Eines der schönsten Gefühle ist es doch, sich voll und ganz treiben zu lassen. Umso besser also, wenn man diesen Zustand schon vor Konzertbeginn üben darf: Bei drei parallellaufenden Konzerten im Münchner Backstage wissen zwischenzeitlich auch wir nicht mehr so recht, ob die geduldig wartende Schlange vor uns tatsächlich zur gewünschten Veranstaltung führt. Weil wir mit dieser Verwirrung offenbar nicht alleine sind, bewegen wir uns eben kurzerhand einfach mit dem Strom, der uns nach einer Weggabelung wie erhofft ans gewünschte Ziel bringt: Während es die einen rechts die Treppe hoch zu SOULBOUND und PARASITE INC. zieht, biegen wir zur ausverkauften Halle ab, wo VOLA ihr fabelhaftes neues Album „Friend Of A Phantom“ (2024) präsentieren wollen.
Allein das wäre ja schon Anlass genug, den Dänen an diesem Freitagabend einen Besuch abzustatten. Dass die Band mit CHARLOTTE WESSELS und THE INTERSPHERE darüber hinaus auch noch ein interessantes, da abwechslungsreiches Vorprogramm im Schlepptau hat, macht sich die frühe Anreise bezahlt: Schon vor offiziellem Beginn ist ungewöhnlich viel los in der Halle – vielleicht auch ein Nebeneffekt des vergleichsweise spät angesetzten Auftakts.
THE INTERSPHERE
Nutznießer dessen sind um punkt Acht jedenfalls THE INTERSPHERE, die uns persönlich zwar schon seit rund anderthalb Dekaden begleiten, doch in vielen Kreisen nach wie vor unter dem Radar zu fliegen scheinen. Berechtigt ist das keineswegs, denn der mit progressiven Anleihen versetzte Alternative Rock der Deutschen ist live wie auf Platte ein Garant für intelligente und dabei doch eingängige Arrangements.
Das beweist das Quartett eingangs mit „Wanderer“ und wenig später dem unverkrampften „Who Likes To Deal With Death?“. Der Soundmix ist dabei klar genug, um sowohl die Soli als auch die spannenden Akzente von Drummer Moritz Müller wertschätzen zu können. Dass die Energie auf der Bühne anfangs vornehmlich aus der Anlage kommt, können wir THE INTERSPHERE dabei kaum zum Vorwurf machen, denn viel Raum steht der Formation heute nicht zur Verfügung. Nur ein Hindernis ist selbst das irgendwann nicht mehr: Inmitten des zahlreichen Equipments von VOLA & Co. ist es beim rastlosen „The Grand Delusion“ vorbei mit der Zurückhaltung.
Das Finale kommt bei THE INTERSPHERE früh, doch fällt dafür energiegeladen aus
Mit der explodierenden Band geht auch ein Ruck durchs Publikum, das bis dahin den Auftritt zwar aufmerksam verfolgte, doch erst jetzt langsam in die Gänge zu kommen scheint. Der Klassiker „Prodigy Composers“, der seinerzeit definierend für die eigene musikalische Ausrichtung war, kommt somit zum perfekten Zeitpunkt, um das knackige Set zu einem frühen, doch dafür energiegeladenen Finale zu führen.
THE INTERSPHERE Setlist – ca. 30 Min.
1. Wanderers
2. Down
3. Who Like To Deal With Death?
4. Antitype
5. The Grand Delusion
6. Prodigy Composers
Fotogalerie: THE INTERSPHERE












CHARLOTTE WESSELS
Hervorstechen kann CHARLOTTE WESSELS im Anschluss nicht nur aufgrund ihrer wandelbaren Stimme. Stilistisch passt die Musikerin mit ihrer Band eigentlich so gar nicht zum Headliner. Da sich zwischen Alternative Metal, Rock und symphonischen Einsprengseln aber auch das eine oder andere moderne Zitat einschleicht, drücken wir gerne ein Auge zu. So steuert Bassist Otto Schimmelpenninck in “Ode To The West Wind” einige herzhafte Growls bei, während die tief gestimmte Gitarre Timo Somers‘ den Groove vieler zeitgenössischen Modern-Metal-Bands mimt.
Trotz der abwechslungsreichen Instrumentierung, die im schmissigen „Praise“ auch abgezockt in Richtung Rock schielt, steht letzten Endes jedoch immer Mastermind CHARLOTTE WESSELS selbst im Zentrum der Stücke. Dass die hohen, operettenhaften Regionen von „Chasing Sunsets“ in der Backstage Halle auf geteilte Meinungen treffen, scheint indes wenig verwunderlich. Als Special Guest kann man sich sein Publikum eben kaum aussuchen, wobei die Sängerin – und das ist ebenfalls auffällig – tatsächlich auch einige hartgesottene Fans hinter sich weiß.
CHARLOTTE WESSELS und ihre Band harmonieren auf der Bühne prächtig
Jenen offenbart Wessels in „The Crying Room“ sodann ihre Seele, als sie über ihr chronisches Lampenfieber spricht. Die Lösung: sich vorab ein wenig lächerlich machen. Dass die Frontfrau in der Folge das eigene Bandshirt überzieht, mag zwar nicht die beste Werbung für ihr Merchandise sein, dafür entschädigt die packende Gesangsperformance im Folgenden gleich doppelt.
Dank gutem Sound, stimmiger Lightshow und der sichtlich guten Chemie auf der Bühne gewinnt CHARLOTTE WESSELS schlussendlich auch aus der Außenseiterrolle den Respekt des zunächst skeptischen Publikums, das nach dem überraschend harten „The Exorcism“ den motivierten Auftritt mit lautstarkem Beifall zu würdigen weiß.
CHARLOTTE WESSELS Setlist – ca. 45 Minuten
1. Chasing Sunsets
2. Dopamine
3. Ode To The West Wind
4. The Crying Room
5. Vigor And Valor
6. Praise
7. Soft Revolution
8. The Exorcism
Fotogalerie: CHARLOTTE WESSELS




















VOLA
Dass die Meute im Münchner Backstage bislang mit angezogener Handbremse unterwegs war, hat derweil einen einfachen Grund: Anlass für das zahlreiche Erscheinen – die Halle ist um kurz vor Zehn bis auf den letzten Platz gefüllt – ist diesmal ganz offensichtlich der Headliner selbst. Das Raunen im Saal spricht Bände, als endlich die Lichter ein letztes Mal erlöschen, doch VOLA die brodelnde Stimmung noch ein wenig länger anzufachen wissen. Mit dem reduzierten „I Don’t Know How We Got Here” setzt das Quartett auf einen langsamen Aufbau, Asgar Mygind erhebt im weißen Scheinwerferlicht seine sanfte Stimme, während seine Kollegen Zuflucht im Dunkel suchen.
Es ist ein ungemein stimmungsvoller Auftakt, bis die Backstage Halle in den erhebenden Synthesizern von „We Will Not Disband“ aufzublühen scheint: Mit einer faszinierenden und für die Bühnengröße durchaus opulenten Lichtshow erschaffen VOLA ein Bild, das wir sonst nur aus den großen Arenen kennen. Die zahlreichen LED-Röhren ragen teils bis zur Decke, tauchen die Szenerie in tiefe Farbtöne oder setzen harte Kontraste.
VOLA heizen den Pit durch kraftvolle Riffs an – und sorgen für eine waschechte Überraschung
Solche liefern VOLA auch musikalisch, wenn sich Bassist Nicolai Mogensen im zarten „Glass Mannequin“ an die Synthesizer begibt, um Keyboarder Martin Werner zu unterstützen. Diese introvertierten Augenblicke liefern ähnlich wie die unheilvoll kriechende Strophe von „These Black Claws“ ein paar Momente zum Durchschnaufen, bevor die massiven Gitarren ein weiteres Mal hervorbrechen. „Stone Leader Falling Down“ sorgt mit seinem djent-beeinflussten Riffing für die ersten Nacken-Workouts, bevor die aufrüttelnden Synthesizer von „Break My Lying Tongue“ endgültig den Sturm losbrechen, der sich im Zentrum schon lange zusammengebraut hat.
Den Pit heizen VOLA unmittelbar mit „Head Mounted Sideways“ weiter an – der Energie der Münchner:innen muss man ja ein entsprechendes Ventil bereitstellen. Ein Weiteres verknüpfen die Skandinavier mit einer waschechten Überraschung. Während der Hit-Single „Cannibal“ des aktuellen Werks „Friend Of A Phantom” (2024) stürmt plötzlich CYPECORE-Frontmann Dominic Christoph die Bühne, um mit markigen Screams die Gastrolle Anders Fridéns (IN FLAMES) zu übernehmen. Dass die auf diese Weise nach oben geschraubte Intensität des Tracks den Moshpit um ein paar weitere Meter anwachsen lässt, versteht sich von selbst.
Live entfalten die Kompositionen VOLAs eine ungeahnte Intensität
Überhaupt treffen die Kompositionen der Band im Live-Format ein ganzes Stück heftiger ins Mark, als wir es von Zuhause gewohnt sind. Die zusätzliche Härte tut altem Material wie „Gutter Moon“ oder „Starburn“ ebenso gut wie den jüngeren Nummern à la „Paper Wolf“ oder „Bleed Out“, deren metallisches Riffing respektive Breakdown ohnehin wie geschaffen für die Bühne sind.
Da sich Gitarrist und Sänger Asger Mygind darüber hinaus angenehm kurzhält und den straffen Ablauf nur hin und wieder durch ein paar wertschätzende Worte unterbricht, verlieren VOLA auch nicht den roten Faden. Zumal der Publikumsdialog selbst ohne Worte ausgezeichnet funktioniert: Eine kleine Handbewegung des Frontmanns reicht aus, um in „Alien Shivers“ die Zuschauerschaft als Background-Chor zu rekrutieren. Singen dürfen die Fans schließlich im getragenen „24 Light-Years“ ein weiteres Mal, während wir bereits hier regelmäßig die Augen schließen, um noch tiefer in die teils ergreifenden Klangwelten der Formation einzutauchen.
Für das Münchner Publikum halten VOLA eine Zugabe bereit
Das gelingt sogar während des Hits „Straight Lines“ und der Zugabe „Stray The Skies“ ganz ausgezeichnet, wo wir uns entscheiden, den Abend genauso zu beenden, wie er für uns begonnen hat. Während also im Zentrum die schweißgebadeten Leiber ein letztes Mal ineinander krachen, geben wir die Kontrolle aus der Hand, um uns voll und ganz treiben zu lassen. Diesmal allerdings nicht voller Ungewissheit im stetigen Trott der Warteschlange vor den Toren, sondern in der faszinierenden, packenden und bei aller Vielschichtigkeit doch eingängigen Musik VOLAs, die uns nach dieser bemerkenswerten Vorstellung noch eine ganze Weile in die Nacht hinaus begleitet.
VOLA Setlist – ca. 85 Min.
1. I Don’t Know How We Got Here
2. We Will Not Disband
3. Stone Leader Falling Down
4. These Black Claws
5. Glass Mannequin
6. Alien Shivers
7. Gutter Moon
8. Break My Lying Tongue
9. Head Mounted Sideways
10. Cannibal
11. 24 Light-Years
12. Starburn
13. Bleed Out
14. Paper Wolf
15. Straight Lines
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16. Stray The Skies
Fotogalerie: VOLA















Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)