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ICED EARTH Studioreport, 28.01.01, Florida

Bislang hielt man sich im Lager ICED EARTHs in puncto Hörproben und Interviews zum kommenden Album "Horror Show" eher bedeckt. Doch an diesem Tag gewährte Jon Schaffer einzelnen Journalisten eine erste exklusive Audienz…


Tampa, Florida. Ein Tag vor dem Superbowl, DEM Sportereignis der USA, frenetischer umjubelt und sehnsüchtiger erwartet als Halloween, Ostern und das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zusammen. Am Rande der von Football-Fans belagerten Stadt liegt es: Ein rotes Backstein-Gebäude. Hinter der unscheinbaren Fassade verbirgt sich das legendäre Morris-Sound, das Aufnahme-Studio der Brüder Jim und Tom Morris. Die Zahl der Veröffentlichungen härterer Gangart, die hier ihre adäquate klangliche Umsetzung erfahren haben, ist längst Legion. In Kürze wird sich zur eindrucksvollen Werkschau der Morris-Familie ein weiteres Album hinzu gesellen: Horror Show von ICED EARTH. Bislang hielt sich die Band um den zielstrebigen Gitarristen und Songwriter Jon Schaffer in puncto Hörproben und Interviews zum Something Wicked This Way Comes-Nachfolger eher bedeckt. Lediglich die offizielle Homepage gab das ein oder andere Detail zum kommenden ICED EARTH-Album preis. Doch an diesem Tag gewährte Jon Schaffer erstmals einzelnen Journalisten eine exklusive Audienz. So auch einem Mitarbeiter des Heavy oder was?!, der ebenfalls für Vampster tätig ist und dessen Lesern die ersten Eindrücke von dieser sehnsüchtig erwarteten Veröffentlichung nicht vorenthalten möchte. Here we go…

JonKaum haben wir uns dem eher unscheinbaren Gebäude genähert, in dem das neue ICED EARTH-Album den letzten klanglichen Feinschliff erhält, biegt auch schon eine vertraute Gestalt um die Ecke des Hauses.Hey guys, how ya doin`?, begrüßt uns Jon Schaffer, das hochgewachsene Oberhaupt der Band, im typischen Ami-Slang und geleitet uns nach dem obligatorischen Begrüßungsritual ins Innere des berühmten Klangtempels. Dort legt Jim Morris gerade Hand an `Jack`, einem rauhen, harten Midtempo-Song in typischer Band-Manier. Der Song handelt von Jack The Ripper. Er gibt aber eine andere Sichtweise auf die Gestalt dieses Mörders wieder. Diesmal ist die Mutter an allem Schuld, erläutert der Produzent, grinst und geht mit Jon rasch diverse Variationen eines bestimmten Vocal-Arrangements durch, bevor das ICED EARTH-Oberhaupt mit uns zu Photo-Sessions in ein nahegelegenes Motorrad-Geschäft aufbricht. Nach unserer Rückkehr beginnt die eigentliche Listening-Session, kommentiert von Jon, der die Songs, an denen er seit Monaten arbeitet, immer wieder begeistert auf der Luft-Gitarre begleitet.

Den Anfang macht `Creature`, ein geradliniger Midtempo-Song mit angenehm melodischen Lead-Passagen, den Jon selbst zwar, wie er sagt, cool findet, der aber nicht unbedingt zu seinen persönlichen Favoriten des Albums zählt. Die inhaltliche Materie war für mich nicht so inspirierend., erklärt er. `Creature` greift – wie nahezu alle Songs auf Horror Show – die Thematik eines alten Horror Film-Klassikers auf, in diesem Falle diente Jack Arnolds Creature From The Black Lagoon als Vorlage. Letztlich hat sich also Sänger Matthew Matt Barlow des Textes angenommen und die ursprüngliche Geschichte, so Jon, eher frei umgesetzt: Es geht jetzt um die Mutation eines alten Reptil-Drachengottes oder so. Dieser lebt im Amazonas-Dschungel, als ihn einige Abenteurer entdecken, seine Welt betreten und von ihm getötet werden. Als Kid fand ich den Film cool, aber heute nicht mehr so sehr. Die Story geht einfach nicht so sehr in die Tiefe.

Das folgende `Dracula`, einer der Favoriten Jons, entpuppt sich als ein mitreißendes Stück Musik mit brillanter Gitarrenarbeit und faszinierenden Harmonien en masse. Im atmosphärischen Beginn stellt der neue Bassist Steve DiGiorgio, früher unter anderem für DEATH, TESTAMENT und SADUS tätig, eindrucksvoll seine Fähigkeiten unter Beweis und glänzt mit ungemein gefühlvollem Spiel. Auch Drum-Neuzugang Richard Christy (CONTROL DENIED), mit dem der ICED EARTH-Kopf bereits bei DEMONS AND WIZARDS (Schaffers Neben-Projekt mit BLIND GUARDIAN-Sänger Hansi Kürsch) zusammen gearbeitet hat, erweist sich als ein guter Griff für die Band. Wir haben nun eine verdammt gute Rhythm-Section., zeigt sich Jon zufrieden. Die war auch schon vorher gut, aber das ist noch ein weiterer Schritt nach vorne. Die Tatsache, daß beide Musiker aus Bands stammen, die stilistisch deutlich komplexer agieren als ICED EARTH, empfindet er nicht als Manko: Für sie ist es durchaus eine Herausforderung, diese Musik zu spielen. Viele denken, das sei gar nicht so schwer im Vergleich zu einem sehr technisch ausgerichtetem Stil. Aber es ist gar nicht so leicht! Musik zu spielen, die groovet, ist schwer. Viele machen sich über AC/DC lustig, aber ich sag Dir was: Es ist weit es chwerer als es aussieht und als man denkt. Denn je reduzierter Musik an Elementen ist, um so mehr Raum bleibt auch für Fehler. Chucks (Chuck Schuldiner, Band-Oberhaupt von DEATH und CONTROL DENIED – der Verf.) Musik unterscheidet sich sehr von meiner und man kann sich dort spielerisch sehr ausleben, denn er mag es kompliziert und ausschweifend. Für diese Jungs war es gar nicht so leicht, in diese kontrolliertere Umgebung zu kommen und zu lernen, wie man einen Song mit Groove spielt. Es war eine Herausforderung für die beiden, aber es hat ihnen großen Spaß gemacht, denn sie beide sind Profis und mögen Herausforderungen. Und sie haben sie auch bewältigt.

Insgesamt ist `Dracula` einer der zugänglichsten Songs des Albums, ebenso wie `Jeckyl And Hyde`, ein abwechslungsreiches, stellenweise bombastisches Stück, in dem Jon Teile eines alten PURGATORY-Songs namens `Plea Of Insanity` verarbeitet hat. Nicht nur deshalb lohnt genaues Hinhören, denn beim Mix hat sich Produzent Jim Morris einige ungewöhnliche Ideen einfallen lassen: Da gibt es einen Dialog, bei dem Matt die Part des Dr. Jeckyls singt und ich die Worte von Mr. Hyde spreche., berichtet Jon. Und wenn man sich das auf dem Kopfhörer oder direkt in der Mitte zweier Boxen anhört, dann klingt es, als würde meine Stimme direkt in deinem Kopf erklingen. Es hört sich wirklich merkwürdig und gruselig an! In der Story ist ja Mr. Hyde auch im Innern des Arztes und kommt durch die Chemikalien, die dieser zusammen mixt, zum Vorschein. Ich sage also zu Matt: I own you! und all diese Dinge. Und über Kopfhörer hört es sich eben an, als sei ich tatsächlich irgendwo in deinem Hinterkopf!

Es folgt Jons ganzer Stolz und erklärter Favorit der neuen Songs: `Damien`, ein düsteres Epos rund um die The Omen-Filmtrilogie. Unheilvolle Chorpassagen setzen ein und bilden ein eindrucksvolles Fundament für die dunkle Atmosphäre des Stückes, in dem zahlreiche Tempi- und Klangfarbenwechsel für Dynamik sorgen. Die opulenten Background-Vocals, die dem finsteren Soundtrack der Omen-Filme in seiner Wirkung kaum nachsteht, wurden in Schaffers Heim-Studio aufgenommen: Die haben wir insgesamt zu siebt eingesungen. Ich war dennoch nicht überzeugt, daß wir das schaffen, aber im Nachhinein klingt es für mich wirklich realistisch nach einem 200-Mann–Chor. Für mich ist es der stärkste Song des Albums, außerdem einer der bösesten, die wir je geschrieben haben.

Weniger episch und weit geradliniger klingt der leicht forcierte Midtemposong `The Mummy`, der mit interessanter Gitarrenarbeit fesselt und bei dem sich erstmals Gitarrist Larry Tarnowski offiziell am Songwriting beteiligt hat. Er hat 30 Sekunden des Intros geschrieben und ein paar Rhythmusideen und eine Lead Guitar-Passage eingebracht., berichtet Jon und erklärt, der junge Musiker hätte noch mehr Ideen parat gehabt, doch sie klangen sehr nach dem, was ich selbst schreiben würde, und es schien mir einfach nicht so, als würden uns seine Ideen weiterbringen. Er hat ein weiteres Tape mit ganz anderen Ideen, von denen er dachte, sie würden mir ohnehin nicht gefallen, denn sie waren etwas abstrakter. Aber sie gefallen mir sehr gut und ich denke, wir werden sie in der Zukunft auch aufgreifen. Aber durch die Thematik dieses Albums haben wir uns selbst etwas eingeschränkt. Matt ist sehr von europäischen Metal-Einflüsse beeinflußt, zum Beispiel von HELLOWEEN und GAMMA RAY. Und das paßt nicht so richtig gut zu ICED EARTH, denn wir sind keine Euro-Metal-Band. Es gibt Passagen, die in diese Richtung gehen, aber das liegt daran, daß wir von den gleichen Bands beeinflußt sind, von denen auch sie inspiriert wurden. MAIDEN, PRIEST und all das. Vielleicht werden wir also einige seiner Ideen für das nächste Album verwenden., aber diese Atmosphäre funktioniert nicht bei einem Horror-Konzept. Lediglich bei `Phantom Of The Opera` haben wir am Anfang diese Cembalo-Sounds eingebaut. Die spiele ich auf meiner Gitarre. Auf `Phantom Of The Opera` und `Dracula` hat Larry übrigens fast gar keine Gitarrenparts übernommen, nur einige Solos und kleinere Elemente. Er hat auf diesem Album gar nicht so viel eingespielt, insgesamt vielleicht fünf Minuten. Bei der Produktion ist es leichter, wenn ich das alles selbst übernehme, denn ich habe die Sachen geschrieben und kann sie schneller einspielen, was uns im Studio eine Menge Geld erspart.

Die Rolle des Album-Openers wird voraussichtlich das energische `Wolf` übernehmen, obgleich Jon immer noch mit dem Gedanken spielt, `Horror Show` mit `Damien` zu eröffnen: Eigentlich könnte es keinen besseren Einstieg geben. Aber `Damien` ist vielleicht doch zu fordernd, insbesondere das Ende ist sehr düster und intensiv und möglicherweise für den einen oder anderen Hörer als Opener schlicht zuviel. `Wolf` ist sehr hart und unglaublich brutal, da fliegen dir 205 Beats per Minute Doublebass-Drums um die Ohren. Es gibt Leute, die uns Ausverkauf und all den Mist vorwerfen, und das wäre ein gutes Fuck you! an ihre Adresse. Wir waren immer Metal, wir sind Metal und wir werden immer Metal sein! Das ist überhaupt ein sehr aggressives Album: Es gibt nur eine Ballade. Außerdem ist die Thematik eine sehr düstere und das erfordert einen sehr harten und dunklen Sound. Die ganze ‚Horror Show`-Idee ist darauf ausgelegt, ein sehr intensives und eindringliches Album aufzunehmen, und es spiegelt sich auch all der Mist darin wider, den ich die letzten eineinhalb Jahre mitgemacht habe.

Gegen Ende des Listening-Session folgt noch ein weiterer Höhepunkt des kommenden Albums: `Phantom Of The Opera`, an dem Jon noch bis zur letzten Minute gearbeitet hat. Weder Jim noch Matt wußten genau, wie er klingen würde, bis wir mit den Gesangsaufnahmen angefangen haben. Ich hatte die Texte noch nicht fertig und ich wußte, ich müßte noch einiges ändern. Es war ein Alptraum., erinnert er sich. Nichtsdestotrotz klingt das Resultat mehr als eindrucksvoll: Das neunminütige Stück ist wohl einer der dramatischsten Songs in der Geschichte ICED EARTHs und wartet nicht nur mit den bereits umschriebenen mittelalterlichen Klangelementen auf, sondern erstmals auch mit weiblichen Lead-Vocals, die sich mit Matt Barlows Stimme packende Dialoge liefern. Bislang haben wir nur bei Chor-Passagen Frauenstimmen eingesetzt., erklärt Jon. Aber das Stück ist eher im Musical-Stil geschrieben, denn es war mir wichtig, die Besessenheit und die Leidenschaft des Phantoms in bezug auf dieses Mädchen namens Christine darzustellen. Hätte Matt ganz alleine alle Textpassagen übernommen, wäre das gar nicht möglich gewesen.

Das letzte Stück, das wir zu hören bekommen, ist ein recht original-getreu inszeniert Cover-Version: Das IRON MAIDEN-Instrumental `Transylvania`, das die Band, so Jon, nur aus Spaß aufgenommen habe, um es Steve Harris, dem Bassisten der britischen Metal-Institution zu widmen. Es ist sicherlich nicht der beste IRON MAIDEN-Song, aber er ist cool. Und er paßt aufgrund seines Namen sehr gut in das Konzept.

Die Arbeiten an den Songs `Frankenstein` und `Ghost Of Freedom` waren zum Zeitpunkt unseres Besuches noch nicht so weit fortgeschritten, daß eine Hörprobe möglich gewesen wäre. Bei letztgenanntem Titel handelt es sich um die einzige Ballade des Albums, die, so Jon, mit einem interessantem Konzept aufwartet. Es ist eine Ballade über eine amerikanische Militär-Familie, deren Geschichte zurück zur Amerikanischen Revolution reicht. Der Vater stirbt im Krieg und wacht von nun als Geist über seine beiden zwei Söhne, die ebenfalls Soldaten werden. Er begleitet sie und alle anderen Nachfahren durch alle Kriege, die die USA führt. Die Perspektive innerhalb des Textes ist die des Geistes, der seine Angehörigen begleitet, und das gibt dem Song einen coolen persönlichen Touch. Wir möchten diesen Song allen Kriegsveteranen des Landes widmen, die für die Freiheit unseres Landes gekämpft haben und für all die guten Dinge, die wir hier haben. Auf Nachfrage beschreibt sich der ICED EARTH-Gitarrist durchaus als Patrioten, der die USA liebt, sich allerdings der Mißstände in seinem Heimatland durchaus bewußt ist. Er selbst hat sie bereits auf `Consequences`, einem Song des Something Wicked…-Albums, umschrieben. Was mich sehr abstößt, ist die Geschichte der Sklaverei, das ist eine furchtbare Sache, ebenso der Völkermord an den Indianern. Ich habe zum Teil Cheroquee-Blut in mir. Aber es gibt Dinge in unserem Land, auf die ich stolz bin, obwohl es hier eine Menge verdammter Idioten und eine Menge trendy Bullshit gibt: Die Idee und die Ideale, für die die USA stehen. Das liebe ich so an den USA, selbst wenn diese Ideale durch manche Leute so sehr durch den Schmutz gezogen und mißbraucht wurden wie die Bibel. Die Idee zum Beispiel, daß jeder gleichen Standes geboren wird, ist eine wundervolle Sache, selbst wenn wir wissen, daß das nicht wirklich so ist. Selbst wenn es eine Menge Mist hier gibt, ist es immer noch das beste System, das ich mir vorstellen kann. Auf der ganzen Welt werden Fehler gemacht. Es gibt ein gewisses Maß an Heuchelei, das mich ankotzt, aber in anbetracht dessen denke ich immer daran, was die Gründerväter im Sinn hatten, als sie die USA ins Leben riefen. Und das war: mehr Macht den Menschen, mehr Freiheit und weniger Regierung. Dafür steht für mich dieses Land. Und es gibt hier eine Menge Platz, das liebe ich so am Land selbst. Hier gibt es jede Geländeform, die man sich vorstellen kann. Es gibt Sümpfe, Berge, Wüsten, Hügel, Flachland… bist du jemals auf einer verdammten Harley Davidson gesessen und die Berge hinauf gefahren? Es gibt kein vergleichbares Gefühl, das ist einfach Magie. Unvergleichlich. Man fühlt die Freiheit irgendwie! Ich habe mich früher immer gefragt, was diese Biker wollten mit ihren Sprüchen wie Live free, ride free. Aber als ich dann das erste Mal auf einem Motorrad saß, wußte ich es. Nun weiß ich, warum sie das sagen. Das ist ein besonderes Gefühl. Soviel also zu ‚Ghost Of Freedom`, dem letzten Song des Albums…, schließt der ICED EARTH-Gitarrist den offiziellen Teil der Listening-Session…

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