Nachdem THE GATHERING aus den Niederlanden diesen Monat ein Hammer-Album herausgebracht
haben, hab ich mir Zeit genommen, um Sängerin Anneke van Giersbergen mal
richtig auf den Zahn zu fühlen – sprich: Herauszufinden, weshalb „if_then_else“
der bisher beste THE GATHERING-Release geworden ist.
Zunächst möchte ich Dich nach dem Konzept hinter „if_then_else“
fragen; ist denn da eines?
Ja, auf eine Art schon. Hinter den meisten Songs steht ein Thema: Die Geschwindigkeit
der Welt. Alles geht sehr schnell heutzutage, alles verändert sich sehr
schnell, die Musik, die Autos, die Menschen, das Internet, einfach alles; und
ich denke, dass der menschliche Körper da manchmal einfach nicht mehr mitkommt.
Manchmal musst du dich dann einfach auf eine Couch setzen, dich atmen fühlen;
und dann fragst du dich, „Will ich das überhaupt? Oder will etwas
verändern?“ Manchmal muss man sich einfach zwingen, eine Pause zu
machen, um wieder frische Energie zu schöpfen, um wieder mit dem eigenen
Leben zurechtzukommen.
Unsere Musik ist für uns ein sehr guter Weg um zu relaxen und um von der
Realität zu flüchten, wenn auch nur für ein paar Stunden; wir
tanken sozusagen Energie während wir Musik machen.
Wir wollen nicht Lehrer für die Fans spielen, glaub mir, aber man sollte
sich einfach manchmal etwas Zeit für sich selber nehmen, man kriegt auf
diese Art die Dinge, die man erledigt haben will, auch schneller fertig. Manchmal
muss man einfach eine Grenze zwischen innen und aussen setzen.
Insofern bedeutet der Titel „if_then_else“, dass man die Spalte zwischen
„wenn“ und „sonst“ ausfüllen muss.
Also ist das Titelbild sehr „verhängt“ mit diesem Konzept?
Richtig,
diese Leute gehen wirklich schnell, so schnell, dass Du sie gar nicht richtig
siehst – du weisst, sie sind da, aber du erkennst sie nicht. Und wir, auf
der anderen Seite der Stadt, nehmen uns eine Pause und stehen nur da und schauen.
Das Bild ist auf dem Bahnhof von unserer Heimatstadt aufgenommen worden.
Wenn Ihr Euch durch die Geschwindigkeit der Welt „bedrängt“
fühlt, sagen Euch die neuen Entwicklungen wie zum Beispiel das Internet
überhaupt zu?
Ja, sicherlich! Man muss es nur richtig benutzen. Manchmal surfe ich auf den
Netz und suche etwas – und da ist so viel Information, das macht einen
doch verrückt! Es ist zu viel. Man muss das Internet wahrscheinlich benutzen,
wenn man es braucht, und es sonst sein lassen – sonst wird man doch verrückt!
Wir benutzen Computer für alles, wir nehmen unsere Platten mit ihnen auf
– aber zuviel ist zuviel, da muss auch noch ein Rest an Gefühl bleiben,
und das können Computer nicht.
Wenn ich mir das neue Album anhöre, glaube ich, einen neuen Vocal-Stil
hören zu können, besonders auf meinem Lieblingssong „Amity“.
Hey, das ist auch mein Lieblingssong, aber Du hast Recht: Alle Aspekte unserer
Musik sind nun etwas ehrlicher, wenn Du so willst.
„How to measure a planet?“ wurde als Ganzes am Computer gemacht, es
war cool, die Platte war sozusagen unser “Opus Magnus“, wir mochten
es sehr.
Trotzdem wollten wir etwas mehr „zu den Wurzeln“, wir wollten mehr
Gefühl in der Musik, für mich persönlich war es eine schwere
Zeit, da die Beziehung zu meinem Freund just als wir ins Studio gegangen sind,
zusammengebrochen ist. Ich habe mir gedacht, „Wenn ich das überstehe,
dann kann ich alles überstehen“.
Ich war in einer sehr seltsamen Stimmung, und die Band hat sich die ganze Zeit
gesagt, „Du musst da sehr viel Gefühl einbringen.“ Bei mir hat
es dann umgeschlagen, und mich hat das, in einer positiven Art, nicht mehr interessiert.
Früher ging ich nach 12 Stunden Schlaf ins Studio, was gut für Sänger
ist, ich trank ein Glas Milch, eine Tasse Kaffee und ein Glas Wasser, und ich
konnte die Sterne aus dem Himmel singen. Das war schön und gut, aber ich
wollte eine Veränderung. Und nun, mit diesem Gefühl im Bauch, war
ich äusserst Emotionell. Wenn Du mich auf „Bad Movie Scene“ hörst….
Oh shit! [es folgte eine einminütige Diskussion über das Wetter, welches
in Dortmund, wo sich Anneke gerade aufhielt, verrückt spielte – mit
Blitz und Donner, was die hübsche Sängerin überhaupt nicht mag…
–al]
…also, wenn Du mich auf einem Song wie „Bad Movie Scene“ hörst,
dann kannst Du hören, dass sich meine Stimme etwas Rau anhört –
und sie war Rau. Ich war im Studio um 10 Uhr und ich habe angefangen, das Material
einzusingen. Ich habe mich nicht aufgewärmt, gar nichts. Ich hatte schlecht
geschlafen, ich hatte wieder angefangen zu rauchen. Das hört man; es ist
so ehrlich.
Manchmal, wenn ich einen Song wie „Amity“ höre, dann werde ich
etwas traurig, und etwas nervös oder scheu, denn nun kann die gesamte Welt
hören, wie ich mich wirklich gefühlt habe.
Genau das denke ich auch. Ich mag diese Platte mehr als alle anderen THE
GATHERING-Alben. Ich denke, dass man diese Ehrlichkeit auch in jedem Instrument
wiederfinden kann. Die Platte klingt mehr nach live, nachdem „How to measure
a planet?“ sehr experimentierfreudig daherkam.
Ja, alle waren sehr offen, und das war auch genau das, auf was wir hingearbeitet
hatten.
Irgendwie erinnert mich „if_then_else“ an die alten Platten,
vor allem an Mandylion…
Vielleicht, weil Mandylion auch sehr ehrlich war. Ich war da gerade neu in
der Band und da war ein ganz besonderes Gefühl.
Danach kam eine Zeit, wo sich das geändert hatte – aber nun, so denke
ich, sind wir songschreiberisch und musikalisch sehr viel weiter als bei den
anderen CDs. Wir sind etwas erwachsener geworden.
Es ist nun auch mehr Rock als Metal, zumindest von Gefühl her.
Du hast gerade von Mandylion gesprochen, und davon, wie Du in die Band
gekommen bist. Ich habe immer die andere Seite über dieses Treffen gehört,
erzähl doch mal Deine Version; Was hast Du gedacht, als Du THE GATHERING
das erste mal getroffen hast?
Nunja, ein Freund von uns, ein Typ, mit dem ich für ein halbes Jahr oder
so ausgegangen bin, kannte THE GATHERING. Ich kannte die Band von den Postern
in seinem Zimmer und sah sie manchmal an Parties. Als ich sie dann zum ersten
Mal traf, machten sie mir einen äusserst relaxten Eindruck; mit beiden
Füssen auf dem Boden, normale Holländer, die einfach zum Spass Musik
machen, sich nicht wirklich um anderes kümmern. Wir haben uns gut verstanden,
weil ich ähnlich denke. Anfangs war es sehr relaxt, aber später wurde
unsere Musik populär, und ich erinnere mich genau, der Vater von Hans und
René [Rutten – Anm. d. al] hat zu mir gesagt: „Anneke, Du musst
Dich bald entscheiden, ob Du das wirklich willst, denn ich glaube nicht nur,
ich weiss, dass THE GATHERING sehr erfolgreich sein werden.“ Ich dachte,
klar, wir machen Musik und schauen, was passiert. Und dann wurden wir populär.
Er hatte absolut recht.
Und wie bist Du damit umgegangen, von heute auf morgen „berühmt“
zu sein?
Ich habe Musik gemacht, seit ich denken kann – Musik schreiben und Konzerte
spielen war insofern nicht neu für mich, der grosse Unterschied war nun
einfach, dass so viele Leute unsere Musik mochten, wo es früher ein paar
hundert gewesen sind.
Es war irgendwie eine logische Abfolge für mich. Wir wussten, dass unsere
Musik gut genug war.
Eure
Popularität geht ja, wie bei den meisten Bands, auch von einigen grossangelegten
Tourneen aus. Wie ist es für Dich als einzige Frau in einer grossen Gruppe,
die komplett aus Männern besteht, so lange unterwegs zu sein?
Es ist o.k. Sie behandeln mich gleich wie die anderen. Und es sind kleine
Sachen, z.B. wenn die Tür zur Dusche kein Schloss hat, dann fragst Du halt
jemanden, ob er sich schnell vor die Tür setzen kann.
Ich war immer mit Männern zusammen, und meine besten Freunde sind Männer
– von daher ist das kein Problem.
Was ist denn Deine Position in der Band? Bist Du „nur“ die Sängerin,
oder bist Du eine wichtige Person (ausser für die Medien :-))?
Wir machen immer alles zusammen. Wir schreiben die Musik zusammen, ich spiele
Gitarre, ich schreibe die Lyrics, wir alle bringen unsere Ideen zusammen, wir
entscheiden auch alles zusammen. Es ist nur, dass Hans und ich mehr die Medienseite
machen – wir sprechen mehr. Aber an Promo-Tagen wie heute sind alle da,
und alle geben Interviews.
Wir haben alle Bereiche, wo wir gut sind, und wir legen nun halt mehr Gewicht
da rein.
Hugo, unser Bassist, mach die ganzen finanziellen Sachen und das Booking, ich
mache PR, unser Keyboarder macht das Merchandising – jeder hat so seine
Ecke.
So, und was macht Ihr jetzt, geht Ihr auf Tour?
Als nächstes werden da ein paar Festivals sein, im August, und ein paar
Gigs – endlich! Es ist schon so lange her, und ich will endlich wieder
auf die Bühne.
Nachher werden wir viele Clubshows in Holland spielen und eine Europatour machen.
Bis Ende Jahr werden wir auf Tour sein.
Aber Ihr wart doch gerade auf Tour [wegen der Live-Platte – anm. d.
al] – stresst Euch das nicht?
Oh nein! Ganz und gar nicht. Wir touren auch nie länger als einen Monat
am Stück, von daher ist das kein Problem.
Und nun, wenn Du auf Eure bisherige Karriere zurückschaust, würdest
Du alles wieder gleich machen?
Ja, sehr wahrscheinlich. Ich glaube sehr stark daran, dass nichts ohne Grund
passiert. Wenn ich mir Mandylion anhöre, was ich praktisch nie mache, dann
denke ich mir schon, „whoa, ich singe inzwischen viel besser“, aber
das ist, weil ich musikalisch auch besser geworden bin. Ich sang damals, wie
ich mich fühlte, und dasselbe tue ich heute auch.
Du sagtest, dass Du Dir z.B. Mandylion nie anhörst. Warum das?
Ach, nicht prinzipiell. Ich höre alte Songs von uns genug, wenn ich in
irgendwelche Clubs oder so gehe. Aber dann fängst Du an, Dir über
die Produktion Gedanken zu machen.
Ich meine, ich liebe es, die alten Songs live zu spielen, das ist grossartig.
Was hast Du denn gedacht, als Euer Gitarrist ausgestiegen ist?
Wir haben es kommen sehen. Er wollte einfach etwas anderes machen. Wir reden
mit ihm von Zeit zu Zeit, er lebt ja hier in der Nachbarschaft, und es geht
ihm sehr gut. Er wollte einfach keine Musik mehr schreiben und er hatte keine
Lust mehr, Gitarre zu spielen.
Er ist dann gegangen und alles wurde besser: Unsere Musik wurde besser, wir
gaben uns gegenseitig mehr Raum, um unsere Ideen zu verwirklichen, und ihm geht
es auch besser, er ist nun Sound-Engineer.
Was machst Du denn so in deiner Freizeit?
Ich fahre viel auf meinen Rollerskates oder auf dem Rad durch die Gegend,
das mag ich sehr.
Und
was für Musik hörst Du, wenn Du nicht gerade herumfährst?
Hmmm… Viel Jazz oder Prince. Viel Funk. Ich liebe Bootsy Collins.
Es macht mich froh. Ich höre nicht viel dunkle Musik – und wenn, dann
höre ich mir sehr gut gemachte Singer/Songwriter-Musik an, die sehr traurig
ist – manchmal bringen diese Leute mich nur mit ihrer Musik zum weinen.
Ich habe mir hier zwei Bands aufgeschrieben, dich ich in eine Relation
mit Dir bringen könnte, einerseits, weil sie mich an Eure Musik erinnern,
oder weil die so singen wie Du.
Massive Attack…
Wir alle hören Massive Attack. Könnte also sein…
Björk…
Björk ist grossartig, wenn ich auch keine Platte von Ihr besitze…
Nicht? Musst Du ändern, Björk ist toll!
Ich schäme mich auch, dass meine Plattensammlung keine Platte von Björk
beinhaltet.
Dann habe ich noch eine schwierige Frage für Dich…
Versuch’s!
Was ist Kunst für Dich.
Ich denke, jede Form, dein inneres Selbst auszudrücken, ist Kunst. Wenn
du ein Fahrrad hast, du malst die Räder rot und fährst über ein
Kleidungsstück, fotografierst das und hängst es auf, dann kannst du
das Kunst nennen, da es genau das war, was du in dem Moment tun wolltest.
Deshalb gibt es so verschiedene Arten von Musik und so viele verschiedene Malereistile
– weil es so viele verschiedene Menschen gibt, die unterschiedlich fühlen.
Schlussendlich ist Kunst einfach das auszudrücken, was du fühlst.
Würdest Du sagen, dass ein Künstler seine „Werke“ für
sich selbst oder für andere macht?
Am Anfang ist es für ihn selbst. Ich habe zum Beispiel das gleiche Gefühl,
wenn ich Songs schreibe in meinem Zimmer, in der Nacht, wenn mich niemand hört.
Es ist eine Art von Selbsthilfe. Wenn ich traurig bin, dann schreibe ich einen
Song und bringe das Gefühl aus meinem System raus. Ich mache aus etwas
negativem etwas positives.
Und dann, wenn ich auf die Bühne gehe und hunderte von Leuten mögen
das, was Du gemacht hast, dann liegt das Gewicht auf diesem Gefühl. Wenn
ich „My true love has left me and I am so sad“ singe, wenn ich das
für hundert Leute singe wird es verstanden, und das macht es noch zauberhafter.
Manchmal singen wir auch darüber, wie schön es ist, in der Sonne im
Gras zu sitzen.
Ihr macht aber nicht wirklich sonnige fröhliche Musik, oder?
Nicht wirklich, nein. Wir sind sehr frohe Menschen, aber Du kannst einfach
besser über schlechte Dinge schreiben als über gute.
Manchmal weiss ich dann auch nicht, über was ich schreiben soll, dann suche
ich wirklich nach Themen.
Manchmal muss man die Lyrics wirklich suchen, aber meistens kommen die richtigen
Worte einfach zu dir. Manchmal wachst du auf, und du hattest einen komischen
Traum, du fängst an, aufzuschreiben und hast schnell ein Blatt voller Lyrics.
Wenn du dir das am nächsten Morgen noch einmal anschaust, denkst du, „Wow,
habe ich das geschrieben?“
Es kann auch sein, dass ich mir CNN anschaue, und dann auf Ideen komme…
Cool, das muss ich auch mal versuchen.
Aber um es abzurunden: Wenn Du Dir „if_then_else“ anhörst,
wenn Du Dich erinnerst, was fühlst Du?
Ich denke, dass es gut ist, ich fühle mich gut. Der Produzent war so
toll, dass wir uns entschieden haben, auch die nächste Platte mit ihm aufzunehmen.
Gut, danke. Möchtest Du zum Schluss der Internet-Gemeinde noch etwas
mitteilen?
Oh, ja, wir würden gerne wissen, wie Euch die neue Platte gefällt.
Kommt Doch rüber auf unsere Web Site und hinterlasst uns eine Message.
Wir freuen uns auf Eure Kommentare!