Wichtig sei am Schluss nur eine einzige Sache, lässt uns BEARTOOTH-Sänger Caleb Shomo gegen Ende des Sets mit ordentlich Pathos in der Stimme wissen: Man müsse sagen können, man habe gelebt. Wohl exakt aus diesem Grund zieht es folglich an diesem Freitagabend knapp 6.000 Anhänger:innen der US-amerikanischen Metal-Band ins Münchner Zenith. Um frische Erfahrungen zu machen und unvergessliche Augenblicke zu erleben, gibt es heute immerhin kaum ein besseres Pflaster als die alte Werkshalle im Stadtgebiet Freimann.
Neben dem Headliner, der hier seine bislang größte Clubshow in Europa bestreiten wird, hat sich nämlich ein Support-Paket eingefunden, das sich gewaschen hat. Sowohl LANDMVRKS als auch POLARIS füllen ihrerseits eigenhändig mittelgroße Hallen und sorgen dafür, dass schon am frühen Abend Bewegung in die atmosphärisch kühle, doch auf ihre Weise schicke Spielstätte kommt.
LANDMVRKS
Das Standing des Openers spiegelt sich konsequenterweise auch in den Rahmenbedingungen. Nicht nur bekommen LANDMVRKS ganze 40 Minuten Spielzeit zur Verfügung, auch die Lightshow ist abseits der bunt leuchtenden Motten an den Rändern überraschend hochwertig. So dürfen die Franzosen ihr abwechslungsreiches Material visuell entsprechend vielseitig untermalen, was die ohnehin energiegeladene Performance weiterhin aufwertet.
Still gestanden wird auf den Brettern nämlich nur im absoluten Ausnahmefall, wenn Sänger Florent Salfati etwa für „Suffocate“ selbst zur Gitarre greift, um die erste Hälfte des Stücks als akustische Solo-Interpretation darzubieten. Diese Verschnaufpause vor dem finalen Abschnitt ist wohlverdient, nachdem die Crowdsurfer in „Blistering“ bereits dutzendfach den Fotograben ins Visier genommen hatten. Wie selbstverständlich treibt das Zenith sodann in „Say No Word“ den Circle Pit an und lässt sich im Doppel „Lost In A Wave“ sowie „Rainfall“ von Bassist Rudy Purkarts Sprungkicks und Air-Punches zu Höchstleistungen anstacheln.
LANDMVRKS sind weit mehr als bloßer Anheizer
Sympathisch und stimmlich makellos dirigiert Shouter Salfati ansonsten die Münchner:innen durch das Set, präsentiert in „Creature“ und „Visage“ seine Sprechgesangskünste, um die Arena in Letzterem zudem kollektiv auf und ab springen zu lassen. Dass im grandiosen „Self-Made Black Hole“ die Münchner:innen zum Abschluss die titelgebende Textzeile in ohrenbetäubender Lautstärke mitbrüllen, verstärkt nur unseren Anfangsverdacht: Für die angereisten Fans umfasst dieses Tour-Paket nicht nur einen, sondern ganze drei Headliner.
LANDMVRKS Setlist – ca. 40 Min.
1. Creature
2. Death
3. Blistering
4. Visage
5. Say No Word
6. Suffocate
7. Lost In A Wave
8. Rainfall
9. Self-Made Black Hole
Fotogalerie: LANDMVRKS



















POLARIS
Dementsprechend euphorisch begrüßt die Millionenstadt den zweiten Act des Abends, für welchen das Zenith durchaus vertrautes Pflaster darstellt. Bereits 2019 stand man hier gemeinsam mit BEARTOOTH auf der Bühne – damals noch als Opener für ARCHITECTS. Seitdem ist viel passiert: Dem tragischen Tod Ryan Siews, gedenkt Shouter Jamie etwa mit dem vergleichsweise zurückgenommenen „Overflow“, das wie der Großteil des heutigen Sets dem aktuellen Werk „Fatalism“ (2023) entnommen ist.
Dass ausgerechnet während dieser emotionalen Worte ein leerer Getränkebecher auf den Brettern landet, ist leider ungünstiges Timing, doch sicherlich nicht als Missgunst zu verstehen. Denn der Rückhalt in München ist für POLARIS bis zu diesem Zeitpunkt auch heute ungebrochen groß. Zwar erscheint uns das melancholische „All In Vain“ in atmosphärischer Hinsicht als Auftakt eher eine kuriose Wahl, spätestens mit der Hitsingle „Nightmare“ aber zeigt sich das Zenith hellwach. Vor der Bühne wird geklatscht, gesprungen und trotz der kühlen Herbsttemperaturen der Geist der Sommerfestivals beschworen, als sich inmitten der zahlreichen Crowdsurfer gar ein menschliches Surfbrett nach vorne tragen lässt.
POLARIS holen sich für „Hypermania“ sogar einen Gast auf die Bühne
So viel Einsatz entlockt selbst dem so energischen auftretenden Jamie Hails ein breites Grinsen – möglicherweise auch, weil ihm die Feierlaune der Münchner:innen zu verstehen gibt, was heute alles möglich ist. So teilt der Frontmann in „All Of This Is Fleeting” die Meute zur Wall of Death, lädt im starken „Masochist“ zum Mitsingen ein und sucht während „Hypermania“ im Fotograben höchstselbst den Körperkontakt zu den Fans, während Gastsänger Florent Salfati (LANDMVRKS) auf der Bühne die Stellung hält. Dass im soundtechnisch schwierigen Zenith die Leadgitarre manchmal etwas untergeht, ist derweil spätestens dann vergessen, als POLARIS mit dem groovenden „The Remedy“ zum Abschluss doch noch zeigen, dass sie die Fans des Debütalbums „The Mortal Coil“ (2017) nicht ganz vergessen haben.
POLARIS Setlist – ca. 45 Min.
1. All In Vain
2. Nightmare
3. Inhumane
4. All Of This Is Fleeting
5. Dissipate
6. Masochist
7. Overflow
8. Hypermania
9. The Remedy
Fotogalerie: POLARIS




















BEARTOOTH
Kochten BEARTOOTH bei ihrem letzten Gastspiel vor rund anderthalb Jahren showtechnisch noch auf Sparflamme, hat das Quintett nun endlich die Produktion im Schlepptau, die einer Band ihrer Größe gebührt: Mehrere Videotafeln bilden die Backline, simulieren im Intro Tesla-Spulen und unterstreichen im weiteren Verlauf die Stücke mittels abstrakter Formen und thematisch passender Bildchen. Dem herrlich rohen Gitarrensound wiederum schenken diverse Effekte von Flitterregen im Opener „The Surface“ und „Might Love Myself“ bis hin zu CO2-Kanonen in „Riptide“ zusätzlichen Punch.
Deshalb verwandelt sich auch die Arena zu Bandkopf Caleb Shomos Füßen im Handumdrehen zu einer einzigen gigantischen Party. Selbige anzuheizen vermögen BEARTOOTH durch todsichere Singalongs à la „The Past Is Dead“ oder „Hated“, wo die Münchner:innen den gut gelaunten Frontmann in puncto Stimmgewalt auch getrost in Rente schicken könnten. Dann aber würde doch der unbestrittene Fixpunkt des Auftritts fehlen. Denn so sehr sich seine Mitstreiter ins Zeug legen, mal ein Solo oder im Falle von Bassist Oshie Bichar kraftvolle Backing Vocals beizusteuern, das Spotlight taucht an diesem Abend nur das Mastermind in volles Licht.
BEARTOOTH-Sänger Caleb Shomo wechselt seine Garderobe im Minutentakt
Vielleicht wechselt Shomo auch deshalb sein Outfit fast so oft wie Popstar Beyoncé zu ihren besten Zeiten. Mit Sonnenbrille in „Sunshine!“, im türkisfarbenen Anorak während „Riptide“ oder einfach lässig in der Jeans-Weste findet sich für jeden Anlass etwas in der Garderobe. Nötig wäre das freilich nicht, weil der der Kleiderkreisel aber glücklicherweise keine zusätzliche Zeit in Anspruch nimmt, soll uns das auch nicht weiter stören.
Kleinere Überleitungen wie das neue EDM-Intro von „Riptide“ halten das Set während der ersten Hälfte vielmehr zusammen, sodass das Energielevel im Zenith erfreulich hoch bleibt, egal ob Caleb Shomo im räudigen Nackenbrecher „Bad Listener“ zum Flammenwerfer greift oder im gefühlvollen „Disease“ auf einen Ozean aus Crowdsurfern blicken darf. Inszeniert ist die Show ohnehin professionell, weshalb wir uns gerne von den Pyro-Effekten im instrumentalen „The Last Riff“ ablenken lassen – das Spektakel auf der Bühne nutzen BEARTOOTH, um ihren Sänger im Eiltempo die Halle durchqueren zu lassen.
Umringt von einem Lichtermeer spielt BEARTOOTH-Frontmann Caleb Shomo zwei Stücke im Publikum
Auf einer kleinen Bühne nicht unweit des Mischpults taucht Shomo schließlich wieder auf, um mit der Akustikgitarre in der Hand erst das THE KILLERS-Cover „Mr. Brightside“ und dann – umringt von einem Lichtermeer – die seiner Ehefrau Fleur gewidmete Ballade „Look The Other Way“ zu intonieren. Bevor es durch die geteilte Menge aber zurück zu seinen Kollegen geht, genießt Shomo den Moment im Spotlight noch eine Weile länger: Inmitten einer solchen Ansammlung an Menschen zu stehen, die seine Lieder mit ihm singen, erlebe er wie eine Art Fiebertraum.
Ein todsicheres Rezept aus einem solchen zu Erwachen, haben BEARTOOTH natürlich ebenfalls im Gepäck: Zum Evergreen „The Lines“ kracht die Wall of Death ineinander, lässt die Meute nochmals komplett ausrasten, um dann nach dem etwas lauen „ATTN.“ die verbleibenden Energiereserven für „You Never Know“ zu mobilisieren.
Viele Hits, aber auch etwas Leerlauf durchziehen das BEARTOOTH-Set in München
Was sich nach dem Einschnitt zur Halbzeit schon angedeutet hat, gewinnt nun allerdings immer deutlicher die Oberhand: Mit fortgeschrittener Spieldauer nehmen auch die Pausen zwischen den Stücken zu, was schließlich in einem gut zehnminütigen Monolog gipfelt, dessen Thema Shomo damit selbst ad absurdum führt. Unsere Zeit sei kostbar, führt er im Rahmen eines langgezogenen Jams aus, während er unsere unnötigerweise verschwendet. Vielleicht aber ist selbst das nur ein Meta-Kommentar: Schließlich gehören neben viel Licht, auch die Schattenseiten dazu, um am Ende des Tages mit Bestimmtheit diesen einen eingangs erwähnten Ausruf in die Nacht schreien zu können: „I Was Alive“ beschließt sodann das Hauptset mit etwas Kitsch und Pathos, nur um umgehend von einem unüberhörbaren Chor abgelöst zu werden.
In jeder Ecke der Halle singen die Zuschauer:innen die eingängige Melodie des Überhits „In Between“, um den Musikern hinter der Bühne ein deutliches Signal zu senden. Ohne Weiteres und überhaupt ohne den Klassiker lässt man die US-Amerikaner nicht aus der bayerischen Landeshauptstadt von dannen ziehen. Zunächst aber legen BEARTOOTH mit „Sunshine!“ noch ein weiteres launiges Kraftbündel nach, bis es schlussendlich doch mit dem geforderten und selbstverständlich im Kollektiv vorgetragenen Highlight zu Ende geht.
BEARTOOTH scheinen wie gemacht für die großen Bühnen
Es ist ein standesgemäßer Abschluss für ein kraftvoll dargebotenes und abwechslungsreich inszeniertes Rock-Event, das BEARTOOTH auch für die Zukunft auf den großen Bühnen verorten dürfte. Etwas weniger Leerlauf und stattdessen zwei bis drei Stücke mehr und das Gesamtpaket wäre wohl kaum noch zu übertreffen. Doch zufrieden nach Hause gehen wir nach diesem hochkarätigen Dreierpack nichtsdestotrotz – auch, weil wir das Fazit – diesmal von unserer Seite mit einer gesunden Portion Pathos – nicht deutlicher formulieren könnten: Gelebt haben die Münchner:innen in dieser kühlen Herbstnacht tatsächlich so, als wäre es ihre letzte.
BEARTOOTH Setlist – ca. 83 Min.
1. The Surface
2. The Past Is Dead
3. Bad Listener
4. Riptide
5. Disease
6. Hated
7. Might Love Myself
8. The Last Riff
9. Mr. Brightside
10. Look The Other Way
11. The Lines
12. ATTN.
13. You Never Know
14. I Was Alive
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15. Sunshine
16. In Between
Fotogalerie: BEARTOOTH




















Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)