Meine Güte, wie die Zeit vergeht. 20 Jahre ist es her, dass „Tears Don’t Fall“ in den Kinderzimmern der Nation auf und ab lief. 20 Jahre, dass zu „Dying In Your Arms“ der eigene Liebeskummer ertränkt wurde. Wie sehr die beiden Songs – und noch viel mehr die dazugehörigen Alben – eine Generation mitprägten, wissen auch die Köpfe dahinter. Wohl auch deshalb keimte das Vorhaben auf, das Jubiläum in besonderer Weise zu zelebrieren.
„The Poisoned Ascendancy“ ist somit nicht viel weniger als ein feuchter Traum für uns Millennials: Als wären BULLET FOR MY VALENTINE und TRIVIUM auf Co-Headline-Tour nicht schon genug Grund zur Freude, führen die beiden Bands die namengebenden Alben in voller Länge auf. „The Poison“ (2005) verhalf BULLET FOR MY VALENTINE seinerzeit ebenso zum Durchbruch, wie es „Ascendancy“ (2005) unter Roadrunner Records für die US-amerikanischen Kollegen tat. Die Chance, für einen Abend nochmal zwei Dekaden zurückzureisen, ist natürlich auch für die Münchner:innen ein verlockendes Angebot, weshalb die Show im hiesigen Zenith bereits seit vielen Wochen restlos ausverkauft ist.
Das spiegelt sich in der Schlange vor den Toren und wenig später am Merchandise, wo für den Geldbeutel offenbar gesalzene Preise von 45,-€ pro Shirt und regelrecht absurden 90,-€ für einen einfachen Logo-Sweater kein Hindernis darstellen. Aus Bandsicht hat es wohl auch Vorteile, wenn die eigene Zielgruppe größtenteils schon länger im Berufsleben steht. Während im hinteren Hallenviertel also das Gildan-Textil zum Luxusartikel ausgerufen wird, sammelt sich unmittelbar vor der Bühne bereits eine kleine Menschentraube – und das aus gutem Grund.
ORBIT CULTURE
ORBIT CULTURE mögen im direkten Vergleich zum heutigen Top-Billing gegenwärtig noch kleine Fische sein, wie steil es aber derzeit für die Schweden nach oben geht, belegte im vergangenen Jahr die ausverkaufte Headline-Tournee und heute ein bloßer Blick nach vorne. Für die große Bühne hat man sich neu in Schale geschmissen: weniger die Musiker selbst, zugegeben, aber das Drumherum, das mit einem voluminösen, in schickem Weiß gehaltenen Backdrop von einer neuen Ära kündet.
Musikalisch bleibt das Quartett aber fest in der Gegenwart verankert und damit beim aktuellen Studioalbum „Descent“ (2023), das den Großteil des knackigen Sets bildet und durch den Hit „North Star Of Nija“ sowie das stampfend-groovende „While We Serve“ komplettiert wird. Dass der mächtige Extreme Metal im soundtechnisch komplexen Zenith nicht immer optimal zur Geltung kommt, trübt indes die Stimmung in der alten Werkshalle keineswegs. Fans haben ORBIT CULTURE offenbar auch in München vor Ort, wie sonst ließen sich die quer durch die Halle emporschießenden Fäuste in „From The Inside“ erklären?
ORBIT CULTURE überzeugen mit selbstbewusstem Auftreten
Ob eingängiger Refrain oder erdrückendes Stakkato-Riffing in“ Vultures Of North“, ORBIT CULTURE überzeugen heute mit selbstbewusstem Auftreten, das mit den Dimensionen der Zenith-Stage spielend fertig wird. Hierfür hat sich Gitarrist und Shouter Niklas Karlsson gar einen Trick bei seinen Tourkollegen abgeschaut: Drei aufgestellte Mikrofone sorgen dafür, dass der Musiker durch sein Instrument nicht völlig in der Bewegung eingeschränkt wird. So erreicht die Energie der Band auch die beiden Seitenschiffe der Location, wo man sich nach dieser Vorstellung ähnlich einig scheint wie im Zentrum: eine halbe Stunde ist für die Skandinavier fast schon sträflich kurz bemessen.
ORBIT CULTURE Setlist – ca. 30 Min.
1. Descent
2. North Star Of Nija
3. From The Inside
4. While We Serve
5. Vultures Of North
Fotogalerie: ORBIT CULTURE
















TRIVIUM
Als erster von zwei Co-Headline-Acts ranzumüssen, ist nicht immer von Nachteil: Weder ist man in der Bringschuld, die vorherige Performance in den Schatten zu stellen, noch sind Teile der Besucherschaft vorzeitig abgereist. Vollkommen unbeschwert agieren TRIVIUM folglich ab den ersten Tönen des Openers „Rain“. Die Routine der US-Amerikaner spielt natürlich ebenso eine Rolle, da vor allem der stets sympathische Matt Heafy als Frontmann sein gewohntes Programm abspult.
Als Animateur und Kumpel präsentiert sich der Sänger und Gitarrist, der den Fans mittels aufbauendem Zuspruch auch noch die letzten Energiereserven entlocken möchte. Wenn er dabei den Wettbewerbsgedanken schüren muss, um die „noch lauteren Mailänder“ in den Schatten zu stellen, dann ist das dem Bandkopf ebenfalls recht. Wie gut die Rechnung aufgeht, zeigen erst die springenden Reihen vor den Brettern und später die zahlreichen Circle Pits während „The Deceived“.
TRIVIUM präsentieren dem staunenden Zenith ein opulentes Bühnenbild
Da es songtechnisch diesmal keine Überraschungen geben wird, sorgen TRIVIUM für die Aufführung ihres kompletten Zweitwerks eben für andere Schauwerte. Als sich nach Alex Bents geschickt platzierten Drum-Solo das Scheinwerferlicht wieder auf die komplette Bühne ausweitet, offenbart sich dem staunenden Zenith eine gigantische Replik des „Ascendancy“-Engels (2005). Die groteske Gestalt, die sonst das Frontcover ziert, greift mit ausgestreckter Hand nach den Musikern, während sie sich zum Klassiker „A Gunshot To The Head Of Trepidation“ bedrohlich vor und zurück bewegt.
Das opulente Setdesign, das im Laufe der Show mittels wechselnder Backdrops interessant bleibt, macht einiges her und wird spätestens ab „Like Light To The Flies“ durch einen balancierten Soundmix abgerundet. Gut aufeinander eingespielt sind TRIVIUM ohnehin, weshalb sich die bayerische Landeshauptstadt von lange nicht gespielten Hits wie „Dying In Your Arms“ genauso mitnehmen lässt wie von Raritäten à la „Suffocating Sight“ oder „Departure“, wo Heafy zwischendurch die Akustikgitarre zupft, während hunderte Smartphone-Lichter das Zenith erhellen.
Für die Zugabe kramen TRIVIUM natürlich in der Hit-Kiste
Draufsetzen kann man trotzdem noch einen: Als Dreingabe lässt der Evergreen „In Waves“ die Meute zum Abschluss nochmal abheben. Aus der Hocke springt fast das komplette vordere Viertel im Takt, während die Titelzeile nicht nur Gitarrist Corey Beaulieu inbrünstig mitbrüllt, sondern geradezu tausendfach durch die geräumige Location hallt. Stark!
TRIVIUM Setlist – ca. 75 Min.
1. Rain
2. Pull Harder On The Strings Of Your Martyr
3. Drowned And Torn Asunder
4. Ascendancy
5. A Gunshot To The Head Of Trepidation
6. Like Light To The Flies
7. Dying In Your Arms
8. The Deceived
9. Suffocating Sight
10. Departure
11. Declaration
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12. In Waves
Fotogalerie: TRIVIUM




















BULLET FOR MY VALENTINE
Was bei TRIVIUM bisweilen dennoch den Anschein eines regulären Konzerts hatte, bekommt bei BULLET FOR MY VALENTINE nun den passenden Rahmen. Anlässlich des 20-jährigen Jubiläums ihres Debütalbums leiten die Waliser ihre Show nicht einfach mit dem regulären „The Poison“-Intro ein, sondern schalten diesem eine kleine Rückschau vor. Zu einer Anmoderation der damaligen „Metal Hammer Awards“ flimmern Archivaufnahmen als Projektion über die Leinwand, welche die blutjunge Band inmitten des damaligen Hypes zeigen.
Was seinerzeit losgetreten wurde, muss schließlich entsprechend gewürdigt werden, bevor im Münchner Zenith alle Dämme brechen. Dass die Fans schon den Opener „Her Voice Resides“ in einer alles übertönenden Lautstärke mitsingen, spricht Bände und stellt das vorausgegangene Spektakel quasi im Vorbeilaufen in den Schatten. Ein Spielchen, das sich im folgenden „4 Words (To Choke Upon)“ weiterzieht und so schnell kein Ende finden soll.
Ihren größten Hit spielen BULLET FOR MY VALENTINE früher als gewohnt
Als Frontmann Matt Tuck den Song ankündigt, „der sein Leben veränderte“, ist den Münchner:innen natürlich vollkommen klar, worauf der Gitarrist und Sänger hinaus will. So seltsam es anmuten mag „Tears Don’t Fall“ als größten Hit der Band derart früh im Set zu hören, verfehlt das Stück seine Wirkung nicht. Den Auftakt des Songs intoniert Tuck gemeinsam mit der Anhängerschaft noch in akustischer Weise, bevor mit der einsetzenden Rock-Besetzung das Zenith kollektiv in die eigene Teenager-Zeit zurückversetzt wird.
Ein wohlig-nostalgisches Gefühl, das sich durch das komplette Set zieht, egal ob BULLET FOR MY VALENTINE nun häufig gespielte Evergreens wie „Suffocating Under Words Of Sorrow“ spielen oder ihren Deep Cuts à la „Hit The Floor“ oder „Room 409“ neues Leben einhauchen. Sogar letztere quittiert die euphorische Menge mit regelrechtem Jubel und einer Textsicherheit, die das Zutun der Band selbst eigentlich überflüssig macht.
Den Härtegrad ziehen BULLET FOR MY VALENTINE zum Schluss an
Gesanglich souverän lassen allerdings weder Mastermind Matt Tuck noch Kollege Jamie Mathias etwas anbrennen: Letzterer übernimmt nicht nur einen Großteil der Screams, auch ein wenig Lead-Gesang darf der Bassist in „All These Things I Hate (Revolve Around Me)“ beisteuern. Kaum verwunderlich also, dass die beiden Musiker schnell zum Fixpunkt der Show werden und so vergessen machen, dass die begleitenden Visuals im Hintergrund eher schlicht und nichtssagend ausfallen.
Was heute zuvorderst zählt, ist ohnehin das Songmaterial des Debütalbums „The Poison“ (2005), das BULLET FOR MY VALENTINE nach dem nachdenklichen „The End“ um ganze zwei Zugaben erweitern. „Knives“ vom aktuellen, selbstbetitelten Werk dreht kurz vor Schluss den Härtegrad bis zum Anschlag, bevor „Waking The Demon“ als obligatorischer Rausschmeißer einen wohlig-vertrauten Schlussstrich zieht.
BULLET FOR MY VALENTINE und TRIVIUM wagen mit „The Poisoned Ascendancy“ eine Art Bestandsaufnahme
Ein bisschen Tradition gehört schließlich selbst zu einer besonderen Tournee, mit der BULLET FOR MY VALENTINE und TRIVIUM auch, aber nicht ausschließlich, für einen wohligen Trip in die Vergangenheit sorgen. Wozu „The Poisoned Ascendancy“ zu alledem noch beiträgt, ist eine wohlverdiente und möglicherweise sogar überfällige Bestandsaufnahme. Zurück zu blicken, wo man eigentlich herkommt, ist schließlich eine Aktivität, die im Schulterschluss mit den eigenen Fans nicht nur deutlich mehr Spaß macht, sondern die über zwei Dekaden gewachsenen Bande zu würdigen weiß. Denn so langsam kommen nicht nur die beiden Bands, sondern auch ihre Fans in ein verzwicktes Alter. Und während die Jahre in dieser Lebensphase an uns vorbeizufliegen scheinen, ist es doch schön zu wissen, dass uns zumindest die Helden der Jugend selbst dann noch verlässlich den Rücken stärken.
BULLET FOR MY VALENTINE Setlist – ca. 75 Min.
1. Her Voice Resides
2. 4 Words (To Choke Upon)
3. Tears Don’t Fall
4. Suffocating Under Words Of Sorrow (What Can I Do)
5. Hit The Floor
6. All These Things I Hate (Revolve Around Me)
7. Hand Of Blood
8. Room 409
9. The Poison
10. 10 Years Today
11. Cries In Vain
12. The End
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13. Knives
14. Waking The Demon
Fotogalerie: BULLET FOR MY VALENTINE























Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)