Der Post Hardcore der frühen Zweitausender manifestiert sich mit diesem Album, und da kommt der Verfasser nicht umhin, an diese Zeit zu denken. Jünger und hoffnungsvoller war er und genauso wütend wie heute. In der aus heutiger Sicht guten alten Zeit, waren die größten Feinde ein George W. Bush und die CSU, während die Klimakatastrophe noch etwas Abstraktes war. Heute haben wir einen Turbowahnsinnigen in den USA überstanden, der allerdings seine Rückkehr plant, die CSU wirkt – zumindest bis deren Chef wieder etwas Geistreiches loslässt – angesichts von den Rechtspopulisten in deren Regierung und Faschisten als Oppositionsführer, wie eine Bastion der Vernunft und dank der Wetterextreme wurde in 1000 Metern Luftlinie vom Haus des Verfassers 10 Hektar Wald durch einen Tornado zerstört, von Kriegen und Terror ganz zu schweigen. Puh.
Wer sehnt sich da nicht gern zwanzig Jahre zurück? Die Bands waren damals ja auch aufregend, siehe REFUSED, AT THE DRIVE-IN, GLASSJAW oder auch FUGAZI? Also ab in die Zeitmaschine, nicht nur, weil diese Musik damals packend, mitreißend und innovativ war, sondern auch weil damals gefühlt alles leichter war. Bevor wir uns völlig im toxischen Sumpf von der Nostalgie verlieren, wechseln wir zu EX EVERYTHING. Die mit Mitgliedern von KOWLOON WALLED CITY und LESS ART gespickte Band begibt sich auf Rückschau, aber nur auf musikalische Art und Weise. Wer diese mäßig geschickt konstruierte Überleitung durchschaut hat, weiß bereits, was „Slow Change Will Pull Us Apart“ bietet. Natürlich: Post Hardcore.
Persönlich und politisch: EX EVERYTHING haben mit „Slow Change Will Pull Us Apart“ viel zu sagen.
Ein simples Revival tritt dieses Debütalbum allerdings nicht los. EX EVERYTHING sind weniger darauf bedacht, Hits zu schreiben und konzentrieren sich eher aufs Gefühl. Dass „Slow Change Will Pull Us Apart“ daher trotz der klar politischen Ausrichtung sehr persönlich wirkt, ist keine Überraschung. Dabei vergessen EX EVERYTHING allerdings die Hörer. Sprich: Refrains, die bewirken, dass mitgeschrien und die Fäuste in die Luft gereckt werden können, sind auf „Slow Change Will Pull Us Apart“ nicht zu hören. Schon „The Reduction Of Human Life To An Economic Unit“ infiziert gleich mit treibenden Grooves, pumpenden Bassläufen, noisy Gitarrenwänden und leidenschaftlichen Screams, aber es will in seinen knapp sechs Minuten nicht wirklich ins Ohr gehen.
Im Prinzip wenden EX EVERYTHING diese Formel sieben weitere Male an. Fünfunddreißig Minuten lang geben die vier Musiker aus der Bay Area alles, aber dieser Moment, zu dem man aufspringen und laut „Ja!“ schreien möchte, ist kaum zu finden. Das ist schade, hat aber auch einen Vorteil: „Slow Change Will Put Us Apart“ ist ein Album, das gut als Gesamtes funktioniert. Und da EX EVERYTHING ihre Songs nicht auf die klassische Vers-Chorus-Vers-Struktur limitieren, gibt es zumindest einige verschiedenen Facetten in den Songs. Die Spannweite reicht vom rabiaten, anderthalbminütigen Punkrocker „Detonation In The Public Sphere“ hin zum AmpRep-Noiserock-Song „A Sermon In Praise Of Corruption“.
„Slow Change Will Pull Us Apart“ hat viele Facetten und funktioniert als Gesamtes, Hits schreiben EX EVERYTHING aber keine.
Impulsivität ist diesem Album anzuhören, Spontaneität ebenso. Die Musiker hinter EX EVERYTHING müssen sich trotz ihrer jahrelangen Erfahrung erst als Band finden. Daraus resultiert, dass „Slow Change Will Pull Us Apart“ unperfekt ist, aber es ist bewusst unperfekt gehalten. EX EVERYTHING zeigen sich somit nahbar und bleiben authentisch, wenn sie einen starken Uptemposong wie „Slow Cancellation Of The Future“ neben „Feral City“, das mit Längen zu kämpfen hat, stehen haben. Mal ehrlich: Diese Haltung, sich bewusst von der auf Perfektion getrimmten zeitgenössischen Musik abzugrenzen, verdient Respekt.
„Slow Change Will Pull Us Apart“ spricht eine deutliche Sprache, das Album illustriert eine Zerrissenheit, die auch der Schreibende spürt, in Bezug auf das Land, in dem er lebt, in Bezug auf nahestehende Menschen, getreu dem Motto: „Hätte ich vor zwanzig Jahren gedacht, dass wir so fern voneinander sein würden…“ Die Wut, die Trauer darüber ist auch in der Musik zu finden. Schade, dass EX EVERYTHING trotz ihres Fundaments und ihrer Kreativität nicht mehr daraus machen. Ja, das Album ist ordentlich, aber es ist nicht der Kracher geworden, der möglich gewesen wäre. Eins ist aber sicher: Das bringt uns nicht auseinander, wenn EX EVERYTHING das nächste Mal zum Angriff blasen, ist der Verfasser wieder mit an Bord.
Wertung: 5 von 8 kognitive Verzerrungen
VÖ: 3. November 2023
Spielzeit: 35:03
Line-Up:
Jon, Andre, Dan, Ben
Label: Neurot Recordings
EX EVERYTHING „Slow Change Will Pull Us Apart“ Tracklist:
1. The Reduction Of Human Life To An Economic Unit (Official Audio bei Bandcamp)
2. Exiting The Vampire Castle
3. Detonation in The Public Sphere (Official Video bei Youtube)
4. A Sermon in Praise Of Corruption
5. Slow Cancellation Of The Future
6. Feral City
7. The Last Global Slaughter
8. Plunder, Cultivate, Fabricate
Mehr im Netz:
https://exeverything.bandcamp.com/
https://www.instagram.com/_exeverything/