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RAY WILSON: The Weight of Man

Sänger Ray Wilson wird immer wieder an seiner Vergangenheit mit STILTSKIN und insbesondere GENESIS gemessen. Was Schade ist, denn mit seinen Solo-Alben hat er sich längst eine eigene Nische geschaffen, in der er erfolgreich Mainstream-Rock mit Singer-Songwriter und Progressive Rock verbindet. Auch das neue Album „The Weight of Man“ bietet Songwriting auf sehr hohem Niveau: stimmungsvoll, melancholisch, schön. Ein Tipp für alle aufgeschlossenen Rock-Fans.

Es hätte in der Karriere des RAY WILSON zwei Ereignisse geben können oder müssen, die seine Karriere in den Orbit hätten katapultieren können: Mit der Grunge-Pop-Band STILTSKIN hatte er 1994 diesen einen Supermega-Hit, befeuert durch eine Jeans-Werbung. Der Song wurde gut 30 Millionen mal verkauft. Und dann wurde er kurz darauf Sänger von GENESIS, der dritte nach PETER GABRIEL und Phil Collins, eine der größten Rockbands der Welt. Ich wage zu behaupten, beides hat ihm eher geschadet. Denn er konnte die daraus resultierenden hohen Erwartungen nie erfüllen.

Seitdem trägt RAY WILSON mehrere Stigmata mit sich herum. Für GENESIS-Fans ist er der Typ, der die Band komplett der Belanglosigkeit preisgab: Ja sorry, „Calling All Stations“ (1997) war ungefähr so aufregend wie eine 2stündige Wartezeit an einem abgefuckten Bahnhof in der Brandenburger Provinz, wo nur alle drei Monate mal ein Zug hält. Alle Kritiker zeigten mit dem Daumen nach unten. Wofür man einem damals noch jungen Musiker, der selbst auf der Suche war, wohl kaum einen Vorwurf machen kann. Er durfte plötzlich mit seinen Idolen musizieren, es hat nicht funktioniert. Schwamm drüber. Ob er sich selbst einen Gefallen damit tut, dass seine aktuellen Live-Performances aus vielen Genesis-Klassikern bestehen, darüber kann man herrlich diskutieren.

Und für Musikkritiker ist er der Sänger, der eben mit STILTSKIN ein One-Hit-Wonder hatte, es dann mit GENESIS verkackte, dem Niveau der Rock-Dinosaurier nicht gewachsen war. Von vielen Musikjournalisten werden Wilsons Alben mit Missachtung gestraft. Was Schade ist. Denn er hat sich – nicht zu Unrecht – eine treue Fanschar erspielt. Die ihn gerade dafür schätzt, was er jenseits seiner GENESIS-Vergangenheit abliefert. Und ganz ehrlich, ich zähle mich dazu. Alben wie „Propaganda Man“ von 2008 finden immer wieder in meinen Player. In ganz speziellen Momenten, in denen ich in melancholischer Verfassung bin, Trost brauche. Trost, den die Songs von RAY WILSON zu vermitteln wissen. Stimmung und Melancholie, das sind seine großen Stärken.

Guter, ausgefeilter Sound, der durchaus eigenständig ist

Nun hat RAY WILSON sein mittlerweile siebtes Solo-Album eingespielt, das erste seit fünf Jahren. Von der deutschen Musikpresse fast unbemerkt. Erschienen ist es bereits im August 2021, aber ich rezensiere es gern. Weil es gut ist. Weil es mich erreicht, bewegt. Weil ich der Meinung bin, dass dieses Album viele Hörer verdient hat. Das neue Album: „The Weight of Man“. Für mich bereits ein Highlight des auslaufenden Jahres.

Die Trademarks von RAY WILSON Solowerk: Sie sind auch hier vorhanden. Da ist diese gute, einschmeichelnde, raue Stimme. Da sind Songs, die sich irgendwo zwischen Mainstream-Rock, Singer-Songwriter und Progressive positionieren. Die eingängig sind, getragen, von melancholischer Grundstimmung. Auch ein wenig pathetisch, obwohl sie im Sound eher reduziert daher kommen. Die Stimme steht im Mittelpunkt.

Behutsam produziert und arrangiert, entfalten diese Songs nur langsam ihre Wirkung. Aber es wirkt eben, die Gefühle sind da. Verdammt, auf seinen endlosen Solo-Touren (in Corona-Zeiten mussten sie leider ausfallen) spielt Wilson viele GENESIS-Songs. Ich finde das ein wenig traurig, würde mir mehr von seinen eigenen Songs wünschen. Weil er das nicht nötig hat. Weil er als Solo-Künstler bestehen kann. Das, was er solo abliefert, ja sorry, ist allemal besser als zum Beispiel „Calling all Stations“.

Stimmung, Melancholie

„You could have been someone“ ist ein guter, ein stimmungsvoller Einstieg. Einschmeichelnd. Schön. Langsam und behutsam schreitend. Während Wilson seine Stimme sich entfalten lässt, der Bass behutsam groovt, setzt eine Klarinette Akzente. Ja, die Klarinette! Wunderbar harmonierend, ein Song, um sich darin zu verlieren. Um ein Glas guten Rotwein zu trinken, sich zurückzulehnen bei einem guten Buch. Nope: Wer Rockismen sucht, ist hier Fehl am Platz. Wilson lebt davon, dass er sich eher zurücknimmt. „Behutsamkeit“ ist ein Begriff, den ich in meinen Rezensionen sicher wenig – eigentlich nie – verwende. Hier trifft er zu. Behutsam nehmen dich diese Songs gefangen.

Das folgende „Mother Earth“ ist für mich dann eher eine kleine Enttäuschung. Sicher, auch dieses Lied hat seine Momente. Gitarrist Ali Ferguson schafft es, dezent stimmungsvolle Momente zu kreieren  und zugleich PINK FLOYD zu zitieren, die im Gitarrenspiel im GILMOUR-Stil auf diesem Album des Öfteren aufblitzen. Die Leads sind schwelgend, unverschämt harmonisch. Der Refrain aber wird mit viel „Aaah Aaah“ im Backing-Chor unterlegt. Das ist too much, das geht subtiler.

Die Texte sind es Wert, beachtet zu werden. Persönlich, unterschwellig gesellschaftskritisch. „Es war im vergangenen Frühling/ Gerade als sich die Blätter bildeten/ Das Wort hatte sich an einem Tag geändert/ Und sie schlossen die Stadttore/ Schlossen uns in uns selbst ein/ Und die Zeit fiel einfach weg/ Die Menschen fingen an, die Hand auszustrecken/ Zu denen, die Hilfe brauchten/ Genau wie in den alten Tagen//Und wir alle hielten inne und dachten: Ist das wirklich passiert?“, singt Wilson. Ein Lockdown-Song, der doch die Menschlichkeit feiert. Nein, hier geht es nicht um banale Liebschaften, Wilson hat eine Message. Auch das ist sympathisch. Die Offenheit spiegelt sich auch im Sound. Tabla, Klarinette, Banjo, Streicher, auf diesem Album gibt es einige Überraschungen.

…irgendwo dazwischen

„We knew the Truth once“ ist dann folgend eine schöne Midtempo-Nummer mit balladesken Momenten. Ja sorry, ich kann mich nicht entscheiden, ob das jetzt eigentlich Akustik-Rock ist, oder Alternative. Oder doch Avantgarde? Pop? Oder etwas ganz Anderes. Wieder sehr stimmungsvoll, und das ist ja das Überraschende. So einfach kann man Wilson stilistisch nicht fassen, mögen die Songs auch beim ersten Hören sehr eingängig daher kommen. Durchweg klingen sie sehr intim, verströmen manchmal trotz Rock-Instrumentierung ein ambienthaftes Flair. Sie gleiten und fließen.

Das ist irgendwo dazwischen. Eine harmonische Akustik-Gitarre, dezenter Rhythmus, und wieder diese sensationell gute Stimme. Wenn einige Kritiker Wilson Berechenbarkeit vorwerfen, muss man dazwischen grätschen. Warum eigentlich? Er erfüllt die Erwartungen nicht. Was gut ist. Die Klischees treffen einfach nicht zu. Wilson könnte so einfach die Bedürfnisse der GENESIS-Fangrowd bedienen. Eine Retro-Show abziehen, Retro-Alben aufnehmen. Er tut es nicht und hat sich davon emanzipiert. Wilson ist Wilson. Er hat seinen eigenen Sound entwickelt, und das ist gut so. Der Sound ist eigenständiger, als manch ein Kritiker wahr haben will.

„I, Like you“, Song Numero vier, ist wieder so eine hypnotisierende, schöne Nummer, die belegt, dass Wilson längst in seinem eigenen Universum musiziert. Ein Highlight des Albums, berührend, schön. „Wenn alles, was wir haben, das ist, was wir sind:/ Dann können wir sagen: Wir haben genug!“, singt Wilson. Es gibt viel Melancholie und Zweifel auf diesem Album: Es wurde im Corona-Lockdown aufgenommen, auch für den 53jährigen eine belastende Erfahrung. Und es gibt Hoffnung, Zuversicht. Ja, Tschuldigung: Er ist lyrisch vielleicht doch näher bei U2 oder Bob Dylan als bei vielen anderen Musikern, die sich in Richtung Progressive verlaufen haben (Wie viele Bands gibt es, die über Zauberer und Magie singen? Zu viele! Die Texte von Wilson sind hingegen geerdet, auch autobiographisch. Sie sind gut! Es lohnt, das Textbook zur Hand zu nehmen). Sorry, ich wiederhole mich: Er erfüllt die Klischees nicht.

Es braucht ein Ohr für die Details

Es gibt viele Highlights auf diesem Album. „The Last Laugh“, Song Numero 7: Ein toller Song, der sich – ich hatte das schon erwähnt –  zwischen Mainstream, Singer-Songwriter und Prog-Rock positioniert. Auf ganz natürliche, ungezwungene Art und Weise. Ray-Wilson-Sound! “Last Laugh” kann als Abrechnung mit populistischen Politikern gelesen werden, auch als Kommentar auf den Brexit. Oder als Antwort an einen Menschen, von dem man enttäuscht wurde. “Die Zeit ist immer dein Freund gewesen, erkenne es,/ Und wenn nichts mehr zu tun bleibt,/ Kannst du hier immer noch dein eigenes Grab schaufeln,/ Ich habe nicht mehr viel Hoffnung”, klagt Wilson. Überraschend ist, dass selbst dieser Song noch Sanftheit und Wärme verströmt.

Das folgende „Almost Famous“: ein Hit, vielleicht die eingängigste Nummer des Albums. Akustik-Gitarre, Piano, diese tolle Stimme, hittiger Refrain. Ey, das ist groß. Könnte auch im Radio laufen. Zeitlos. Einfach ein guter Song. Auch das anschließende „Symptomatic“, eine wundervolle Ballade. Ja; PATHETISCH, SCHWELGEND. Reduziert, dennoch berührend. Die Hoffnung, in “Last Laugh” soeben noch verabschiedet, ist nun wieder da. Wenn es auch eine mit bitterem Subtext ist. Bevor er an den Nullpunkt komme, wünsche er sich, alles gegeben zu haben, singt Wilson: Neue Wege und neue Ideen mögen ihn begleiten wie ein Kind, das einen neuen Freund kennen gelernt hat, und doch ganz fokussiert ist auf sein Bedürfnis zu spielen.

Auch die übrigen Songs sind durchaus packend. Aber sie erfordern Aufmerksamkeit, ein genaues Ohr für die Details. Hatte ich behauptet, das könnte im Radio laufen? Vergesst es: zu raffiniert arrangiert! Es gibt hier tatsächlich kleine Widerhaken. Es gibt diese Melancholie, die man erst einmal aushalten muss. Es gibt überwiegend getragene Rhythmen. Diese Verbeugungen in Richtung Prog, selbst Folk. Es ist vielleicht doch eher ein Album, das allein in ruhigen Momenten genossen werden will. Wilson entlässt uns abschließend mit dem BEATLES-Cover “Golden Slumbers”. Es ist ein tröstendes Wiegenlied.

Fazit: Ja, RAY WILSON liefert. Er nimmt nach langer Pause eines der schönsten Rock-Alben des ausklingenden Jahres auf: emotional, berührend und – ja – auch eigenständig. Dass dies von der deutschen Musikpresse nicht gewürdigt wird, ist bitter. Hier bei VAMPSTER versuchen wir es. Bitte reinhören! Es lohnt auch für tolerante Metal- und Progressive-Fans.

 

Veröffentlicht: 03.09.2021

Label: Jaggy D Ug

Homepage: https://raywilson.net

Mehr im Web: https://www.facebook.com/raywilsonofficial

Die Tracklist von “The Weight of Man”:

1 You could have been someone (Video bei YouTube)
2 Mother Earth (Video bei YouTube)
3 We knew the truth once (Video bei YouTube)
4 I, like you
5 Amelia
6 The weight of man
7 The last laugh
8 Almost famous
9 Sympathetic
10 Cold like stone
11 Golden slumbers

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