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THE ALARM: Forwards

Seit Jahrzehnten kämpft THE ALARM-Frontmann Mike Peters gegen eine chronische Form von Leukämie, an deren Ausbruch er im September 2022 beinahe gestorben wäre. Und was macht er? Er nimmt zwischen all den Krankenhaus-Aufenthalten ein durch und durch optimistisches, lebenshungriges und Mut machendes Album auf. „Forwards“ bietet straighten, leidenschaftlichen Postpunk-Stadionrock mit kämpferischer Attitüde und starken Songs. Ein würdiges Spätwerk der 80s-Legende.

Wie optimistisch und lebensbejahend kann bitte ein Album klingen, das auf der Schwelle zwischen Leben und Tod entstanden ist? Wie viel positive Energie kann man aus einer Krankheit schöpfen, die einem bald das Leben nehmen könnte? Das sind Fragen, die sich beim Hören der neuen THE-ALARM-Platte stellen. Selten habe ich in den letzten Jahren ein Rockalbum gehört, das so viel Optimismus in hymnische Songs packt. Das befreit und hoffnungsfroh zugleich klingt. Und es ist ein Album, das aus der Dunkelheit geboren wurde, aufgenommen zwischen kargen Krankenhausfluren, Onkologie-Stationen und lebenserhaltenden Maschinen. Denn Bandkopf Mike Peters ist an Leukämie erkrankt.

Dass Peters an Leukämie leidet, ist keine neue Information. Seit 1996 trägt er eine chronische Form von Lymphdrüsenkrebs in sich. Er hat gemeinsam mit James Chippendale, Präsident des Labels CSI, eine Antikrebs-Stiftung gegründet: die Love Hope Strength Foundation. Für die BBC hat er eine Doku über seinen Kampf gegen den Krebs gedreht.

Doch im September 2022 brach die Krankheit erneut aus, kurz nachdem er sich von einer schweren Lungenentzündung erholt hatte. „Ich möchte, dass Ihr wisst, dass ich diese Krankheit noch einmal besiegen werde“, schrieb er vom Krankenhausbett aus an seine Fans. Und er berichtete, dass er sogar seine Gitarre mit auf Station dabei habe, „nur für den Fall, dass mich eine Inspiration überkommt“. Das neue Album hat er tatsächlich zum Teil auf dem Krankenhausbett sitzend geschrieben.

“Ich war an Orten, an die nur tiefes Leid den menschlichen Geist führen kann, und in der Dunkelheit klammerte ich mich an jedes Stück Licht, das ich finden konnte, um mich zurück ins Leben zu arbeiten. Das war die Energie, die mich antrieb, Forwards zu schreiben und aufzunehmen”, erzählt Peters zu seiner Motivation, dieses Album zu machen.

THE ALARM – eine Band von Überlebenden

„Forwards“ ist das mittlerweile 21. Studioalbum von THE ALARM. Es ist das persönlichste und hoffnungsfrohste ihrer Karriere. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil die Band eine Schicksalsgemeinschaft bildet:

Keyboarderin Jules Jones Peters, Mikes Ehefrau, erkrankte 2016 an Brustkrebs und musste mehrfach operiert werden. Auf der Bandseite zeigt sie Fotos von ihren Operationsnarben, den ausgefallenen Haaren, den Verbrennungen auf der Brust nach der Strahlentherapie. Und noch ein Patient gesellt sich hinzu: Bei Gitarrist James Stevenson wurde 2021 eine Form von Demenz diagnostiziert. Er ist ein langjähriger Szeneveteran, der schon mit so verschiedenen Acts wie GENE LOVES JEZEBEL, TRICKY und Songwriter-Legende SCOTT WALKER gearbeitet hat, oft als Session-Gitarrist. Ein musizierendes Lazarett, eine Band von Überlebenden.

THE ALARM galten vor allem in ihrer Hochphase in den 80er Jahren als politische Band. Sie besangen, oft in der Ich-Perspektive und autobiographisch gefärbt, die Perspektivlosigkeit der Jugend in der Ära Margaret Thatchers, den Arbeitskampf der Bergarbeiter und ihre Angst vor Arbeitslosigkeit, sangen über Straßengangs und Armut. All das verpackten sie in energiereichen und eingängigen Rock, zunächst rau und punkig auf ihrem Debüt „Declaration“ von 1984, später auf große Stadionbühnen schielend, dem Mainstream-Rock nicht abgeneigt (PS: Dass ihre Stadionrock-Phase Ende der 80er Jahre so manche musikalische Banalität bereithielt, gehört zur Wahrheit dazu). Auf der Habenseite kann die walisische Band sechs Millionen verkaufte Tonträger und 17 Singles in den britischen Charts verbuchen.

Das brachte ihnen Support-Tourneen mit U2 ein, einer Band, mit der sie persönlich befreundet sind – und mit der sie oft verglichen werden. Der Vergleich ist nicht ganz fair, denn wo U2 viel experimentierten und deutlicher auf das Radio schielten, bieten THE ALARM auf ihren besten Releases mehr Uptempo und Geradlinigkeit, die Punk-Wurzeln nicht verleugnend. Ein Kritiker von Allmusic schrieb einmal, sie würden jeden Song mit einer Leidenschaft einspielen, als ob es der Höhepunkt ihres Live-Sets wäre.

THE ALARM bieten auf “Forwards” Hoffnung zum Quadrat

Das Schöne ist: Diese Energie ist auch auf dem vorliegenden Werk hörbar. Zu verständlich wäre es gewesen, wenn Mike Peters, körperlich geschwächt und um sein Überleben kämpfend, diese Momente in traurige und schmerzvolle Balladen übersetzt oder zumindest bittere, zynische Rocknummern geschrieben hätte. Aber nichts dergleichen. Der Texter und Hauptsongwriter zeigt, wie man mit den Themen Tod und Krankheit noch umgehen kann. Auch wenn Melancholie mitschwingt, auch wenn er mal nachdenklich wird, überwiegt die optimistische Grundstimmung. Und auch wenn er gelegentlich Bilanz zieht, etwa in „Love and Forgiveness“ um Vergebung bittet und sich für die ihm entgegengebrachte Liebe bedankt, ist das Album doch in die Zukunft gerichtet. In seinen dunkelsten Momenten feiert Peters das Wunder des Lebens.

Schon der titelgebende Opener „Forwards“ ist ein Song, der in den 80er Jahren auf großen Festivalbühnen funktioniert hätte, mit hallenden, atmosphärischen U2-Gitarren, wirbelnden Drums und einer feierlichen Stimmung. Peters Stimme klingt jung und leidenschaftlich, seine 62 Jahre hört man ihm nicht an. Im Text zeichnet Peters seinen Lebensweg als Streifzug durch eine verlassene Industriestadt nach: In den menschenleeren Straßen, in den Häusern voller Fremder, in den Kirchen der Ungläubigen, in den Trümmern und in all seinen Habseligkeiten habe er einen Weg nach Hause gesucht. Und weiter, immer weiter geht er vorwärts, das Ziel bleibt es, einen Heimweg zu finden, dort wartet eine geliebte Person. Pathetisch? Ja, natürlich. Wir bewegen uns hier in Gefilden, in denen Bands wie U2, THE CULT oder PSYCHEDELIC FURS die ganz großen Gesten ausgepackt haben.

Der Fatalismus wird abgesagt

Ähnlich geht es mit „The Returning“ weiter. Ein marschierendes Schlagzeug, Peters fordernde Stimme: „Dream out loud if you want to stay alive/ May the spirits be your guide in the afterlife“. Träume es laut heraus: Man kann das Wortspiel schlecht ins Deutsche übertragen. Es ist ein Song für jene, die sich zurück ins Leben gekämpft haben, sei es nach einer schweren Krankheit oder Lebenskrise. „Die Liebe wird überleben, für die Rückkehr ins Leben“, singt Peters im Refrain fast unverschämt optimistisch. Da stört es nicht, dass die Songs überwiegend einfach gehalten sind, manchmal sehr schnell auf den hymnischen Chorus zusteuern. Schöne Melodien, ein kämpferischer Gestus, ein leidenschaftlicher Vortrag: Braucht es denn viel mehr? Die Gitarren von Stevenson singen mal melodisch mit viel Hall, den Wave-Rock der 80er zitierend, mal halbakustisch, dezent die Stimme begleitend. Doch nie sind sie egal. THE ALARM waren immer eine Band, in der die Gitarren eine wichtige Funktion hatten.

Dass mit dem treibenden „Another Way“ eine Absage an den Fatalismus folgt, passt gut ins Bild. „Hast Du die Nachricht erhalten, dass alles vorbei ist?/ Hast Du sie reden hören, dass es von hier aus keinen Ausweg gibt?“ Nicht mit Peters. „Das glaube ich nicht, es gibt immer einen anderen Weg. Ich bin bereit für das, was kommt!“, singt er leidenschaftlich mit rauer und fordernder Stimme. Die melodischen, manchmal an Americana erinnernden Gitarren und das verspielte Keyboard bilden einen angenehmen Teppich.

Das sehnsuchtsvolle „Love and Forgiveness“ ist dann eine schöne Nummer, die tatsächlich stark an die Hochphase von U2 gemahnt, als sie mit Songs wie „I Still Haven’t Found What I’m Looking For“ epische und getragene Lebenshymnen schrieben. Der Song lebt vom sorgfältigen Vortrag und dem hingebungsvollen Text. „Wie ein Soldat, der nichts mehr hat, wofür es zu kämpfen lohnt/ Wie ein Poet, der keine Reime mehr findet/ Wie ein Arzt, der nicht mehr heilen kann/ Bin ich ein Mann, der die Kontrolle über alles verlor, was er besitzt// Wirst du mir Liebe geben? Liebe und Vergebung?“, fleht Peters. „Sag, du wirst mein offenes Fenster sein/ Sag, du bist mir offene Tür!“ Fakt ist, dass U2 einen so schönen Song schon lange nicht mehr geschrieben haben.

THE ALARM können es auch noch punkig krachen lassen

Das erneut verdammt lebenshungrige „Next“ zeigt dann, dass es THE ALARM auch noch ordentlich krachen lassen können. Im flotten Tempo wird hier am ehesten an den kraftvollen Punk Rock der Frühphase angeknüpft. Im Video zum Song läuft und tänzelt Peters durch Krankenhausflure, „Ich fühle mich gut, wenn ich bei dir bin“, singt er im Refrain über hallenden Postpunk-Gitarren. „Alles, was mich töten will, lässt mich leben“, shoutet er trotzig, nun allerdings fragend: „Bist du bereit für das, was als Nächstes kommt?“ Zweifel gehören dazu. Ähnlich euphorisch geht es mit „Whatever“ weiter, obwohl auch hier die Aussagen ambivalent sind: Besungen wird die Situation, nächtens allein mit einer geliebten Person in einem geschlossenen Raum zu sein, ein flüchtiger und vergänglicher Moment. „Was immer dich durch die Nacht bringt, fühlt sich richtig an/ Was immer dich die Stunde überleben lässt, fühlt sich richtig an!“ Der Tod liebt mit.

Episch wird es mit dem düsteren „Transition“, ein Song, mit dem Peters seinen Kampf ums Überleben im Krankenhaus einfängt, ein Zustand zwischen Leben und Tod. Über orientalisch anmutenden Gitarren singt er vom Überlebenswillen, zunächst sanft, um im Refrain dann kraftvoll loszubrechen: Es ist ein Song, wie man ihn sich auf der letzten THE CULT gewünscht hätte. Der Refrain eine gewaltige Eruption. Es ist überraschend, wie viel Kraft diese Band noch hat. „Heute nacht muss ich diese Grenze überschreiten/ Wenn ich am Leben bleiben und ein zweites Mal leben will“.

Politisch wird es mit den folgenden „Love Disappearing“ und „New Standards“, die beide wieder den kraftvollen Sound der Anfangstage zitieren. „All I see is violence, reflections of unrest/ No charity for the homeless/ No funerals for the rest/ Love sending a message/ Sending an SOS“: Hier sind sie wieder, die Themen Perspektivlosigkeit, Gewalt und Armut.

Auch das psychedelische „X“ zum Abschluss knüpft da an. Hier klingt die Band wieder britisch nach Arbeiterklasse und erzählt mahnende Geschichten. Hier singt Peters wieder wütend und zugleich hoffnungsvoll, ohne an Stimmkraft eingebüßt zu haben, über einem hypnotisierend schreitenden Rhythmus. Auch das ist natürlich eine Reminiszenz an die 80er: Aber haben uns nicht genau solche Songs gefehlt? Wunderbar, wie in X die Mundharmonika eingebaut ist, ein mehrfach von THE ALARM genutztes Stilmittel.

Wer endlich wieder mal ein leidenschaftliches und unzynisches Rockalbum hören will, ein Album voller eingängiger Hymnen, der ist hier definitiv richtig. Ich würde behaupten, ein so tolles und dringliches Album haben THE ALARM seit den 80ern nicht mehr aufgenommen. Dass die Band von der hiesigen Presse mittlerweile fast komplett übergangen wird und zumindest in Deutschland keine großen Hallen mehr füllt, sollte Euch nicht stören: Das hier hat Herz, Muskeln und Seele. Und wenn es Euch sonst keiner erzählt, so habe ich es Euch gesagt.

Veröffentlicht am 16. Juni 2023

Spielzeit: 38:48 Min.

Lineup:
Mike Peters: Vocals, Guitar
James Stevenson: Guitar
Jules Jones Peters: Keyboard
Steve Barnard: Drums

Label: The Twenty First Century Recording Company

Homepage: https://thealarm.com/

THE ALARM “Forwards” Tracklist

1. Forwards
2. The Returning
3. Another Way
4. Love and Forgiveness
5. Next
6. Whatever
7. Transition
8. Love Disappearing
9. New Standards
10. X

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