PAIN OF SALVATION: Individuum und Gesellschaft

Mit "The Perfect Element I", dem überragenden neuen Album der Schweden um Sänger, Gitarrist und Songwriter Daniel Gildenlöw könnten sich PAIN OF SALVATION als feste Szene-Größe zu etablieren. Daniel über das Wörtchen "progressiv" und andere soziale Ärgernisse…

Mit dem Debüt Entropia und dessen Nachfolger One Hour By The Concrete Lake konnten sich PAIN OF SALVATION bereits eine kleine treue Fangemeinde erspielen. The Perfect Element I, das neue Album der Schweden, hat nun gar das Potential, die Musiker um Sänger, Gitarrist und Songwriter Daniel Gildenlöw als feste Szene-Größe zu etablieren. Verdient hätten sie es allemal, ist es doch selten genug, daß eine junge Band nicht nur mit Virtuosität und songschreiberischem Talent, sondern auch mit derart viel Eigenständigkeit glänzt. Vergleiche mit großen Namen fallen schwer, die üblichen Schubladen sind zu klein. Wie also kann man die Musik PAIN OF SALVATIONs in Worte fassen? Diese und andere Fragen richtete VAMPSTER vor kurzem an Daniel Gildenlöw, der sich am Abend des Interviews bereits auf die Europa-Tour mit ARENA vorbereitete.

Daniel, erstmal vielen Dank, daß Du Dir noch die Zeit genommen hast. Es war gar nicht leicht, dieses Interview zu arrangieren. Ihr habt offensichtlich recht viel um die Ohren…

Wir möchten natürlich so viel Interviews wie möglich geben und Kontakte mit Medien und Fans pflegen, uns fehlt es nur Zeit, das ist das Problem.

Der Status der Band scheint ja rapide zu wachsen. Daher wird wohl noch mehr Arbeit auf Euch zukommen…

Ja, die Band fordert immer mehr Zeit und das alles setzt einen ganz schön unter Druck. Tja, so ist es eben! (lacht) Das wollten wir ja so haben, wir sind also schon zufrieden.

Es ist also letztlich ein positiver Druck…

Ja und nein! (lacht) Das Problem ist: Wegen der Tour und den damit verbundenen Proben und Vorbereitungen stehen wir derzeit schon recht stark unter Druck. Gleichzeitig mußten wir die Aufnahmen für unser Video zu `Ashes` abschließen. Das hat recht lange gedauert, war aber schon auch eine Art positiver Streß. Wir mußten auch die CD ROM-Tracks für die limitierte Edition von The Perfect Element I fertigsdtellen, ich habe das ganze Cover-Artwork gemacht, und so weiter. Da ist also eine Menge Druck, der nicht primär etwas mit Musik zu tun hat, vielleicht auch etwas zu viel. Ich kriege auch ungefähr hundert Mails am Tag. Manchmal hat man das Gefühl, daß alles ein wenig zuviel für einen allein wird.

Ich vermute, bei all den Mails sind sicherlich schon Reaktionen auf das neue Album dabei…

Ja. Bislang waren alle Reaktionen wirklich großartig. Wir haben einige ganz hervorragende Reviews bekommen, was sehr aufregend ist und uns sehr stolz macht. Auch von ganz normalen Leuten kamen großartige Reaktionen. Hmm, das ist ein dummer Ausdruck, ich meine eben Hörer, die sich nicht beruflich mit Musik beschäftigen, also nicht für irgendwelche Medien arbeiten. Ich freue mich schon, mit diesem Album auf Tour zu gehen und die Reaktionen der Fans mitzuerleben!

Ich habe eingangs schon erwähnt, daß ich den Eindruck habe, der Status PAIN OF SALVATIONs sei in sehr kurzer Zeit sehr stark gewachsen. Vor zwei Jahren kannte man Euch nur im Untergrund und un scheint The Perfect Element I eines der Alben zu sein, die 2000 am sehnsüchtigsten erwartet wurden….

OneJa, ich habe auch den Eindruck, daß die Leute scheinbar auf das Album warten. Wir bekamen eine Menge Mails, die uns fragten, wann es herauskommt. Da ist wirklich ein großer Unterschied zu damals, als wir die ersten beiden Alben veröffentlichten. Es war eine sehr konstante und schnelle Entwicklung. Damals war alles auch etwas merkwürdig, da wir unsere ersten beiden Alben ungefähr zur gleichen Zeit herausbrachten. Unser Debüt Entropia wurde in Europa und in den USA ja erst nach One Hour By The Concrete Lake veröffentlicht. Wenn mich die Leute damals nach dem neuen Album fragten, wußte ich nie, über welches sie eigentlich sprachen! (lacht) Ich mußte immer zurück fragen, ob sie das meinten, das gerade veröffentlicht oder das, das zuletzt aufgenommen worden war. Diesmal wird es sehr angenehm, weil jeder weiß, um welches Album es geht, haha!

Du hast es schon gesagt: Die allgemeine Resonanz auf The Perfect Element I ist ganz herrvorragend und von vielen werdet Ihr als die größte Hoffnung im Bereich anspruchsvoller Metal gehandelt. Es fällt allerdings enorm schwer, Euch stilistisch einzuordnen und jemandem, der Euch nie gehört hat, Euren Bandsound zu umschreiben, was natürlich wiederum für Eure enorme Eigenständigkeit spricht…

Ja. Das ist sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil, denn oft wollen die Leute einfach einen Vergleich, einen Namen, mit dem sie etwas anfangen kann, und die Medien versuchen, dem gerecht zu werden. Aber bei uns fällt es scheinbar wirklich sehr schwer. (lacht) Nun, es ist natürlich großartig, guten Gewissens sagen zu können, daß wir nicht einfach versucht haben, wie eine andere Band zu klingen. Anfangs war es für uns aber sehr schwer, Fuß zu fassen. Als wir die ersten Demos und sogar das erste Album verschickten, machten wir immer die gleiche Erfahrung. Wir bekamen Briefe von den Labels, die besagten: Wir mögen das wirklich, aber es klingt kein bißchen wie irgendeine unserer anderen Bands. Ich hielt das für einen Vorteil, Entropiaaber in Hinblick auf Marketing-Fragen haben die verantwortlichen Leute einfach kalte Füße bekommen. Es wäre ihnen lieber gewesen, wenn wir nach einer Band geklungen hätten, die gut läuft, so daß sie in etwa hätten einschätzen können, in welches Genre das paßt und wieviel sich damit verkaufen läßt. Aber ich bin sehr froh, daß wir dennoch unserem Sound treu geblieben sind und nichts daran geändert haben, damit er sich besser vermarkten läßt. Das wäre ein großer Fehler gewesen, aber ich denke auch nicht, daß wir das jemals gemacht hätten. Eine der ersten Reaktionen kam damals übrigens von Mike Varney (Inhaber von Shrapnel und auch beim Magna Carta-Label irgendwie beteiligt – der Verf.) aus den USA. Anfangs waren wir völlig aufgeregt, von ihm zu hören. Wir hatten ihm einen Song geschickt und er war begeistert. Als wir ihm dann aber mehr Material geschickt hatten, merkten wir, daß versuchte, unseren Sound zu ändern, und zwar in Richtung anderer Prog Metal-Bands, die sich gut verkaufen. Er meinte, ob wir den Bandnamen nicht in etwas positiver Klingendes ändern könnten und vielleicht die Texte etwas weniger negativ und depressiv halten könnten. Und vielleicht könnten wir ja ein paar Harmony Guitar-Solos mehr einbauen und so weiter, er ließ dann ein paar Bandnamen als Anhaltspunkte fallen. Das war wirklich ärgerlich, denn wir hatten ja das Gefühl, daß das vielleicht die einzige große Chance war, die sich uns bieten könnte. Und das Angebot abzulehnen hätte vielleicht bedeuten können, daß aus uns absolut nichts wird. Aber es war uns einfach vollkommen unmöglich, all diese Kompromisse einzugehen. Das konnten wir einfach nicht.

Ich denke, das war schon die richtige Entscheidung. Es gibt nunmal nur wenige große Namen in diesem Genre, während alle einfachen Nachahmer niemals auch nur annähernd an den Status ihrer Vorbilder herankommen. Wer braucht schon eine Kopie, wenn das Original noch aktiv ist?

Genau. Ich denke, wenn man sich wie eine andere Band anhört, kann man zwar auf Anhieb eine gewisse Menge Alben verkaufen, und der Anfang ist leichter, aber es führt nicht sehr weit. Ein origineller Stil ist eher ein Glücksspiel, es kann funktionieren oder völlig daneben gehen. Aber wenn es klappt, ist die Chance weit größer, sich wirklich einen Namen zu machen. Das ist, denke ich, in allen Kunstformen das gleiche, ob es nun Literatur oder Bildende Kunst ist. Es war allerdings nie so, daß wir beschlossen haben, besonders originell zu klingen, unser Stil kam einfach so und hat sich ganz natürlich entwickelt.

Wenn man nun Vergleiche und Schubladen vermeiden will: Wie würdest Du die Philosophie hinter Eurem Bandsound umschreiben?

Ich denke, es ist in der Tat schwer, ihn mit einem Genre-Begriff zu beschreiben. Man hat uns bislang Progressive Metal genannt. Aber das könnte eher von Nachteil für uns sein, denn eine Menge Leute, die Progressive Metal nicht mögen, werden uns womöglich keine Chance geben, was schade ist. Hmmm… Eine Umschreibung ist schwer. Ein Rezensent meinte mal FAITH NO MORE meets Albert Einstein! (lacht) Das ist eine merkwürdige Metapher, aber ich weiß, was er meint. Denn auch FAITH NO MORE kombinieren recht abgefahrene Klänge mit viel Gefühl, während sich Albert Einstein eher auf den philosophischen Teil der Texte und die intelligenten Aspekte der Musik bezieht.

Das Wort progressiv wird ja – meiner Ansicht nach – ohnehin von vielen mißverstanden und dient nicht mehr als Adjektiv, sondern als Stilumschreibung. Für viele bedeutet progressiv mittlerweile wildes Gefrickel und tausend Breaks pro Song…

Ja, das stimmt, das ist mir auch aufgefallen. Ich denke, wenn sich diese Kategorisierung darauf beziehen würde, musikalische Grenzen zu sprengen oder mit etwas Neuem anzukommen, dann würde es passen. Aber es ist oft, wie du sagst, einfach nur der Versuch, ein bestimmtes Muster zu übernehmen und einem bestimmten Format zu Genügen, zum Beispiel dem von DREAM THEATER oder FATES WARNING. Und dann denken manche, daß das progressiv sei, weil es die gleichen Komponenten beinhalte. Das ist schade, denn es bedeutet, daß es jede Progressive Band schwer hat, sich selbst zu definieren. Ich denke, wir haben mit den meisten sogenannten progressiven Bands recht wenig gemeinsam, in diesem Sinne ist es also ein Nachteil für uns, wenn die Leute uns in dieses Genre stecken. Zumindest hier in Schweden denken viele bei diesem Begriff gleich an sehr technisch ausgerichtete Bands, die relativ wenig Gefühl in ihre Musik einbringen. Da schadet uns diese Bezeichnung eher, leider.

Euch zeichnet ja – im Gegensatz zu der reinen Frickelfraktion – die Balance zwischen großartigen spielerischen Fertigkeiten und einem sehr emotionalen und ausdrucksstarken Ansatz aus…

PAINJa, das sagen viele. Ich denke das ist schon genau das, was wir versuchen. Zumindest ich als Komponist und Musiker versuche das: Spielerische Fertigkeit mit Gefühl zu verbinden. Die theatralische, dramatische Kraft der Emotionen ist mir sehr wichtig, aber man benötigt auch die Fähigkeit, sich entsprechend einwandfrei auszudrücken. Ich denke, das ist ein weitverbreitetes Mißverständnis: Wenn etwas spieltechnisch perfekt ist, dann hat es nichts mit Gefühl zu tun. Die meisten Leute denken, daß es möglich ist, seine Gefühle ohne eine adäquate Sprache auszudrücken, daß man also im Bereich der Musik nicht gut spielen müsse oder sogar dürfe, um Emotionen rüberzubringen. Das hieße aber im übertragenen Sinne, daß der perfekte Weg, sich auszudrücken der wäre, ein Baby zu sein, nur zu herumzuschreien und erst gar keine Sprache zu erlernen. Doch je mehr sprachliche Fertigkeiten man erlernt, umso detaillierter und präziser wird Dein Ausdruck sein. Und wenn man dieses Werkzeug nicht besitzt, werden andere möglicherweise das Gefühl, das vermittelt werden soll, nicht wirklich versehen. Jemand, der nur sehr wenig Informationen hat, bevor er mit Deiner Musik konfrontiert wird, wird möglicherweise nicht nachvollziehen könne, was Du mit Deiner Musik emotional sagen willst, wenn Du es spielerisch nicht umsetzen kannst. Für mich ist es beim Songwriting wichtig, daß ich auch in der Lage bin, das, was ich ausdrücken möchte, auch umsetzen zu könne, daß ich alles spielen kann, was ich dazu benötige. Man benutzt dann nicht mehr nur drei Akkorde innerhalb eines Songs, weil es die einzigen sind, die man beherrscht, sondern man hat sich ganz speziell für diese drei Akkorde entschieden. Man könnte 341 Akkorde in verschiedenen Variationen spielen, aber man hat genau diese drei Akkorde ausgewählt, um etwas Bestimmtes damit zu sagen.

Auch das ist ja eine Parallele zu anderen Kunstform. Betrachtet man beispielsweise die wirklich guten modernen Künstler und ihre abstrakten Werke, so sind das alles Leute, die zuerst gelernt haben, wie sie Realität technisch perfekt abbilden könne. Erst dann haben sie begonnen, ihre ganz eigene Bildsprache zu entwickeln, haben sich wieder ganz gezielt von der realistischen Abbildung entfernt und ihren Stil und ihre Stilmittel entsprechend reduziert…

Genau. In dieser Hinsicht schätze ich Picasso sehr, denn er hat das Malen so gelernt, wie man es meiner Meinung nach lernen sollte. Zuerst erlernt man die Technik. Man lernt, alles auszudrücken, was man ausdrücken möchte, erst dann kann man wirklich wählen, welcher Ausdrucksformen man sich bedient. DANN kann man auch etwas ganz Simples machen, denn das geschieht dann gezielt und bewußt.

Und um wieder auf Eure Musik zurückzukommen: Ohne all diese spielerischen Fertigkeiten wäre es auch kaum möglich, so komplexe Konzepte umzusetzen, wie sie auf Euren Alben zu finden sind. The Perfect Element I ist ja erneut ein Konzept-Album…

Richtig. Es ist sogar nur der erste Teil von zweien. Ich mag das Medium des Konzeptes sehr gern. Wenn man ein Album aufnimmt, ein Buch schreibt oder ein Gemälde malt, gibt man ein Statement ab: Das bin ich und das mache ich! Und man weiß genau, daß Leute diesem Werk Aufmerksamkeit schenken und sich damit auseinandersetzen. Man sollte sich daher darüber im Klaren sein, was man ausdrücken möchte und dieses Medium dazu nutzen, etwas mitzuteilen, was einem selbst wichtig ist und auch anderen wichtig sein könnte. Wenn ich nun mit diesem Anspruch ans Songwriting herangehe, gerate ich in der Regel an Themen, die einfach zu groß und zu umfassend sind, um sie in einem einzigen Song abzuhandeln. Das Medium des Konzeptes ist für mich als Texter daher sehr attraktiv. Ich bin auch sehr stark von Musicals und anderen Konzept-Alben beeinflußt, mit denen ich aufgewachsen bin, denn ohne diese hätte ich ja nie von der Möglichkeit erfahren, so etwas zu machen. Für mich war das in all den Jahren sehr wichtig und mittlerweile ist es für mich ganz natürlich geworden, Konzeptalben zu schreiben. Es ist mittlerweile wohl eine Art Markenzeichen von uns geworden! (lacht) Es wäre wohl recht schwer, plötzlich einfach nur mit einem ganz normalen Album anzukommen. Viele würde wohl sagen: Was macht ihr? Das ist kein PAIN OF SALVATION-Album! (lacht). Aber vielleicht machen wir es trotzdem um nicht zu stagnieren, keine Ahnung. Im Moment ist es für uns aber eine ganz natürliche Sache.

Leider habe ich noch keine Texte zur Hand. Wovon handelt The Perfect Element?

TheAuf diesem Album beschäftige ich mich im Grunde wieder mit den gleichen Themen wie bisher, die Geschichte ist aber eine andere, und es stecken ja immer mehrere Themenkomplexe in einem Konzept. Ähnlich wie auf Entropia haben wir es mit Menschen zu tun, die sich außerhalb der Gesellschaft bewegen. Die ersten beiden Songs stellen die Hauptcharaktere vor, einen Mann und eine Frau. Wir geben den Charakteren unserer Alben niemals Namen, das wäre irgendwie merkwürdig. Auf jeden Fall ist sein Leben ist ein einziger Sumpf aus Drogen und Gewalt geworden, die Aggression ist seine Sprache, der einzige Weg, wie er sich mitteilen kann. Die weibliche Hautperson hingegen hat sich eher in sich selbst zurückgezogen. In gewisser Hinsicht zeichnet das auch gesellschaftliche Geschlechterrollen nach, die sehr häufig anzutreffen sind: Männer neigen bei destruktivem Verhalten eher dazu, nach außen zu agieren, Frauen eher nach innen. Das ist meiner Ansicht nach ein sehr stark sozial geprägtes Verhalten, es hat weniger biologische Gründe, sondern gesellschaftliche. Sie ist einst mißbraucht worden, und auch ihr Verhalten ist im Prinzip sehr zerstörerisch, aber es richtet sich eben nach innen. Der erste Song schildert die Begegnung dieser beiden zerbrochenen Welten. Es ist anfangs natürlich auch eine sehr zerstörerische Beziehung, sie klammern sich in ihrer Verzweiflung sehr stark aneinander. Aber es entwickelt sich schließlich zu weit mehr, zu reiner Liebe. Der erste der beiden Teile handelt überwiegend von ihm: Die Frau vermittelt ihm, daß er so nicht weiter machen kann, daß er sein Leben langsamer angehen muß. Doch wenn er das macht, holt ihn alles ein, was er zurückgelassen hat und sucht ihn heim. Er muß sich aber der Vergangenheit und letztlich sich selbst stellen. Genau das bricht dann am Ende über ihn hinein und das Album endet in der Situation, in der er von seiner Vergangenheit überwältigt wird. Die Fortsetzung wird sich mehr mit der weiblichen Hauptperson auseinandersetzen, gleichzeitig aber diese individuelle Schicksals-Ebene auf eine gesellschaftliche Ebene bringen und untersuchen, was die Symptome auf der individuellen Ebene mit denen der Gesellschaft zu tun haben.

Die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft scheint immer Kern deiner Konzepte zu sein…

Ja. Als Individuum versucht man immer, sich in Beziehung zur Gesellschaft zu stellen, von der man Teil ist. Das ist eine der wichtigsten Beziehungen im Leben eines jeden Menschen, denn Gesellschaft und soziale Strukturen formen dich sehr als Individuum. Und man versucht sein ganzes Leben herauszufinden, was da eigentlich geschieht und was man für eine Rolle spielt. Es ist auch sehr wichtig, daß man sich als Individuum versteht, denn das Bild, das wir von der Gesellschaft vermittelt bekommen, ist nicht unser eigenes. Wir kriegen bestimmte Bilder von anderen Menschen, durch`s Fernsehen, durch die Werbung, durch Filme und Bücher vermittelt und jeder dieser Aspekte prägt uns sowohl als Individuum an sich als auch als Individuum innerhalb der Gesellschaft. Ich schätze, irgendwie versuche ich selbst herauszufinden, wo ich stehe. Und ich versuche wohl auch, die Leute dazu zu bringen, selbst darüber nachzudenken und eine kritische Haltung gegenüber all dem einzunehmen, was einem so von außen vermittelt wird. Dieses Album handelt von zerbrochenen Existenzen, von Obdachlosen und Kriminellen. Oft werden sie als Menschen betrachtet, die gesellschaftlich weniger wert sind. Eine Person, die sich nicht voll und ganz in die Gesellschaft integriert, wird als Gefahr verstanden. Aber wir stellen uns nie die Frage, in welcher Hinsicht die Gesellschaft für sie eine Gefahr ist! Es geht nur darum, das Problem zu eliminieren, aber nicht die Ursache des Problems. Leider. Was ich sagen möchte: Jeder hat von anfangs eine Chance. Wird diese Chance aus irgendeinem Grunde nicht genutzt, dann könnte das auch an der Gesellschaft liegen und nicht nur an diesem Menschen selbst. Man sollte nicht einfach sagen: Er hatte seine Chance und ist selbst schuld, daß er sie nicht genutzt hat. Das ist aber wohl die gängigste Betrachtungsweise. Für mich ist das schrecklich.

Diese Erfahrung mußte ich als Sozialpädagoge auch machen: Die Gesellschaft neigt dazu, Individuen als Objekte, als Probleme zu betrachten, während das Einzelschicksal, der Mensch hinter dem Problem gar nicht mehr wahrgenommen wird.

Genau. Aber wenn wir das nicht tun, dann untergraben wir alle Aspekte der Demokratie. Das ist genau das, was mit bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, zum Beispiel den Farbigen oder den Juden geschehen ist: Man hat sie nicht als Individuen betrachtet und sie nicht anderen gleichgestellt. Das ist immer sehr gefährlich. In den USA ist die Wahlbeteiligung extrem niedrig, insbesondere in Gemeinden mit einem hohen Anteil Farbiger. Das ist doch wirklich ein Hinweis darauf, daß die Demokratie nicht funktioniert! Man sollte sich fragen, was eigentlich das Problem ist und wie man es lösen kann. Und nicht die Menschen selbst zum Problem erklären und darüber nachdenken, wie man diese lösen kann.

Würde man wirklich die Augen aufmachen und diese Gedanken zulassen, müßte man auch seine Meinung und Einstellung zu vielen Aspekten der Gesellschaft revidieren und eingestehen, daß man falsch lag. Und das fällt nicht leicht…

Richtig! Und da wäre ja auch dieses nagende Gefühl: Heißt das, daß ICH verantwortlich bin für all das? Und dann beschließt man, nicht darüber nachzudenken, denn man hat ja genug andere Sorgen. Das ist das Problem und darum wird es hauptsächlich in Teil 2 gehen…

Gibt es bereits einen Zeitplan, wann der zweite Teil produziert und veröffentlicht werden wird?

Nein. Wir hatten mit diesem Album so viel zu tun und müssen jetzt erst mal abwarten, was damit passiert. Es war schwer genug, alleine dafür einen Zeitplan zu erstellen, mit all den Touren und so weiter. Man weiß nie genau, wie lange dies oder jenes dauert und wann wir in der Lage sein werden, wieder zu proben und neues Material zu schreiben. Ich hoffe, daß wir so schnell wer möglich mit dem zweiten Teil beginnen können. Denn ich mochte die Bands noch nie, die vier Jahre brauchen, bis sie ein neues Album herausbringen, das ärgert mich. Denn NICHTS ist SO gut, daß es das wert ist! Nach vier Jahren erwartet man ein DERART gutes Album, daß man fast immer enttäuscht ist. Wenn ein Album nach einem Jahr herauskommt, dann ist die Reaktion hingegen: Oh, jetzt schon? Das ist gut! Und man hat noch nicht so sehr die Nase voll vom letzten Album. Ich denke aber, unsere Alben bleiben auch durchaus länger als ein Jahr interessant, aber als Fan möchte man doch immer neues Material.

Habt Ihr eigentlich darüber nachgedacht, auch beide Teile auf einmal und als Doppel-CD zu veröffentlichen?

Äh… nun, ich habe diese Idee in der Tat vorgeschlagen, andererseits hätte das etwas mehr Zeit gebraucht. Es stand eigentlich nicht wirklich zur Debatte. Die Idee war da, aber es war nicht wirklich möglich.

Nun noch eine abschließende Frage: Du hast eingangs erwähnt, daß Ihr ein Video zu `Ashes` gedreht habt. Was ist es für Dich für ein Gefühl, lediglich einen kleinen Teil des Konzeptes zwecks filmischer Visualisierung herauspicken zu müssen und nicht die komplette Story umsetzen zu können?

Das war tatsächlich ein großes Problem. Es war eben so, daß dieser Song einer der Teile des Albums ist, aus denen man filmisch etwas machen kann. Es wäre allerdings unmöglich gewesen, sich innerhalb nur eines einzigen Videos auf das komplette Konzept zu beziehen. Wir haben uns also bei diesem Video auf den einzelnen Text konzentriert, aber die Charaktere des Albums sind dabei und in diesem Sinne haben wir uns durchaus des Konzeptes angenommen und es berücksichtigt. Meine Hoffnung ist, daß dieses Video für sich selbst stehen kann und aus sich heraus etwas ausdrücken kann und nicht nur als Teil eines großen Ganzen wahrgenommen wird, sondern auch als geschlossene Einheit. Ich hoffe, das ist uns gelungen.

Ich bin sehr gespannt, leider habe ich ja – wie schon gesagt – nur die Promo ohne Texte und Multimediapart….

Ja, das ist immer ein Problem, vor allem bei den Texten, die ja für uns recht wichtig sind. Viele Rezensenten haben mich angemailt und mich gebeten, ihnen die Texte zukommen zu lassen, denn sie kämen ohne nicht ganz klar. Das Beste wäre wohl, die fertigen und vollständigen CDs als Promos zu verschicken.

Naja, immerhin bin ich so gezwungen, mir die CD schnellstmöglich zu kaufen und unterstütze Euch damit finanziell…

Ja, das ist natürlich großartig, haha!

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