprogramm zum oft reflektierten Auftakt könnte nicht größer sein. Der schmissige, gut gelaunte Punk Rock rüttelt von der ersten Sekunde an auf und wirkt geradezu belebend, auch weil die mehrstimmig gesungenen Refrains sofort im Kopf bleiben. Die gute Laune auf der Bühne, wo Bassist Jan kaum einen Moment still verharren will, springt schon im lockeren „Nietenjacke“ aufs Publikum über, das im folgenden “Novo” dann auf Signal von Frontmann Flo Tragl das erste Mal munter auf und abspringt.

Ab da ist der Gig eigentlich schon ein Selbstläufer: Wir sehen die ersten Crowdsurfer, im glatten Rocker „Hier unten“ wird fleißig gepogt und als CASINO BLACKOUT mit „Gut genug“ das Tempo reduzieren oder in „Nullpunkt“ die Akustikgitarre auspacken, nicht minder engagiert mitgesungen. Es ist an diesem Abend ein Geben und Nehmen, denn was vor der Bühne der Band ein riesengroßes Grinsen ins Gesicht zaubert, erwidert diese gleichsam mit Engagement und schließlich sogar dem oft geforderten Klassiker „Geschichten“. Der darauffolgende Moshpit ist dann nur die logische Konsequenz.

Mit CASINO BLACKOUT wird ein einfaches Konzert im Handumdrehen zur Party-Sause

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Zwar würden wir uns im recht eingängigen Sound hier und da etwas mehr Kanten wünschen, live entwickelt das Material des aktuellen Albums „Fragment“ (2019) trotzdem genug Drive, um ein einfaches Konzert zur ausgelassenen Party-Sause zu transformieren. Trotz Saitenriss also auch ein gelungener Live-Einstand für Neu-Gitarrist Sven, an dessen Ende wohl einzig der Wunsch Tragls nach einem MARATHONMANN-Feature unerfüllt bleiben muss. Aber was nicht ist, kann ja bekanntlich noch werden.

CASINO BLACKOUT Setlist (ca. 50 Minuten)

1. Von Bedeutung
2. Nietenjacke
3. Novo
4. Hier unten
5. Wach
6. Gut genug
7. Bestehen bleiben
8. Unterton
9. Sicht verbaut
10. Nullpunkt
11. Geschichten
12. Distanz

Fotogalerie: CASINO BLACKOUT

MARATHONMANN

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Auf ein paar hundert Gast-Features kann sich dagegen der Headliner des Abends einstellen, denn als zum Ende des Changeovers BON JOVIs „It’s My Life“ über die Anlage erklingt, singen sich ebenso viele Kehlen in der Backstage Halle lautstark warm. Die Vorlage nutzen MARATHONMANN direkt, um zum Auftakt JOURNEYs Klassiker „Don’t Stop Believing“ anzustimmen, wo sich Schlagzeuger Jo als durchaus formidabler Sänger entpuppt. Es ist ein irgendwie verrückter, aber auch sympathischer Start in einen anderthalbstündigen Auftritt, der sich bald als kleines „Best of“-Programm entpuppen soll.

Der Mix ist gut, die Menge aufgeheizt und die Band unter Hochspannung, als zu den Klängen der neuen Single „In einer kleinen Stadt“ das Backstage regelrecht explodiert – mit ihm leider auch die Technik, weshalb wir die zweite Hälfte des Songs auf den Bass verzichten müssen. Der Stimmung tut das keinen Abbruch, zumal Frontmann Michi die kleine Panne humorvoll überspielt, um dann wieder mit Elan durchzustarten. Der Moshpit erreicht in „Neumondnacht“ zuvor ungeahnte Größen, während des eingängigen „Flashback“ wird ausgelassen getanzt, bis das Publikum in „Wir sind immer noch hier“ nochmal eine Schippe drauflegt.

MARATHONMANN zeigen einen beherzten Auftritt, der weit über das Standardprogramm hinausgeht

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Immer gut zu hören sind die tobenden Fans, die teils weite Wege auf sich genommen haben, um diesen Jahresabschluss selbst miterleben zu können. Die Anwesenden vor der Bühne kennen jedes Wort, jede Textzeile und dabei keinerlei Berührungsängste. Uns selbst bietet man im Verlauf der 90 Minuten spontan ein Bier an, machen dann Bekanntschaft mit einer Gruppe, die eigens aus Zwickau angereist ist, und werden schließlich von einem emotionalen Fan unerwartet herzlich in den Arm genommen. Wir mögen doch jede Minute heute Abend genießen, gibt uns Letzterer mit auf den Weg, bevor er sich wieder ins Getümmel stürzt – und wenige Augenblicke später von der Bühne in die Menge segelt.

Es sind kurze Augenblicke wie diese, die an solch einem Tag in Erinnerung bleiben und die sicherlich jeder der Anwesenden mit nach Hause nehmen wird. Es zeigt uns auch die Freude an der Live-Musik, die viel zu lange zurückgehalten werden musste und nun endlich ein Ventil findet. Das spüren wir auch auf der Bühne, wo Gitarrist Jonathan jeden Zentimeter unsicher macht, während Bassist und Sänger Michi die extra Portion Leidenschaft in jede Zeile legt. Überhaupt zeigen MARATHONMANN eine beherzte Performance, die weit über das Standardprogramm hinausgeht.

Auch die Erfahrungen der Akustik-Shows lassen MARATHONMANN nun in ihre reguläre Show einfließen

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Mit dem live besonders intensiven „Alles wird gut, Alice“, spendiert uns das Quartett etwa eine Live-Premiere, nachdem sie zuvor „Hinter den Spiegeln“ dank Geigerin Saskia mit einer zusätzlichen Facette angereichert hatten. Die Erfahrungen, welche das Gespann im Sommer mit ihren Akustik-Auftritten gesammelt hat, webt es nun auch nahtlos in das Rock-Programm ein: Die emotionale Akustik-Ballade „Abschied“ bestreiten MARATHONMANN abermals mit Saskia an der Geige und sogar Gitarrist Jonathan am Klavier, bevor man im Zugabenblock den Klassiker „Holzschwert“ ebenfalls im Unplugged-Format darbietet. Der Clou dabei: Sänger Michi wagt sich mit Akustikgitarre direkt vor die Bühne, wo sich um den Frontmann schnell ein Kreis aus begeistert mitsingenden Fans bildet [Handy-Foto].

Als zum Finale dann die Rockbesetzung einsetzt und das Tempo hochdreht, bleibt nahezu kein Stein mehr auf dem anderen. Und weil zu diesem Zeitpunkt bereits mehrmals an diesem Abend von „Abriss“ gesprochen wurde, schieben MARATHONMANN zum Abschluss das Heinz Rudolf Kunze-Cover „Dein ist mein ganzes Herz“ hinterher, um dann mit dem obligatorischen und stets großartigen „Die Stadt gehört den Besten“ die Backstage Halle endgültig zu plätten. Dieser Schlussakt hat mittlerweile fast schon etwas von einem Ritual, entwickelt aber dennoch jedes Mal ein neues Eigenleben: Crowdsurfer, Moshpit, Fans, die kurzerhand zum Mikro greifen. Und heute sogar ein spontaner Gastauftritt. Denn wenn das MARATHONMANN-Feature nicht zu CASINO BLACKOUT kommen will, dann nimmt eben deren Sänger Flo das Ruder selbst in die Hand, um den Kollegen auf der Zielgeraden unter die Arme zu greifen.

MARATHONMANN beenden den Abend mit einem Knall

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Ein lautes Ende für einen lauten Abend, der lange unter keinem guten Stern stand: erst die Verlegung, dann die Zitterpartie und die kurzfristigen Absagen – es hätte auch ein anderes Ende nehmen können, wie die neu angekündigten Restriktionen für Kulturveranstaltungen in Bayern kurz zuvor sichtbar machen. Auch deshalb wird der Jahresabschluss MARATHONMANNs wohl auch bis auf Weiteres unser eigener sein. Aber damit können wir nach diesen teils wahnsinnigen Stunden durchaus gut leben, zumal wir optimistisch bleiben, dass es auch diesmal ein Abschied auf Zeit ist, bis wir bald schon wieder gemeinsam feiern werden können. Manchmal kommen sie wieder, haben wir gehört.

MARATHONMANN Setlist – ca. 90 Minuten

1. In einer kleinen Stadt
2. Räume
3. Neumondnacht
4. Flashback
5. Wo ein Versprechen noch was wert ist
6. Wir sind immer noch hier
7. Nie genug
8. Hinter den Spiegeln
9. Manchmal kommen sie wieder
10. 22 Meter Sicherheitsabstand
11. Alles wird gut, Alice
12. Die Zeit war
13. Abschied
14. Schachmatt
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15. Holzschwert
16. Totgeglaubt
17. Dein ist mein ganzes Herz (Hein Rudolf Kunze-Cover)
18. Die Stadt gehört den Besten

Fotogalerie: MARATHONMANN

Fotos: Tatjana Braun für vampster.com

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