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EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN: “Wir geben den Dingen mehr Raum!”

Dieser Interview-Riemen ist schon ein wenig älter: Mitten in der Corona-Krise im Mai 2020 sprach ich mit Blixa Bargeld von den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN. Aufhänger war das neue (immer noch aktuelle) Studioalbum „Alles in Allem“, darüber hinaus ging es um Klang und Krach, Schrottplätze und Philharmonien, NICK CAVE und HENRY ROLLINS, „Babylon Berlin“ und andere Hauptstadt-Filme, um notierte Träume und verlorene Heimaten, den konsequenten D.I.Y-Ansatz und mit was man sich im Lockdown sonst so die Zeit vertreibt. Am Ende verrät uns der Meister eines seiner Lieblingsrezepte.

Blixa Bargeld ist so, wie man ihn sich vorstellt. Einer der wenigen Rockstars, die diese Republik hervorgebracht hat. Und eine der wenigen glaubhaften Figuren zwischen Underground und Hochkultur, zwischen Feuilleton und Punkclub. Stolz und unantastbar. Hellwach, präzise und klar in seinen Formulierungen, was er auch von seinem Gegenüber erwartet. Viel Namedropping. Humor, oft zwischen den Zeilen. Bargeld lauert auf Fehler, kann aber auch charmant und witzig sein. Wenn er sich wohl fühlt, dann berlinert er für wenige Augenblicke. Die Gesamtwetterlage kann mit jeder neuen Frage abrupt umschlagen.

Pressepromoterin Alexandra Dörrie weiß um meine langjährige Verehrung des NEUBAUTEN-Œuvres und schanzt mir den letzten Slot des Interviewtages zu – ohne Anschlusstermin. Beste Frau! Schnell noch die Frage der Anrede geklärt („Ich tät mal sicherheitshalber Sie sagen“) … und dann gespannt vor dem Rechner eingefunden. Pünktlich auf die Minute bimmelt der Meister via Videokonferenz durch. Er sitzt an seinem Schreibtisch bei sich daheim in Berlin-Mitte.

Herr Bargeld, kurz nach der Jahrtausendwende begannen die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN damit, das Internet zum regen Austausch mit ihren Fans zu nutzen – ein wenig so, wie die Welt gerade zu großen Teilen miteinander kommuniziert …

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Das Cover des aktuellen EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN-Albums “Alles in Allem”

Das ist nicht ganz richtig. Meine Frau, die hier jetzt gerade auch der Host für dieses Zoom-Meeting ist, hat 2002 das Crowdfunding erfunden. Sie hat den Code dafür geschrieben und die Plattform gebastelt. Mit den EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN haben wir seit 2002 in insgesamt vier Phasen in so einer Crowdfunding-Situation gearbeitet. Teil unseres Angebots war dabei immer auch etwas, das damals ebenfalls als Begriff noch nicht existierte: Webcasts. Zu festgelegten Zeiten konnte man sich zu uns ins Studio schalten und sehen, wie wir arbeiten. Dazu gab es ein eigenes Forum und einen eigenen Chat – das alles ist Teil unseres sogenannten Unterstützer-Modells, wie wir es damals genannt haben. Heute ist das alles bekannt als Crowdfunding. Mit unserem neuen Album „Alles in Allem“ schließen wir gerade Phase IV dieses Unterstützer-Modells ab. Diesmal haben wir jedoch nicht wieder eine eigene Plattform aufgezogen, sondern einen der inzwischen vielen Anbieter genutzt: Patreon hat uns alle Legosteine geboten, die wir brauchten, um dieses Album so zu realisieren, wie wir uns das vorgestellt haben – von der Kreditkartenabrechnung über das Streaming hin zur deutschen Steuererklärung, all das konnten wir über Patreon abwickeln und mussten uns dafür nicht wieder ein eigenes Programm schreiben. Das ist die Art und Weise, wie wir mit unseren Unterstützern verkehren. Fans nenne ich sie aus etymologischen Gründen nicht. (lächelt)

Thema des neuen NEUBAUTEN-Albums „Alles in Allem“ ist Berlin …

Das Album hat kein Thema. Die Idee, die der Platte zugrunde liegt, war diesmal: Wir arbeiten ein Jahr und insgesamt 100 Tage lang daran. Berlin war ein Referenzpunkt – ganz am Anfang. Als ich damals gefragt wurde, ob es ein Thema oder ein Konzept gibt, habe ich gesagt „Vielleicht hat es etwas mit Berlin zu tun …“ Das blieb dann eine ganze Weile so stehen, wir haben auch konkret an einem Stück gearbeitet, das „Welcome To Berlin“ hieß. Das war lange ein provisorischer Arbeitstitel. Das Stück hat es aber nie durch die Qualitätskontrolle geschafft, damit ist dieses Referenzzentrum irgendwann gekippt. Es gibt nun zwar mehrere Stücke auf dem neuen Album, die nach Berliner Bezirken bekannt sind – „Tempelhof“ und „Wedding“ etwa oder „Am Landwehrkanal“, auch das ist Berliner Topographie. Aber in der Mitte ist es leer. Echte Referenzen oder ein übergeordnetes Thema „Berlin“ gibt es nicht. „Alles in Allem“ ist kein Konzeptalbum geworden.

Da bin ich zugegeben ein wenig erleichtert, denn bis auf die genannten Lieder habe ich auf „Alles in Allem“ nämlich wenig Berlin gefunden …

Richtig. Vielleicht hätte ich den Waschzettel (das Presseinfo – Red.) doch korrigieren sollen … Aber nennen Sie mir ein Stück, dann erzähle ich Ihnen etwas dazu!

Meine erste Liebe auf „Alles in Allem“ war witzigerweise eine Nummer, die bei den Bonustracks gelandet ist: „Si Takka Lumi“.

Ah, okay. Dieses Stück entstand, als die NEUBAUTEN zum ersten Mal seit der letzten Platte „Lament“, einem Themenalbum über den 1. Weltkrieg, wieder gemeinsam im Studio zusammengekommen sind: für eine Auftragsarbeit von Arte zu „100 Jahre Bauhaus“. Die Originalversion von „Si Takka Lumi“ ist erheblich länger und erheblich schwächer. Das Lied musste damals eine bestimmte Länge haben und tourt noch immer unter dem Titel „Das Totale Tanz Theater“, so eine Art 3-D-Virtual-Reality-Show mit Musik von den NEUBAUTEN. Für „Alles in Allem“ habe ich diese lange Version von „Si Takka Lumi“ zusammengeschnitten, erst dann machte sie für mich Sinn. Die ursprüngliche Version kann man aber immer noch auf Arte finden.

Zweiter Lieblingssong auf „Alles in Allem“: „Taschen“.

blankJa, „Taschen“ ist super. Darf ich Ihnen kurz die Taschen zeigen, um die es geht? (Er sucht auf seinem Smartphone und hält dann ein Bild in die Kamera). Um diese Teile hier geht es, im Berliner Volksmund auch „Polenkoffer“ genannt: Diese Plastik-Gewebetaschen mit dem ubiquitären blau-roten Karomuster und einem großen Reißverschluss oben drüber. Mit der Idee, damit mal etwas zu machen, war ich schon lange schwanger gegangen. Dass die erst jetzt Verwendung fand, liegt schlicht daran, dass sie einen nicht mehr auf Schrottplätze lassen – versicherungstechnisch. Wir haben lange telefoniert und schließlich auch einen gefunden in Brandenburg unweit der polnischen Grenze, der uns reinlassen wollte. Aber als wir da ankamen, hat man uns gerade bis zur Müllhalde gelassen. Weiter rein durften wir nicht. (Mit verstellter Stimme): „Haben Sie auch Edelstahl? Chrom?“ – „Ja, haben wir, verkaufen wir aber nicht …“

Warum ist es wichtig, auf Schrottplätze zu gehen?

Es ist nicht wichtig. Aber man kann dort Dinge finden, die vielleicht in sich eine Geschichte tragen, mit der wir etwas anfangen können – etwas Neues. Dinge, die wir überlisten können, so dass sie etwas von sich preisgeben. Es geht nicht um Sound. Wir sind nicht darauf angewiesen, mit Schrott zu spielen. Wir sind mit allen Materialien schon durch und auch mit allem, was sich in irgendeiner Weise überlisten lässt, um etwas von sich preis zu geben. Aber manchmal ist es doch gut, irgendeinen Gegenstand zu finden, der eine andere Geschichte hat. Wie gesagt, da geht es nicht um Klang, sondern darum, dass sich ein metaphorisches Feld öffnet, mit dem wir arbeiten können und mit dem wir irgendwo hin kommen, wo wir noch nie zuvor waren. In der Richtung Schrottplatz ist das für uns aber scheinbar nicht mehr länger abgreifbar. Doch die alte Idee, etwas mit diesen „Polenkoffern“ zu machen, wurde für „Alles in Allem“ neu initialisiert.

Sie hatten sich also woher auch immer diese alten Taschen besorgt. Wie ging das dann weiter?

Zuerst habe ich sie mit Helium gefüllt, weil ich dachte, ich könne sie schweben lassen. Ich stellte mir vor, dass wir auf der Bühne stehen und die Dinger plötzlich abheben und Richtung Bühnenhimmel entfleuchen – und dass das ein großartiges Bild abgäbe. Aber die Taschen wollten weder fliegen noch schweben. Daraufhin haben wir sie mit Styroporflocken gefüllt – Packing Peanuts. Doch da ging in der Band die Diskussion los, ob man überhaupt noch mit Styropor und solchen Materialien arbeiten sollte. Es endete damit, dass wir die Taschen mit Lumpen gefüllt und ein Mikrofon reingesteckt haben. Die Lumpen schaffen ein Volumen, und dieses Volumen zusammen mit dem Anschlag der Schlagzeugstecken auf diesem Plastikgewebematerial hat gereicht, um dem eine Berechtigung zu verschaffen. Und dann gibt es noch eine weitere Tasche, auch als Resultat dieser Diskussion, die ist voll mit kleinen Containern: Tupperware-Dosen, die wiederum mit kleinen Gegenständen wie Erbsen, Nägeln und Münzen gefüllt sind. Die ganze Tasche voll damit! Und die kann man spielen wie eine Mega-Maracas, also eine Rumba-Rassel. Das ist Alexander Hackes Solo-Tasche. Als wir dann gespielt haben … Rudolf Moser mit seiner Gamelan-Idee, Jochen mit zwei Taschen und Andrew mit zwei Taschen, die übrigens den Rhythmus einer chinesischen Baustelle spielen, die ich mal in Wuhan aufgenommen habe … und als da dann noch Alex’ Solotasche dazu kam, dachte ich mir nur: „Das ist das Meer!“ Ich sah die Wellenbewegung vor mir, das Rudern.

Wie es das Meer in den Text von „Taschen“ geschafft hat, habe ich noch immer nicht kapiert.

Ich hatte ohnehin vor, ein Stück weiterzuschreiben, das auf unserem Album „Perpetuum Mobile“ ist: „Grundstück“. Das beginnt mit dem Satz „Was ich in deinen Träumen suche? Ich suche nichts, ich räume nur auf.“ Das Weiterschreiben ging in diesem Fall so: „Was wir in deinen Träumen suchen? Wir suchen nichts. Wir warten.“ So läuft das oft bei mir: Ich mache mir ein Problem, und dann muss ich dafür eine Lösung finden – das ist für mich Komponieren und Schreiben. Die Frage hier war: Wie komme ich auf die andere Seite von diesem Meer? Da fiel mir Ghayath Almadhoun ein, ein syrisch-palästinensischer Dichter, der gerade auf Deutsch ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel „Ein Raubtier namens Mittelmeer“. Ihn habe ich gefragt, ob ich diese Zeile verwenden darf, und er sagt „I would be honored“. Dieser Buchtitel stand da dann lange als Platzhalter. Bis ich eines Morgens aufwachte und eine Zeile aus „Ich gehe jetzt“ (ebenfalls auf „Perpetuum Mobile“) weiterdachte. Aus der wurde dann „wälzt die Wogen ungeheuer, ein gefrässiges Ungetüm“. Das hat letztendlich diesen Platzhalter von Ghayath Almadhoun ersetzt. Es war tatsächlich die allerletzte Zeile, die ich für das neue Album geschrieben habe. Die einzige Frage, die sich mir dann noch stellte: Kann man Wogen wälzen? (Kunstpause; er lächelt) Das habe ich gegoogelt – ob es irgendwo ein Wogenwälzen gibt. Und siehe da: Ein bedeutender deutscher Dichter hat schon einmal Wogen gewälzt.

Nämlich?

Friedrich Nietzsche (lacht). Wenn er das kann, ist es grammatikalisch wohl justiziabel. Die Zeile war damit gekauft.

Sind Sie zufrieden mit „Alles in Allem“?

Ich finde die ganze Platte großartig. Wir hatten letzte Woche drei Listening-Sessions mit jeweils hundert von unseren Unterstützern, wo wir ihnen das komplette Album vorgespielt haben. Da haben wir sehr viel schönes Feedback gekriegt. „Taschen“ finden alle wunderbar, aber die meisten bezeichnen „Seven Screws“ als das zentrale Stück auf dem Album.

Lassen Sie uns über eine andere Nummer auf „Alles in Allem“ sprechen. In „Grazer Damm“ ruft der Protagonist die Bullen, weil die jungen Leute von Gegenüber die Nacht zum Tag machen. Fiktive Story oder sind Sie schon so weit?

Neee neee neee, das ist ganz anders. Der Grazer Damm ist ja die Straße, in der ich aufgewachsen bin. Meine Schwester wohnt da immer noch. Das Lied fängt an mit fünf realistischen Splittern – von wegen „Der Senat lagert Briketts für schlechte Zeiten ein“ – und hört auf mit fünf realistischen Splittern. Alles dazwischen ist ein Traum. In dem rufe nicht ich die Polizei, die kommt einfach. „Gegenüber auf der Strasse lärmen Leute in Kostümen. Sie trommeln und sie johlen, es soll wohl etwas Festliches sein. Ein festlich verbrämter Krawall.“ Und dann geht es nur noch ums Fallen: Menschen purzeln vom Dach, Fallschirmspringer in Astronautenkostümen landen auf der Straße – das ist einfach ein Traum. Im Original gab es da noch Treibsand, der unter den Personen wegbricht, aber das habe ich gekürzt.

Faszinierend: Sie erinnern sich an Ihre Träume.

Ich habe nicht immer das Glück. Aber ich habe es mir zur Disziplin gemacht, grundsätzlich jeden Tag etwas zu schreiben, und wenn es mir vergönnt ist, mich an einen Traum zu erinnern, dann schreibe ich auch den auf. Ich habe eine ganze Mappe nur mit Traum-Protokollen. Es gibt auch ein NEUBAUTEN-Album, da sind alle Texte nur Träume: „Jewels“.

Nach San Francisco und Peking leben Sie jetzt wieder in ihrer Heimatstadt Berlin. Kann Berlin Sie noch überraschen?

Als wir 2010 aus Peking und San Francisco zurückgekommen sind, sind wir nach Berlin-Mitte gezogen. Ich bin aber gebürtiger West-Berliner. Das vor meiner Haustür ist für mich quasi Terra incognita. Ich verbinde mit diesem Teil der Stadt nichts. Wenn ich hingegen durch den Tiergartentunnel nach West-Berlin fahre, kann ich sagen „dort hat meine Freundin gewohnt“ und „hier war mein Zahnarzt“. Wo ich jetzt lebe, is’ nix, da stammen alle Erinnerungen aus der Zeit nach 2010. Ich bin zwar de facto in Berlin, aber ich komme aus West-Berlin. Und West-Berlin gibt es nicht mehr. Dieses Schicksal teile ich mit anderen Leuten wie Carsten Nicolai: Bei dem steht im Paß „Geburtsort: Karl-Marx-Stadt“. Gibt es auch nicht mehr … (lächelt)

Die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN durften als erste Künstler in der Hamburger Elbphilharmonie auftreten. Unter uns: Wie steht es denn dort nun um den Klang? Die einen sagen so, die anderen so …

blank(lacht). Schwer zu sagen. Von der Bühne herunter kann ich ja nicht beurteilen, wie sich was anhört. Für uns war es jedenfalls sehr angenehm, dort zu spielen. Aber als kleines Bonmot: Das Problem ist nicht, wie gut ist der Sound – das Problem ist, dass die Leute alles glauben, was sie hören. Wirklich alles, auch, wenn ich mir bei „Silence Is Sexy“ eine Zigarette anzünde … (Er lächelt) Ich darf noch anfügen: Das letzte Konzert dieser Tour fand ebenfalls in einer Philharmonie statt, nämlich in Luxemburg, und die wurde von dem selben japanischen Sounddesigner eingerichtet und eingemessen. (Pause) Die fand ich besser. (lächelt)

Täuscht mich der Eindruck oder sind die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN ähnlich wie die Kollegen von KRAFTWERK inzwischen weitgehend im Museum angekommen? So schäbige Rockclubs spielt Ihr ja kaum noch …

Naja, die Philharmonien stellen noch nicht den größten Teil unseres Tourneekalenders. Es ist aber immer schön und uns vergönnt, etwa in Rom im „Parco della Musica“ oder im „Koncerthuset“ in Kopenhagen zu spielen, das ist wunderbar. Da sind die Voraussetzungen für uns einfach gut. Gerade bei der „Lament“-Tour war es von Vorteil, in bestuhlte Hallen zu spielen statt Open Air. Obwohl: Ein Festival war tatsächlich dabei, Umsonst&Draußen in Belgien. Raten Sie mal, wer da unsere Vorgruppe war?

Verraten Sie es uns!

DONOVAN. (lacht)

Schön!

Finde ich auch. Der hat alle seine Hits gespielt und danach kamen die NEUBAUTEN mit ihrem Erster-Weltkrieg-Programm.

An so einem Abend hat man dann wenigstens nicht zweimal das Gleiche gesehen …

Ja, da war für alle Altersstufen etwas dabei.

Darf ich noch ein paar Fanboy-Fragen loswerden?

Nur zu.

Besteht die Chance, dass Ihr nochmal irgendwann irgendwelche ganz frühen NEUBAUTEN-Sachen live spielt?

Naja, zu unserem 30-jährigen Bandjubiläum hatten wir eine Tour, wo wir immer an zwei aufeinanderfolgenden Tagen an einem Ort gespielt haben: Einen Abend unser ganz normales Programm und am anderen Abend dann spezielle Sachen, die wir nur für diese Tour eingeübt haben. Da war alles dabei, auch Uralt-Stücke wie „Seele brennt“. Aber die Band, die jetzt EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN ist – Version 3.0 -, die operiert ja länger als irgendeine Version davor. Wir sind jetzt mehr als 20 Jahre in dieser Besetzung unterwegs. Die Sachen, die ich mit 1.0 und 2.0 gemacht habe, entsprechen ja gar nicht mehr dem Realismus der Personen, die da heute auf der Bühne anwesend sind. Es gibt Lieder, die spielen wir noch aus dem Repertoire von 2.0, aber es werden immer weniger. Man muss dazu sagen: Viele Dinge, die die NEUBAUTEN über die Jahrzehnte aufgenommen haben, lassen sich gar nicht mehr reproduzieren, weil sie so verhaftet waren mit bestimmten Instrumenten, und wenn diese Gegenstände nicht mehr da sind, dann sind die betreffenden Lieder auch gar nicht mehr spielbar. Ein Stück wie „Draußen ist feindlich“ von unserem Debütalbum „Kollaps“ etwa, das mir jetzt gerade ständig wieder durch den Kopf geht … mit den Textzeilen „Schließ Dich ein mit mir, hier sind wir sicher. Ich liebe Dich, vergiss es!“ übrigens ein ganz wunderbares Quarantänestück …

… zweifelsohne!

… diese Nummer können wir nicht mehr bringen, weil der Deckel, auf dessen drei Ecken diese drei Töne gespielt wurden, nicht mehr existiert. Das müssten wir sampeln und dann auf Knopfdruck vom Keyboard abrufen, was aber ein bisschen uninteressant ist …

Stimmt.

Aber selbst die alten NEUBAUTEN konnten ein Stück wie „Feurio“ live nie so spielen, wie es auf dem Album war. Das ist jetzt ganz anders. „Lament“ wurde nicht als Platte konzipiert, sondern als Live-Ereignis. Und auch die neue Scheibe wurde unter den Gesichtspunkten geschrieben und komponiert „können wir das live?“. Und wir können das ganze Album live spielen. Vielleicht erklärt das auch, warum sowohl „Lament“ als auch „Alles in Allem“ viel mehr Raum haben. Früher hatte ich immer das Gefühl „Hier muss noch was hin“ und „Dort muss noch was gemacht werden“. Jetzt ist da ganz einfach mehr Raum. Wir geben den Dingen mehr Raum.

Eines meiner ewigen Lieblingsstücke der NEUBAUTEN ist „Merle (Die Elektrik)“. Aber was ist das für eine Stimme, die da erzählt, dass Merle eine rothaarige Schwester hatte und dass die auch nicht länger durchhalten wird. Das war ein Polizei-Tonband, oder?

Das ist richtig. Aber dieses Tonband war gar nicht der Ausgangspunkt von dem Stück. Als wir 1983 an „Die Zeichnungen des Patienten O.T.“ gearbeitet haben, war der Arbeitstitel „Jäger & Sammler“. Das war eine Entwicklung aus dem Album vorher – „Kollaps“ – wo wir dieses Schlagzeug hatten, das auseinander bricht in seine Einzelteile, sich in ganz viel Metall verwandelt. Der nächste Schritt von dort war für uns der Ansatz: Wir spielen nicht nur auf Metall, wir erforschen jetzt alles! Alle Materialien, die uns zugänglich sind. Wir sammeln, was wir finden können, auch Audioaufnahmen. „Merle“ fängt an mit einem großen Blech, das an mehreren Stellen mit Kontaktmikrofonen versehen wurde und auf dem alles mögliche gemacht wird – herumgekratzt, draufgehauen. Dazu kamen kleine Elektrogeräte wie ein Gravurstift. Das ist der instrumentale Hintergrund. Auf Tour fiel uns dann eine Tageszeitung in die Hand, in der eine Telefonnummer angegeben war, die man anrufen und die Stimme eines Kindesentführers identifizieren sollte. Das war dann dieses „Kennen Sie eine Merle? Sie wird auch nicht länger durchhalten!“ Es stellte sich später aber heraus, dass das ein Trittbrettfahrer war. Relativ disperate Sachen, die hier zusammengefasst wurden. Aber für uns war das Forschung.

Jetzt hab’ ich ja einen soliden Rock-Hintergrund …

Ich auch!

… durch den ich seinerzeit auf die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN aufmerksam geworden bin. Weil ich mich wunderte, welch komisches Männchen dieser HENRY ROLLINS da tätowiert hatte. Dasselbe Männchen tauchte bei Al Jourgensen von MINISTRY auf und bei dem Typen von MAYHEM. Oder auf T-Shirts, die Max Cavalera von SEPULTURA trug …

Stimmt, SEPULTURA. Die habe ich aber nie getroffen. Wir waren aber auch nur einmal in Brasilien auf Tour. HENRY ROLLINS kenne ich, der hat uns mal live gesehen. Das war ein Auftritt in „Max’s Kansas City“ in Los Angeles, bei dem sich Mufti (FM Einheit) schwer verletzt hat und genäht werden musste. Als ROLLINS nach der Show zu uns in Hotel kam, saßen wir da, tranken Wodka und waren schwer bandagiert. Das muss ihn schwer beeindruckt haben. War voller Körpereinsatz damals … (lacht) Aber was die ganzen Metalbands angeht, da kenne ich mich nicht aus. Der solide Rockhintergrund, das sind in meinem Fall die BEATLES, die ROLLING STONES, THE DOORS und THE VELVET UNDERGROUND. Was Metal angeht, müssen Sie Alex (Alexander Hacke) fragen, der kennt sich da aus. Ich nicht. Ich bin so weit weg von dem ganzen Kram … (überlegt) Ich kenne BILLIE EILISH, weil meine Tochter die hört. Finde ich gut. Aber wenn Sie jetzt sagen KAYNE WEST, dann habe ich den Namen schon mal gehört, aber mehr kann ich zu ihm nicht sagen.

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Nochmal zu Berlin: Die NEUBAUTEN haben sich ja immer mal wieder mit der Architektur und der Stadtgeschichte ihrer Heimatstadt beschäftigt, sei es in dem Filmprojekt „Berlin Babylon“ (2001) oder bei dem Konzert, das die Band 2006 im Palast der Republik gespielt hat, bevor dieser abgerissen wurde.

Im Palast der Republik haben wir gespielt, weil es uns im Rahmen der Phase III angeboten wurde. Da muss ich ein wenig ausholen. Wir haben ja in diesen verschiedenen Konstellationen unseres Supportermodells aka Crowdfunding immer versucht, Fehler aus der Phase vorher auszumerzen. In diesem Fall hatten wir uns überlegt, ans Ende der Phase III ein großes exklusives Supporterereignis zu stellen. Und da kam Matthias Lilienthal vom Theatercombinat Hebbel am Ufer auf uns zu. Der durfte damals eine Woche lang den Palast der Republik bespielen und bot uns an, dass wir dort etwas machen können. Für uns hat es sich angeboten, unser Supporterkonzert dort zu machen. Genau genommen sind wir zweimal im Palast der Republik aufgetreten, an zwei aufeinanderfolgenden Tagen: Einmal ohne Bühne und ohne Security nur für die Supporter und ein zweites Mal mit einem offiziellen Konzert auf einer Bühne mit Licht, Eintritt, Sicherheitsleuten undsoweiter. Der erste Abend war natürlich ein komplett außergewöhnliches Konzert mit einem ganz anderen Programm und ganz anderen Stücken. Wir haben auch das Gebäude selbst bespielt, haben Pfeiler und Geländer mikrofoniert und mit dem Gebäude selbst gespielt. Die ganze Aktion war eine brillante Lektion in der Kraft sich selbst organisierender Menschenmengen. In den Tagen zuvor hatten wir mit den Supportern einen Chor einstudiert. Die sind früh um 5 Uhr aufgestanden, um mit Andrew 50 Trommeltische irgendwo in Berlin-Dahlem abzuholen, jemand anderes kommt und sagt, er macht die Teeküche undsoweiter. Dieser Tag war ein wunderbares Beispiel an anarchistischer Selbstorganisation und eines meiner Lieblingskonzerte in der gesamten NEUBAUTEN-Geschichte. Dem folgte am Tag danach wie gesagt ein weiteres Konzert im Palast der Republik, das wir dann auch als DVD veröffentlicht haben …

Haben Sie „Berlin Babylon“ gesehen – die Serie?

Sie meinen „Babylon Berlin“ …

Äh … ja. Sorry, da hatte ich einen Dreher drin.

Weil „Berlin Babylon“ gab es ja schon – mit Musik der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN. Deshalb durfte sich die Serie auch nicht so nennen.

Witzig: Den Film „Berlin Babylon“ (2001) habe ich gestern als Vorbereitung auf dieses Gespräch noch einmal geguckt und war überrascht: Der ist richtig gut gealtert.

Finde ich auch. Es gibt ja nicht viele Filme, die man ausdrücklich als Architekturfilme bezeichnen kann, aber das ist einer. Zu ihrer Frage: Ja, ich habe in Australien ein paar Folgen von „Babylon Berlin“ gesehen. Hmmm … sagen wir mal ganz unverdächtig: Wenn jetzt nicht Corona-Krise wäre, dann hätten wir uns 2020 auf ein Jahr einstellen können, in denen wir die ganze Zeit mit „Die goldenen Zwanziger“, Charleston und Kokain konfrontiert gewesen wären. Und darauf habe ich mich nicht gefreut.

Die „Roaring Twenties“ sind ja mythisch ähnlich überhöht wie die 80er Jahre in West-Berlin …

Die hatten wir in den Jahren zuvor, wo die ganzen 80er-Jahre-Westberlin-Bücher und -Filme rauskamen. „Tod den Hippies!! Es lebe der Punk“ mit Alexander Scheer als Blixa Bargeld zum Beispiel.

Wie ist es, wenn man sich selbst im Kino groß auf der Leinwand sieht?

Ich habe mich köstlich amüsiert. Ich hatte mich ja vorher mit Alexander Scheer getroffen, der hatte sich tatsächlich in persona auf die Rolle vorbereitet. Dem musste ich den berühmten Blixa-Quietscher zeigen, wie man so schreit (gibt eine Kostprobe). Ein großartiger Schauspieler. Den, der NICK CAVE gespielt hat, fand ich weit weniger beeindruckend als den, der mich gespielt hat. (lacht)

Als NICK CAVE zuletzt auf der Waldbühne in Berlin gespielt hat, sind wir im Vorfeld schwer davon ausgegangen, dass Sie sich zumindest mal kurz auf der Bühne blicken lassen werden …

Keine Ahnung, hab ich gar nicht mitgekriegt. Wahrscheinlich war ich an dem Tag ganz wo anders. Er sagt eigentlich schon Bescheid, wenn er in der Stadt ist, und ich bin auch immer eingeladen, vorbeizuschauen.

Wie war das bei seinem Film „20.000 Days on Earth“ (2014), wo Sie ja auch auftauchen?

Hab ich nicht gesehen. Ich gucke mir die Filme, in denen ich selber vorkomme, nie an.

Aha. Warum nicht?

Wees ick nich’ … Halt: Den Film von Sophie Kluge, in dem ich ihren Nachbarn spiele, den habe ich mir angeguckt. Ich war ja tatsächlich ihr Nachbar, denn sie wohnte gleich dort gegenüber (deutet zum Fenster hinaus). Wir kannten uns aber nur vom Über-die-Straße-Zuwinken. Genau diese Rolle hatte sie mir in ihren Film geschrieben, das war köstlich und amüsant. Diesen Film („Golden Twenties“, 2019) habe ich tatsächlich gesehen. Aber sonst gucke ich mir Filme mit mir nie an.

Krass.

Wieso?

Naja, die NICK-CAVE-Doku fand ich zum Beispiel wirklich großartig. Wie er selbst seine Biographie strickt und damit auch ein Stück weit sein eigenes Leben inszeniert, das hat schon was.

Wissen Sie, was lustig war? Ich sitze hinten bei ihm im Auto und er erzählt mir was von „20.000 Days on Earth“. Und ich sage: „Oh, witzig. Da gibt es einen NEUBAUTEN-Song, in dem setze ich mich hin und zähle nach, wie viele Tage ich denn schon lebe. Um dann festzustellen: Das hier ist gerade meine 12305 Nacht.“ Daraufhin drehte sich NICK zum Produzenten um und rief: „Wir müssen den Filmtitel ändern!“ (lacht)

A propos NICK CAVE & THE BAD SEEDS: Sie haben auf dem neuen NEUBAUTEN-Album nach langer Zeit mal wieder Gitarre gespielt …

Ja. Ich hab mir sogar eine gekauft, weil ich zu faul war, die anderen wieder in Schuss zu bringen. Die Gitarren, die ich bei NICK CAVE gespielt habe, die alte 67er-Fender etwa, die stecken immer noch in denselben Koffern, in die ich sie verpackt habe, als ich die BAD SEEDS verlassen habe.

Und: Ist Gitarrespielen wie Fahrradfahren – man verlernt es nicht?

Naja, sagen wir mal so: Ich habe es nie gelernt. Ich bin ja der bekannteste Nicht-Gitarrist, der Gitarre spielt. Mein Ideal des Gitarrespielens ist es, eine Gitarre anzuschließen und dann mit Missachtung zu strafen.

Ein ganz hervorragender Ansatz.

Ja. Die New York Times hat mal geschrieben, ich spiele Gitarre, als würde ich auf den Bus warten – also von der Bühnenpräsenz her. Das ist auch ungefähr das, was ich will. Umgekehrt ist vor ein paar Jahren eine Graphic Novel über NICK CAVE erschienen, in der sieht man mich immer nur breitbeinig dastehen, wie Gitarrengötter das eben so machen sollen – also genau so, wie ich auf der Bühne nie Gitarre gespielt habe, diese ganze Form, wie ich sie verachte.

Stimmt es, dass die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN für einen speziellen Klang oder für ein spezielles Geräusch schon mal mit ihrem Equipment um die halbe Welt reisen, um dieses einzufangen und aufzunehmen?

In den 80er Jahren mag das zugetroffen haben, bei Konzepten wie „Jäger & Sammler“ – wir sprachen vorhin darüber. Da hatte ich immer einen Walkman-Recorder dabei. Wenn ich heute mal etwas aufnehmen will, dann habe ich mein iPhone. Die alten Kassetten von damals gibt es aber alle noch. Das NEUBAUTEN-Kassettenarchiv – 500 bis 600 Kassetten, alle sauber beschriftet und durchnummeriert – ist komplett digitalisiert und wurde zum Teil den Supportern zugänglich gemacht. Alles, was irgendwann mal aufgenommen wurde, ist immer noch da. Es gibt ja keine Notwendigkeit, das zu löschen.

Ist aber schon auch ein Aufwand, das alles zu digitalisieren und beschriften.

Die Kassetten sind beschriftet und nummeriert gewesen. Die wurden dann eingeschickt und digitalisiert. Da gab es viele Sachen, die ich beim Hören nicht mehr identifizieren konnte, wann, wo und wie sie entstanden sind. Aber vieles lässt sich auch noch rekonstruieren. Seltsam ist, dass in letzter Zeit immer mehr Nachfragen kommen, was unser Archiv betrifft. Zum Beispiel der letztjährige Berlinale-Gewinner, ein rumänischer Film namens „Touch Me Not“: Die Regisseurin und die Produzentin haben mich vorher kontaktiert, um mir ihren noch nicht fertigen Film zu zeigen. Da kommt dann an einer Stelle plötzlich eine Musik, und ich denke mir „Das kennst du doch …“: Das war eine Aufnahme, die es nur auf Kassette gab oder vielleicht als Bootleg, die ich und Andrew (N. U. Unruh) 1980 im Inneren einer Autobahnbrückenauffahrt aufgenommen haben. Dieses Stück hatte sie sich ausgesucht und wollte es in ihrem Film haben. Das, was da in dem Film zu hören war, war die vierte oder fünfte Generation vom Original entfernt … und das Original musste ich natürlich erst einmal in diesem Kassettenarchiv finden und digitalisieren, damit die das in ihrem Film verwenden können. Das Erstaunliche war, dass wenig später die nächste Anfrage kam, ebenfalls für ein Stück aus dieser Autobahnbrücke – diesmal von einem New Yorker Filmemacher. Ich wundere mich, woher diese Menschen plötzlich diese Stahlmusik von 1980 kennen …

Sie scheinen sehr strukturiert zu arbeiten. Viele Künstler haben ihren Kram unsortiert in irgendwelchen Kisten im Keller oder auf dem Dachboden – wenn überhaupt etwas die Jahre und Jahrzehnte überlebt hat …

Es gibt ein NEUBAUTEN-Archiv, für das sich in Deutschland aber noch nie irgendjemand interessiert hat. Das wird wahrscheinlich nach Stanford gehen. Ein Germanist und Kommunikationswissenschaftler von der Stanford University hat dafür Interesse angemeldet …

NEUBAUTEN-Archiv heißt: Die digitalisierten Kassettenaufnahmen, Ihre Texte und Aufzeichnungen …

Ich habe Berge an Aufzeichnungen. Schauen Sie … (er greift hinter sich und holt ein gebundenes Buch hervor): Das hier ist Band 70 meiner Notizen – und die fangen erst 1993 an. Dann gibt es die ganzen Kassetten, die ganzen Videokassetten, die Aufnahmebänder aus dem Studio, die ganzen Webcasts, seit wir Crowdfunding erfunden haben … Letzteres ist natürlich der Grund, warum Stanford das haben will: Wegen dieser Crowdfunding-Erfindung.

Und: Kriegen sie es?

Bis jetzt ja. Sonst hat ja niemand anderes Interesse angemeldet.

Ich habe den Eindruck, dass die EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN noch immer sehr analog arbeiten – analog im Sinne von Stift und Papier …

Wir arbeiten auf eine recht altmodische Weise, das ist richtig. Wir gehen in ein Tonstudio mit einem Toningenieur und sind dort meistens zusammen in einem Raum, wo wir unsere Musik gemeinsam einspielen. Dann hören wir uns das an und machen Take 2, Take 3 undsoweiter. Das sind alles Techniken, die ökonomisch nicht mehr rechtfertigbar sind und die aufgrund der Produktionsweise direkt wieder eine Rückwirkung haben auf das, was überhaupt an Musik produziert wird. Das, was sich für eine Plattenfirma heute rechnet, ist ein Duo, das zu Hause mit einem Laptop alles fertig macht. Sowas rechnet sich, das kann man erklären. Alles, was in Richtung einer Band geht, fängt automatisch an, ökonomisch eine ganz andere Kategorie zu werden. Deswegen haben wir ja auch diese Flut von elektronischer Musik. Sie haben vorhin Heavy Metal angesprochen, da ist Band noch das normale Format. Ansonsten ist es zunehmend schwierig, das in der Musikindustrie durchzusetzen, weil es sich nicht wirklich rechnet. Wir wissen inzwischen alle: Das einzige, was du machen kannst, ist touren. Live spielen und Merchandise verkaufen ist das einzige, was bleibt. Die Platte ist nur noch Beiwerk. Deshalb sind Plattenfirmen ja auch schon lange umgestiegen auf das Konzept „Wir verkaufen den ganzen Künstler“: Die wollen einen Teil vom Merchandise und einen Teil der Toureinnahmen haben. Dafür machen sie die Promo für die Platte. Zumindest in der Größenordnung MADONNA läuft das längst so.

Und Ihr habt Euch mit den NEUBAUTEN so weit es geht aus diesem ganzen Zirkus rausgenommen.

Im Prinzip ja.

Die Promoterin etwa, die dieses Interview angeleiert hat, bezahlt Ihr selbst?

Die haben wir engagiert, das wird alles aus unseren Patreon-Einnahmen bezahlt. Eine große Neuerung für uns ist: Bislang haben wir uns den ganzen Streaming-Diensten verweigert. Weil das Geschäftsmodell für die Künstler beschissen ist. Das Geld, das man aus diesen Streamingdiensten bekommt, ist viel zu wenig. Aber die machen inzwischen einen so hohen Prozentsatz im gesamten Musikkonsum aus, dass wir nicht länger maschinenstürmerisch unterwegs sein und uns dem verweigern konnten. Unsere ganzen letzten Platten haben wir alle mit Download-Code veröffentlicht. Kürzlich habe ich darüber mit jemandem von einer Plattenfirma gesprochen, und der hat mir erzählt, dass die das mal überprüft haben: Kaum einer dieser Download-Codes wird benutzt. Das heißt, wir bezahlen für die Bereitstellung dieser Downloads, die aber niemand nutzt. Das Modell für die meisten unserer Musikkonsumenten ist: Ich kaufe mir das Vinylalbum, ansonsten habe ich ja Spotify – fürs Joggen oder im Auto. Da lädt keiner mehr irgendwelche Mp3s runter.

Streamen Sie?

Ich höre ziemlich viel Radio übers Netz – vor allem BBC 3, die Sendung „Late Junction“. Ein genreübergreifendes Programm, in dem ich dann tatsächlich auch noch überrascht werden kann von irgendetwas Musikalischem. Hier … (er kramt nach einer Notiz) … gestern dort entdeckt: eine Künstlerin namens DERADOORIAN. Schon mal gehört?

Noch nie.

Beeindruckend! Ein Drumming wie Jaki Liebezeit, der CAN-Schlagzeuger. Toll!

Ist es Ihnen wichtig, dass die aktuellen NEUBAUTEN-Platten auf Vinyl erscheinen?

Mir nicht, aber vielen anderen Menschen. Aber auch für mich ist es schön, sie als Schallplatte zu haben. Nur verbringe ich nicht viel Zeit damit, mir meine eigenen Platten anzuhören.

Letzte Frage: Wird bei den Bargelds zu Hause gerade viel gekocht?

Jeden Tag. Ich habe einen Quarantäne-Videoblog für die Unterstützer. In meiner Bibliothek steht inzwischen eine PA mit Mixer, Mikrofon und diversen Loop-Maschinen, damit kann ich alle möglichen Sachen machen. Einmal in der Woche gibt es außerdem die Sonder-Edition „Cooking With Blixa“. Heute gebe ich wieder bekannt, was wir am Freitag machen werden, und dann ist Synchronkochen angesagt. Die Unterstützer loggen sich ein, haben die gleichen Zutaten vor sich, und dann koche ich mit denen zusammen. Wir essen auch gemeinsam – also nicht wie in einer Kochshow, von wegen „Ich hab da mal was vorbereitet“, sondern tatsächlich alles in Echtzeit. Das alles landet dann auf InstagramTV, inklusive der Playlist, was da für Musik im Hintergrund läuft.

Ist das dann so Artsy-fartsy-Kram, den Sie zubereiten?

Nein, gar nicht. Zeiten wie diese verlangen nach einfachen Gerichten – aber immer mit einem ungewöhnlichen Dreh. Eine Brokkolisuppe zum Beispiel, aber dann als „Seared Broccoli Soup“ nach dem Rezept von Melissa Clark von der New York Times. Die unterscheidet sich dadurch, dass man den Brokkoli erst einmal konsequent anbrennen lässt. Wenn man den dann rausnimmt, ist er auf der einen Seite grün und auf der anderen Seite braun. Dann macht man alles fertig und hat am Ende eine Brokkolisuppe, die schmeckt, wie man noch nie zuvor eine Brokkolisuppe gegessen hat. So’ne Rezepte mach ick. Oder das römische Stadtrezept „Spaghetti Cacio e Pepe“: Spaghetti mit Pecorinokäse und schwarzem Pfeffer. Hier ist der Trick, dass man aus dem Pfeffer einen Sud machen muss: Grob zermalen, mit dem Nudelwasser ein wenig aufgießen und so lange kochen, bis man eine Flüssigkeit hat, die wie Kaffee aussieht. Dann erst wird das mit den Nudeln und dem Käse vermischt. Drei Zutaten – fertig!

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