DISILLUSION – Listeningsession zu ´Back To The Times Of Splendor´ – Januar 2004, Fellbach, Mastersound

Wir hatten die Gelegenheit, uns einen ersten Eindruck vom neuen DISILLUSION Album im Mastersound Studio in Fellbach zu machen, wo die Jungs zusammen mit Alex Krull nach acht Monaten intensiver Arbeit das Mastering erledigten. Hier ist unser Bericht samt einem kleinem Interview…

„Progressiv“ beziehungsweise das englische „progressive“ scheint in Kombination mit dem Begriff Metal einen höchst interessanten Bedeutungswandel durchgemacht zu haben. Wie sonst ist es zu erklären, dass mit der Definition Progressive Metal meist hoch komplizierte Songs umschrieben werden. Progressiv, das heißt, sich entwickelnd, fortschreitend, ist meiner Meinung in den meisten solcher Fälle allerdings lediglich die Fähigkeit, ein Instrument zu spielen – und die Zerrüttung der Hörnerven. Songdienlichkeit tritt hinter bloße Demonstration des eigenen Könnens zurück. Eine Band, die im Wortsinne progressiv ist, sollte also Songs schreiben, die eben den einen entscheidenden Schritt weitergehen. Aber genug gemeckert und verallgemeinert, es wird Zeit für Argumente.

DISILLUSION aus Leipzig machten bereits mit ihrer Eigenproduktion Three Neuron Kings und der folgenden Single The Porter nachdrücklich auf sich aufmerksam. DISILLUSION schreiben Songs, die so weit entwickelt und so fortschrittlich sind, dass sie sich den gängigen Kategorisierungen entziehen. Wenn man also so will, sind DISILLUSION eine ausgesprochen progressive Band. Die Konzentration auf das progressive Element kann jedoch schnell zu einer gewissen Kopflastigkeit der Musik führen – nicht so bei DISILLUSION. Das neue Album „Back To The Times Of Splendor“, das am 5. April veröffentlicht wird, überzeugt durch Einfallsreichtum, durch Abwechslung, durch den Mut, ausgetrampelte Pfade zu verlassen und durch tiefe Leidenschaft.

DISILLUSIONDer Versuch, die Songs nach einem einzigen Hördurchgang zu erfassen, ist zum Scheitern verurteilt. Hier und da blitzen zwar immer wieder Anklänge an Bands wie OPETH, AMORPHIS, KATATONIA, SOILWORK, EMPEROR und andere auf – doch DISILLUSION sind durch und durch eigenständig.

Am 7. Januar hatten wir die Gelegenheit, uns einen ersten Eindruck vom neuen Album im Mastersound Studio in Fellbach zu machen, wo die Jungs zusammen mit Alex Krull nach acht Monaten intensiver Arbeit das Mastering erledigten. Die Songs im einzelnen:

„And The Mirror Cracked“

Willkommen in der Welt von DISILLUSION! Aufwändige Gitarrenarrangements, fast schon orientalisch anmutenden Melodien, sägende Riffs – das ist keinem herkömmlichen Genre zuzuordnen. Ein melodiösen Mittelpart wird abgelöst von vorwärts treibendem Riffing, klarer Gesang wechselt mit wütendem Schreien, ein unverzerrter Part, der an AMORPHIS erinnert, ein perlendes Piano – der erste Schritt in eine Welt voller Überraschungen und Wendungen führt gleich ganz tief in eine Zauberwelt, in der man nur mit großen, staunenden Kinderaugen um sich blicken kann.

„Fall“

Der zweite Song erscheint etwas eingängiger und leichter zu fassen als der Opener. Der klare Gesang trägt den Song in die Höhe, doch das ätherische Schweben wird von den Gitarren bald ausgebremst, schließlich schwingt sich der eingängig-schöne Refrain mit unterstützendem Frauengesang dann doch wieder empor. Auffallend ist, wie bei allen Stücken, dass die Arrangements bis ins Detail ausgearbeitet sind. Alle Einzelkomponenten der Songs sind gleichberechtigt, mal steht der Gesang im Vordergrund, mal die Gitarre, mal das Schlagzeug mal der Bass.

„Alone I Stand In Fires“

Mit diesem Stück erinnern DISILLUSION am ehesten an ihre eigenen Frühwerke, der Song ist aggressiv und dunkel – und dennoch hat er durch Drumloops einen ausgesprochen modernen Touch. Doch eindimensionale Songs gibt es auf diesem Album nicht. Streicher und Gitarrenfipser stacheln sich gegenseitig an, das Chaos wird schnell durch einen melodischen Part aufgelöst – um wiederum in Düsternis zu versinken. Ein sehr zerrissener Song, in dem helle Momente ins Dunkel und wieder zurück schwingen.

„Back To Times Of Splendor“

Der fast fünfzehnminütige Titeltrack ist von der ersten bis zur letzten Sekunde fesselnd. Ein atemberaubendes Streicher-Intro, das im Verlauf des Songs noch mal aufgegriffen wird, lässt die Sterne vom Himmel fallen – so ergreifend ist diese kleine Melodie. „Back To Times Of Splendor“ ist ein Song, in den man eintauchen muss, um überhaupt nur ansatzweise zu verstehen, was alles passiert. Trotz aller Variationen und Wendungen findet man recht schnell einen ersten Zugang, die Balance zwischen Eingängigkeit und Komplexität ist und bleibt über die gesamte Dauer stabil, auch wenn sich der Song zum Ende hin ins Chaos steigert. Doch DISILLUSION wären nicht DISILLUSION, wenn nicht auch hier eine eben erst erzeugte Stimmung wieder ins Gegenteil umschlagen würde.

„A Day By The Lake“

Mächtige Gitarrenriffs gehen ganz selbstverständlich in ruhige Musik über. Es ist wahrhaft meisterlich, wie DISILLUSION mit dem Hörer spielen. Unvereinbares steht in diesen Songs plötzlich nicht nur nebeneinander, sondern bilden ein faszinierendes, schillerndes Ganzes – das in tausend Facetten leuchtet. Der ruhigste und „einfachste“ Song des Album, der einen schönen Kontrast und einen überraschenden Schluss bietet.

„The Sleep Of Restless Hours“

Mit über 17 Minuten ist dieser Song ein weiterer Beweis dafür, dass „Back To The Times Of Splendor“ ein ganz, ganz großes Album ist. Es wäre bemerkenswert, wenn DISILLUSION Fünf- bis Zehnminüter in dieser Qualität schreiben würden. Aber sie können mehr: Den Hörer länger als eine Viertelstunde mit einem Song fesseln. Das ist Musik, die ganze Räume erfüllen und verwandeln kann. Ein fast schon jazziges Zwischenspiel lädt ein zum Träumen, doch wie schnell vorüber ziehende Wolken eine strahlende Sonne verdecken können, passiert auch hier wieder das Unvorhergesehene. Harsche Riffs, zerbrechliche Parts, Kontrastreichtum allerorten – es dauert wohl eine ganze Weile, bis man alle Details dieses Songs erfassen können wird.

DISILLUSION

Dieses Album bietet unendlich viel. Verträumte, ruhige Momente, Ausbrüche rasender Wut, wunderbare Melodien, treibende Riffs, facettenreichsten Gesang. Aber „Back To Times Of Splendor“ ist kein einfaches Album. Die Welt von DISILLUSION ist zauberhaft und unheimlich, wunderschön und bedrohlich, brutal und zerbrechlich, eiskalt und wohlig-warm. Man kann sich in ihr vollkommen verlieren – man muss nur den ersten Schritt wagen. Dieser Schritt ist ganz einfach zu machen, denn die Band streckt beide Hände nach dem Zuhörer aus und nimmt ihn mit.

Gitarrist Rajk Barthel nahm sich im Anschluss an die Listeingsession Zeit, unsere erste Fragen zu „Back To The Times Of Splendor“ zu beantworten. Wer also wissen will, warum es acht Monate dauerte, bis dieses Album fertig war und wie DISILLUSION selbst ihre Musik sehen, sollte hier weiter lesen.

Ihr sprecht immer davon, Songs zu „bauen“. Das klingt für mich nach harter, aber auch leidenschaftsloser Arbeit – und steht deshalb in einem ganz krassen Kontrast zum Ergebnis, zu eurer Musik.

Es ist sehr harte Arbeit, doch diese Arbeit ist alles andere als leidenschaftslos. Ich würde auch nicht von konstruierten Songs reden – auch wenn wir sehr lange an unseren Songs herumbasteln. Wir haben dabei aber immer eine Maßgabe: Die Songs sollen so organisch und fließend wie möglich sein – das ist das Ziel unserer Arbeit an den Songs. Am besten ist es natürlich, wenn man dieses Gefühl mit dem ersten Take einfängt. Die Idealvorstellung ist, dass wir ins Studio gehen und ein Album einfach einspielen, wie es kommt. Wir wollen mit dem nächsten Album auch einen Schritt in diese Richtung machen. „Back To The Times Of Splendor“ ist komplett im Studio entstanden. Wir hatten zwar im Proberaum schon Songs fertig – und wir dachten, wir hätten einen Plan, nach dem wir arbeiten können. Der Plan erschien uns zunächst gut genug. Wir dachten, dass es vielleicht zwei Monate dauern wird, bis das Album fertig sein wird. Und dann kam alles ganz anders.

Das heißt, ihr hattet eigentlich schon fertige Songs, als ihr ins Studio seid?

Wir dachten, wir hätten fertige Songs. Es gab vielleicht fünf Prozent, bei denen wir sagten: ´OK – daran müssen wir im Studio noch was machen.´ Jeder von uns hatte außerdem die Hoffnung, dass sich – wie bei unseren vorherigen Alben – auch einiges im Studio ergeben wird. Dass die Songs größtenteils jedoch komplett umstrukturiert werden müssen, hätte allerdings keiner von uns gedacht. Wir wollten einfach, dass das Album einen Fluss hat – wenn irgendwo eine Ecke war, haben wir die nicht glatt gefeilt, aber versucht, alles miteinander zu verzahnen.

Waren die Songs denn von Beginn an als sehr, sehr lange konzipiert oder hat sich das einfach entwickelt?

Es gibt verschiedene Phasen, in denen die Songs entstanden sind. Wir wussten anfangs nicht, dass zum Beispiel der Titeltrack „Back To The Times Of Splendor“ so lang werden wird. Ursprünglich sollte der Song sieben Minuten lang werden, jetzt sind es 17. Es ist viel spontan im Studio entstanden, wie zum Beispiel das Schlagzeugintro. Ich war anfänglich skeptisch, weil ich noch kein Bild zu dem Song im Kopf hatte – Vurtox hatte das Bild schon im Kopf und er hatte auch recht mit seiner Vision. Ich habe damals einfach noch nicht gesehen, wie wir die einzelnen Teile zusammenführen könnten. Jetzt kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, den Song kürzer zu halten. Auf der anderen Seite hätten wir die kürzeren Stücke auch länger gemacht, wenn es erforderlich gewesen wäre. Wir wollten allerdings ganz bewusst einige Ruhepunkte in das Album einbauen. Ob das geklappt hat, weiß ich nicht genau, denn selbst bei diesen Stücken kam immer mehr dazu – aber ich denke, „A Day By The Lake“ ist ein solcher Ruhepunkt.

Ihr habt euch für acht Monate im Studio verkrochen. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wieder anders zu arbeiten? Du hast vorhin gesagt, ihr wollt einen Schritt in eine andere Arbeitsweise machen.

Nun, es ist schwierig für mich. Ich kann mir das wohl erst vorstellen, wenn ich fertige Songs habe. Die gesamte Entstehungszeit war wichtig für die Songs von „Back To The Times Of Splendor“. Ich denke, man kann die acht Monate auch hören. Wir haben im Frühjahr angefangen, im Winter aufgehört. Die Jahreszeiten haben durchaus ihre Spuren hinterlassen. Im Sommer als es so heiß war, haben wir nachts gearbeitet – da ist man ganz anders drauf. Man ist fertig, weil sich der ganze Tagesrhythmus umstellt, gleichzeitig erlebt man erhebende Momente wie Sonnenaufgänge.

DISILLUSION

Gibt es eigentlich bestimmte Bands, die für euch noch Vorbildfunktion haben?

Bei Three Neuron Kings und The Porter gab es schon noch Bands, die uns wichtig waren. Wir haben da ja immer SOILWORK, OPETH und ANATHEMA aufgezählt. Diese Bands sind noch immer wichtig – aber sie haben nicht denselben Stellenwert wie früher. Die letzte Scheibe, die mich im Metalgenre so richtig berührt hat, war EMPERORs Prometheus, aber die ist ja auch schon eine ganze Weile draußen. Wir haben während der acht Monate, die wir an dem Album gearbeitet haben, auch kaum Musik gehört – dafür waren einfach keine Kapazitäten mehr frei.

Interessanterweise waren Filme viel wichtiger, wie sich hinterher im Gespräch mit Vurtox rausgestellt hat. Er hat sehr viele Filme angesehen, um nach der Arbeit an dem Album runterzukommen. Der Gedanke, Musik zu schaffen, die filmische Elemente hat, die fesselnd ist, die spannend ist wie ein Film und eine Geschichte erzählt – das ist ein bisschen die Idee hinter der Platte. Ich glaube, ab dem dritten Song „Alone I Stand In Fire“ bis zum Ende kann man auf dem Album eine Geschichte finden. Dieses „Kopfkino“ war uns sehr wichtig.

Und wie geht es jetzt in den nächsten Monaten bei DISILLUSION weiter?

Nun, wir werden uns erstmal um uns kümmern. Wir haben nie gedacht, dass es so lange dauert, bis das Album fertig ist und wir so lange nicht arbeiten können. Wir sind wirklich ausgebrannt und vollkommen pleite. Ab morgen suche ich einen Job. Vurtox wird das neue Album der DARK SUNS aufnehmen. Wir werden erstmal weg von der Platte gehen, eine kleine Pause wird uns gut tun. Wir werden natürlich auch die Release-Show vorbereiten, die am 17. April in der Leipziger Moritzbastei stattfinden wird. Wir haben zwei Vorbands, dann wird es noch einen Film geben – wir werden auch versuchen, ein paar der Gastmusiker auf die Bühne zu bekommen. Es soll auf jeden Fall eine besondere und spezielle Show werden. Wir haben über einen Jahr nicht live gespielt, ich bin jetzt auch wieder dran, ein paar Auftritte für uns zu suchen. Ich freu mich auf das SUMMER BREEZE für das wir bestätigt worden sind. Vielleicht können wir auch eine kleine Tour organisieren. Ich hoffe natürlich auch, dass Metalblade mit einem Tourangebot kommen. Wir werden sehen.

Interview: vampi & boxhamster

Total
0
Shares
WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner