Mein Gott, ich gebe es zu: Wie hat mich dieses Album anfangs genervt! Vor über 20 Jahren, zu Zeiten von Rainmaker und Untold We Are, hatte ich durchaus meine THE FLOWER KINGS-Phase. Ihre Musik lief regelmäßig in meinem Anlageturm (ja, damals stellte man sich tatsächlich Geräte-Ungetüme ins Zimmer, je größer die Box, desto besser der Klang – so dachte man zumindest).
Dann verlor ich die Band aus den Augen. Und jetzt? Das erste Wiederhören fühlte sich an wie ein Date mit einer Jugendliebe, die man ewig nicht gesehen hat: „Ist die anstrengend! Was fand ich damals an ihr?“ Und doch – am Ende landet man wieder miteinander im Bett. Ihr merkt schon jetzt: Diese Review wird ausufern. Denn ich muss erklären, was diese Musik mit mir gemacht hat. Und das ist nicht einfach.
Spielen THE FLOWER KINGS „Regressive Rock“?
Zuerst war da der Gedanke, dass man die Schweden streng genommen nicht als Progressive Rock bezeichnen dürfte. Es ist Regressive Rock, mit einer fast schon trotzig altmodischen Haltung: Keine andere Band klingt so sehr wie ein Überbleibsel der späten 60er und frühen 70er – aus einer Zeit, in der man tonnenschwere Soundanlagen auf die Bühne wuchtete und Keyboards spielte, die mehr wogen als ein SUV.
Es ist, als hätte man eine Band in Schlaghosen, Rüschenhemd und Plateauschuhen samt orientalisch besticktem Gitarrengurt eingefroren – und 55 Jahre später wieder aufgetaut. Nur hat sie gar nicht gemerkt, dass sich die Welt inzwischen weitergedreht hat. Diese Musik ist eine vertonte Birkenstocksandale: vertraut, ein bisschen peinlich und ein bisschen zu bequem. Bandkopf Roine Stolt hat seine Söhne – kein Witz – Johan Sebastian und Peter Gabriel genannt. Wer wohl Pate für diese Namen stand?
Und all diese Referenzen! GENESIS, YES, EMERSON, LAKE & PALMER, PINK FLOYD – schnell stellte sich mir die Frage: Was ist denn eigentlich das Eigene an dieser Band? Ist das nicht purer Epigonenkult? Ein wildes Zitatpuzzle, zusammengeklaut von allen Seiten? Und liebe FLOWER KINGS-Fans – beruhigt euch. Schickt mir bitte keine Drohbriefe oder seitenlangen Musikanalysen, in denen Begriffe wie lydische Subdominante und symmetrische Modulation vorkommen. Ich hab’s ja selbst gemerkt: So einfach ist es dann doch nicht. Da ist ein Mehr. Etwas, das man durchaus als FLOWER-KINGS-Sound bezeichnen kann.
Liebe in Moll und Dur – das Konzept hinter „Love“
Zu den harten Fakten: Love ist bereits das 17. Studioalbum der Schweden – eine durchaus stolze Zahl. Ihr erstes Konzert spielten sie am 20. August 1994, wie das Presseinfo nicht ohne Stolz betont.
Die Rumpfmannschaft um Bandchef und Hauptsongwriter Roine Stolt (Gesang, Gitarren – und, haha, Ukulele), seinen Bruder Michael Stolt (Bass, Moog-Bass, Gesang) sowie Hans Fröberg (zweite Gesangs- und Gitarrenstimme) ist nach wie vor intakt. Das allein zeigt schon die Beharrlichkeit einer Band, die seit über 31 Jahren unbeirrt die Fahne des Retroprog hochhält. Ergänzt wird das Ensemble seit rund zehn Jahren von Lalle Larsson, einem Jazzmusiker mit einem Hang zu Altklavier, Hammond und gefühlt 300 Keyboard-Varianten – sowie vom Schlagzeuger Mirko DeMaio (schöner Name übrigens).
Love ist ein loses Konzeptalbum, das die verschiedenen Facetten der Liebe auslotet – vom Hochgefühl des Verliebtseins bis hin zu Trauer und Verlust. Ein schweres Thema, ohne Zweifel. In drei Teile unterteilt, überwiegen die ruhigen, schwelgerischen Momente: liedhafte, mehrstimmige Harmonien dominieren den Klang. Doch dann gibt es die vielen Soli, die von beinahe jedem Instrument beigesteuert werden – eine Vielzahl, die selbst verträumte und schwelgerische Passagen mit einem soliden, manchmal überraschenden Jazzfundament anreichert. Auch thematisch öffnet sich das Album gelegentlich: „The Rubber“ beschäftigt sich mit dem Klimawandel, „Considerations“ mit dem aufkeimenden Populismus, der auch in Schweden spürbar ist.
Man könnte diese Jazzkomponente im Sound der FLOWER KINGS überhören, aber sie ist entscheidend. Eine rein instrumentale Fassung dieses Albums wäre ebenso vorstellbar – eine Idee, die sich gut für eine separate Bonus-Veröffentlichung anbieten würde. Und natürlich sind alle Musiker Ausnahmekönner und große Individualisten: auch wenn sie sich dem Songwriting von Roine Stolt unterordnen müssen. Der Sound ist so transparent und klar, als wäre Gandalf persönlich bei der Aufnahme durch das Studio gelaufen und hätte mit seinem Zauberstab jedes Instrument angebingt , um jedes einzelne Detail hervorzuzaubern. Die Stimme von Roine Stolt erinnert oft an Jon Anderson, aber ist tiefer und rauer, sodass sie etwas geerdeter und weniger entrückt wirkt: meine Güte, ist der Mann auch schon 68 Jahre alt?
STOP! Sind THE FLOWER KINGS wirklich nur Epigonen?
Doch wäre es nicht zu einfach, THE FLOWER KINGS bloß als Epigonen abzutun? Fragt man danach, was ihr Eigenes ist, dann liegt es vielleicht in der Art, wie sie ihre Vorbilder in eine leichtere, verspieltere Tonalität übersetzen. Das melodische, fast erzählerische Gitarrenspiel von Roine Stolt besitzt eine eigene Qualität – auch wenn die Idee, die Gitarre wie eine Singstimme einzusetzen, bereits bei David Gilmour oder Steve Howe angelegt war. Stolt aber treibt dieses Spiel auf die Spitze, lässt die Gitarre in kürzeren Abständen als Gilmour sich artikulieren, verleiht ihr mitunter einen raueren Klang. Manchmal faucht sie auch und tönt ruppig-bluesig.
Lalle Larsson steuert perlende Pianoläufe bei, die wie kleine, improvisierte Geschichten wirken. Auch der Bass erhält Raum: Er bewegt sich oft gegenläufig zur Gitarre und wird so selbst zum melodietragenden Element. Diese stilistische Offenheit prägt viele Stücke – etwa wenn sich in „The Rubble“ verspielte Latino-Percussion einmischt, aufwendige Chorsamples aufschichten und Gitarrensoli aufblitzen, die nicht nur an Gilmours Eleganz, sondern auch an das bluesige Spiel eines JIMI HENDRIX oder RORY GALLAGHER erinnern. Versatzstücke von Funk, Latino-Jazz oder sogar folkige Klänge, auch eher in den 60ern beheimatet, finden sich immer wieder in ihrer Musik. Sehr subtil beigemischt, sodass man es tatsächlich überhören könnte. Es ist ein buntes Panoptikum.
Überhaupt wirken The Flower Kings in ihren instrumentalen Passagen oft weniger wie eine klassische Retro-Prog-Band, sondern eher wie eine Fusion-Jazz-Formation mit den Mitteln des Prog. Warum mit den Mitteln des Prog? Zwar gibt es zahlreiche Soli – von Gitarre, Bass und Keyboard –, doch bleiben sie stets der Harmonie verpflichtet, wirken selten wild improvisiert oder entfesselt. Selbst wenn die Band überraschend Rhythmus und Tonart wechselt, wenn das Piano in rasenden Läufen aufblüht und der Bass seine eigene melodische Idee verfolgt, bricht die Musik nie völlig aus. Der spielerische Wahnwitz ist streng genommen keiner, sondern sorgfältig inszeniert und in Fesseln gelegt: ein virtuoses, aber kontrolliertes Spiel mit Klangfarben und Stimmungen.
„Love“ hält durchaus Überraschungen bereit
Bereits der Opener „We Claim the Moon“ überrascht: Seit wann bitte eröffnen die Frickelkönige ein Album mit einem schnöden Viervierteltakt? Es ist eine geradeaus rockende Nummer mit treibendem Riff – fast Hardrock –, die das Hochgefühl der Liebe feiert. Die selbstbewusste Forderung, den Mond zu beanspruchen, gehört natürlich zur Gefühlslogik Verliebter. Die Texte pendeln zwischen etwas generischen Metaphern – typisch für viele Prog-Bands – und gelungenen, stimmigen Beobachtungen. Auch hier zeigt sich wieder das Spannungsfeld zwischen Progressive und Regressive. Der Song erinnert an DEEP PURPLE oder gar ATOMIC ROOSTER: und ist der härteste Track des Albums.
„The Elder“ beginnt mit Glöckchenklang und mündet in eine schwelgende Melodie, die an frühe YES erinnert. „Du findest deinen Weg, was immer auch kommen mag“, singen Stolt und Fröberg im Duett. Schon immer haftete ihrer Musik etwas Versöhnlich-Hippieskes an – nicht umsonst trägt die Band die Blume im Namen. Schöne Satzgesänge, sanft fließende Keyboard-Harmonien.
Gerade in solchen Momenten aber müssen sie aufpassen, nicht ins Seichte abzugleiten, sich nicht zu sehr im Wohlklang zu verlieren. Die Melodien türmen sich feierlich auf, die Gitarre klagt in harmonisch fließenden Soli, perlende Tasten treiben den Song weiter. Und dann diese Zeile: „Wir werden das Licht berühren, wir werden niemals sterben!“ Maximal große Gesten – aber aufgefangen von der Sanftheit, die dem FLOWER-KINGS-Sound seit jeher innewohnt. Opulenz und Harmoniefluss sind hier kein Widerspruch. Natürlich finden sich auch in diesem Song wieder flinke Keyboard-Soli, die an glitzernde Akkordwellen eines HERBIE HANCOCK oder JOE ZAWINUL gemahnen: der Jazz ist hier mehr als nur Kulisse. Er ist dem FLOWER-KINGS-Sound eingeschrieben.
Elegische Momente und Klage über drohenden Verlust
Die schmerzhafte Ballade „How Can You Leave Us Now?“ markiert einen Höhepunkt des Albums – eine Klage über Verlust, getragen von innigem Satzgesang. Larssons melodieverliebtes Piano eröffnet, ein Glöckchen bingt (ja, man darf das auch kitschig finden!), der Bass windet sich sanft um die mehrstimmigen Harmonien.
„Wellen der Liebe, die du einst gesendet hast / Erinnerungen an kostbare Momente / Worte der Liebe wirst du wieder hören / Um die Wölfe von deiner Tür fernzuhalten / Gehalten zwischen Feuer und Wasser / In Sicherheit – bis alles vorüber ist / Haltet einander fest!“ Das ist stimmungsvoll eingefangen – und wiegt zentnerschwer. Die Welt altert, das Dunkel rückt näher: „Wir suchen nur noch einen Ort, an dem wir bleiben können / Wie kannst du uns jetzt verlassen?“
Es bleibt in der Schwebe, ob hier mit Gott gesprochen wird – oder mit einem geliebten Menschen.
Ähnlich funktioniert auch „Burning Both Edges“ – etwas lebendiger und deutlich an PINK FLOYD geschult, im Mittelteil durchzogen von arabesken Harmonien. Doch auch hier liegt ein melancholischer Grundton über allem.
In „The Rubble“ trifft – wie bereits angedeutet – latinogeschwängerte Percussion auf eine schwelgerische, fast feierlich anmutende Gitarren- und Keyboardmelodie. Doch unter der Oberfläche brodelt es: Der Song trägt eine unterschwellige Bedrohung in sich, einen doppelten Boden. „Walking into rubble / Getting into trouble“ – das klingt nach Stolpern, nach Gefahr unter dem schönen Klangteppich. Und genau dieses Spiel mit Brüchen erinnert an Tarkus von EMERSON, LAKE & PALMER: Auch dort ziehen sich tippelnde, taumelnde Rhythmen durch die Stücke, die zwischen martialischem Ernst und ironischer Grandezza schwanken.
THE FLOWER KINGS servieren folkige, fast liedhafte Klänge
Folkige, fast liedhafte Harmonien eröffnen „The Promise“ – ist da im Hintergrund sogar ein Schifferklavier zu hören? Die eher schlichten Gesangslinien erinnern an Irish Folk, werden aber kunstvoll verflochten durch den mehrstimmigen Gesang von Stolt und Fröberg. Fast könnte man von einem Kunstlied sprechen, so fein sind die Stimmen aufeinander abgestimmt. Nahtlos geht der Song in das hymnische „Love Is“ über – eine Art emotionales Zentrum des Albums. „Liebe ist wahr, aber sie kann zerbrechen… Die Liebe ist eine Rose, sie ist Gift, sie ist weise und für Idioten… Love is for everyone“ – große Gefühle, nur knapp am Pathoskitsch vorbeischrammend. Auch hier gelingt den FLOWER KINGS das Kunststück, Einfachheit und Überhöhung miteinander zu verweben.
Das abschließende „Considerations“ ist eine monumentale Beschwörung der Liebe in düsteren Zeiten – über zehn Minuten lang, mit bombastischen PINK-FLOYD-Chören und schwelgerischen Gitarren- und Keyboard-Soli. Der Song beginnt mit Lasses dunkler, beinahe brütender Stimmfarbe: „Shine on, shine on, Love!“ Auch hier zeigt sich wieder das Hippieske, das die Schweden seit jeher auszeichnet – und das in diesem Kontext eine eigene Qualität entfaltet. Denn wo das Vorbild Roger Waters oft ins Zynische abbiegt, neuerdings gar in Verschwörungsgeblubber, bleiben THE FLOWER KINGS in Woodstock – mit allem Pathos, aber auch mit aller Aufrichtigkeit.
Am Ende bin ich so versöhnt, dass ich fast geneigt bin, mir dieses Doppelalbum auf Vinyl zu bestellen. Man weiß dann ja auch wieder, warum eine Jugendliebe eben doch auch eine Liebe war. Das Liedhafte, Sanfte im Kontrast zu kontrolliertem Jazz und der trotzigen Abneigung gegen den Zeitgeist – das imponiert mir. THE FLOWER KINGS bleiben eine eigenwillige Band, Roine Stolt ein sturer Kopf. Gut so. Man kann das durchaus honorieren. Nervt das? Ja, manchmal. Aber es gibt Momente, in denen man sich gerne nerven lässt.
Veröffentlichungstermin: 02.05.2025
Spielzeit: 75:00
Line-Up:
Mirko DeMaio: Drums & Percussion
Lalle Larson: Grand Piano, Rhodes Piano, Hammond B3 & Synthesizers
Hans Fröberg: Vocals, Guitar
Michael Stolt: Bass, Moog Bass, Vocals
Roine Stolt: Vocals, Electric & Acoustic 6 & 12 String Guitars, Ukulele
With:
Hasse Bruniusson: Percussion
Jannica Lund: Vocals
Aliaksandr Yasinski: Accordion
Label: Inside Out Records
Webseite: https://www.roinestolt.com/
THE FLOWER KINGS „LOVE“ Tracklist:
1. We Claim The Moon
2. The Elder
3. How Can You Leave Us Now!? (Video bei Youtube)
4. World Spinning
5. Burning Both Edges (Video bei Youtube)
6. The Rubble
7. Kaiser Razor
8. The Phoenix
9. The Promise
10. Love Is
11. Walls Of Shame
12. Considerations