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ROLO TOMASSI: Where Myth Becomes Memory

Wenn die Karriere einer Band wie ein wunderbarer Coming Of Age-Film ist: „Where Myth Becomes Memory“ bringt ROLO TOMASSI endlich an die Spitze des modernen Progressive Post Metal.

Es wäre die passende Gelegenheit, ein paar Floskeln auszugraben. Über Entwicklung und Wachstum, darüber nicht älter, sondern besser zu werden, und was man sich sonst selbst so einredet, wenn wieder einmal ein Geburtstag vor der Türe steht. Ich weiß, wovon ich rede, ich werde heuer 40. Aber das wäre eigentlich eine Beleidigung für das, was ROLO TOMASSI geschafft haben. Ihre Neuerfindung anno 2015 mit dem intensiven Werk „Grievances“ und die Perfektionierung des neuen Stils mit „Time Will Die And Love Will Bury It“ war ein ungeahnter Evolutionsschub für ROLO TOMASSI. Und nun wird der nächste Evolutionsboost in Aussicht gestellt. Oder doch nicht?

„Where Myth Becomes Memory“ ist für dieses Stadium, in dem sich die britische Band befindet, vielleicht der perfekte Titel. Statt ungestümen, jugendlichem Wahnsinn, der den ersten Alben der damals noch blutjungen Band inne war, ist eine gestandene Band zu hören, die Hysterie gegen tiefe Gefühle getauscht hat und diese klischeefrei ausdrücken kann. Egal, ob es sich um Melancholie oder Wut handelt. Da könnte man fast den aktuellen Entwicklungssprung überhören: ROLO TOMASSI haben ihr Songwriting verbessert und komprimiert, sodass „Where Myth Becomes Memory“ gleichermaßen ins Schwarze trifft, aber neben Tiefe und Komplexität auch Eingängigkeit bietet.

ROLO TOMASSI entwickeln sich konsequent weiter: „Where Myth Becomes Memory“ sieht das große Ganze, aber auch die einzelnen Songs.

Das könnte natürlich total erzwungen wirken, aber ROLO TOMASSI haben sich hörbar treiben lassen. Vielleicht ist auch ihr großer Vorteil, dass sie keiner gewaltigen Businessmaschine angehören, sondern immer noch im Herzen DIY sind. Wenn mit „Almost Always“ die ersten Töne des Albums erklingen, weiß das Publikum schon: „Was soll in den nächsten 50 Minuten bitteschön schiefgehen?“ Eben. Und deshalb gibt es sogleich den ersten emotionalen Einschlag. Mit der wundervollen Klavierarbeit von James Spence, baut sich der Song auf und ist näher an poppiger Neoklassik als an Post Rock. Seine Schwester Eva singt zart und unglaublich liebevoll dazu und eigentlich darf dieses Stück niemals enden.

ROLO TOMASSI haben ihre Wut aber dennoch parat. In besserer Interaktion mit der Ruhe, aber immer noch klar Metal. Um genauer zu sein: ROLO TOMASSI liegen anno 2022 irgendwo zwischen modernem Progressive Metal und Post Metal. „Where Myth Becomes Memory“ lässt Mathcore, der bisher in der DNA der Band war, eigentlich schon gar nicht mehr erahnen. Und auch wenn ich die epische Seite von ROLO TOMASSI unbeschreiblich gut finde, hätten ein, zwei „mathy“-Songs dem Album nicht geschadet. Das ist aber auch das einzige, was diesem Album fehlt. Denn wie gesagt, die Balance hielt das Quintett nie besser.

Vom Mathcore ist auf „Where Myth Becomes Memory“ nichts mehr zu hören, heavy und fordernd sind ROLO TOMASSI aber noch immer.

„Cloaked“, das mit seiner Mischung aus Wut und Melodie und seiner Polarität noch gut auf dem letzten Album platziert gewesen wäre, wirkt trotz seiner Klasse noch recht vertraut, dann werden ROLO TOMASSI immer mutiger: „Drip“ bricht nach seinem noisy Intro aus und definiert die Grenzen zwischen Harmonie und Chaos neu. „Prescience“ hat vor seinem ruhigen, dunklen Bruch in der Mitte einen DARK TRANQUILLITY-Moment, endet mit erschöpfend-schleppender Boshaftigkeit. „To Resist Forgetting“ erlebt große Dynamiksprünge und hat einen exzellenten, treibenden Spannungsaufbau. Und schließlich ist da „Mutual Ruin“, ein Stück, auf dem CONVERGE mit brillant-simplen Riff samt D-Beat zitiert werden und das sich langsam und sehr natürlich in eine ruhige, melancholische Richtung entwickelt. Es mag sich übertrieben anhören, aber Songwriting geht in diesem Genre nicht besser. Punkt.

Und dann ist da die leise, dezente Seite von „Where Myth Becomes Memory“: „Closer“ ist ein wunderschönes, ruhiges und eingängiges Lied, das im Albumkontext beruhigt und dessen Atmosphäre die Rezipienten einsaugt und beglückt. Mitten im Getümmel steht das Klavierstück „Stumbling“, das beinahe droht unterzugehen, aber letzten Endes doch Akzente setzt und sich zu einem versteckten Highlight entwickelt. „To Resist Forgetting“ ist der perfekte Schluss für das Album: Es macht sich ein Gefühl des Abschieds bemerkbar, mit schwebenden Gitarren und ebensolchem Gesang verflüchtigt sich das Album so bewusst, wie es begonnen hat.

„Where Myth Becomes Memory“ hat cineastische Qualitäten: ROLO TOMASSI balancieren das Gefühlsspektrum souverän aus.

ROLO TOMASSI schaffen es ein großes Ganzes mit cineastischer Dramaturgie zu bieten, als auch fordernde und prägnante Songs. Ebenso wissen sie mittlerweile ihre technischen Fähigkeiten im Zaum zu halten und in den Dienst der Kompositionen zu stellen – wenn das kein Zeichen für eine wahrlich gereifte Band ist. Die Geschwister Eva Korman und James Spence trauen sich außerdem mehr zu: Eva singt so klar und schön wie nie zuvor und schreit gleichzeitig voluminöser als früher – ihre Stimme wird immer besser. Und James Spence zeigt ein Händchen für große Melodien auf dem Piano und leitet die Stücke mit seinem wundervollen Harmonieverständnis.

„Where Myth Becomes Memory“ mag subjektiv nicht ganz mit „Time Will Die And Love Will Bury It“ mithalten können, aber es ist noch immer zigmal besser als alles, was im Post Metal und modernen Progressive Metal in den letzten Jahren veröffentlicht wurde. ROLO TOMASSI sind mittlerweile furchtlose und visionäre Songschreiber und scheuen nicht davor zurück, ganz groß zu denken und dieses Denken auch real werden zu lassen. Wenn die Karriere einer Band wie ein glücklich machender Coming Of Age-Film ist, braucht eben es keine Floskeln mehr: ROLO TOMASSI wird auch im kommenden Zyklus niemand aufhalten.

Wertung: 9 von 10 Happy Ends

VÖ: 4. Februar 2022

Spielzeit: 48:19

Line-Up:
Eva Kormann – Vocals
James Spence – Keyboards, Vocals
Chris Cayford – Guitar
Nathan Fairweather – Bass
Al Pott – Drums

Label: MNRK Heavy

ROLO TOMASSI „Where Myth Becomes Memory“ Tracklist:

1. Almost Always
2. Cloaked (Official Video bei Youtube)
3. Mutual Ruin
4. Labyrinthine
5. Closer (Official Video bei Youtube)
6. Drip (Official Video bei Youtube)
7. Prescience
8. Stumbling
9. To Resist Forgetting
10. The End Of Eternity

Mehr im Netz:

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