15.1.2002: Liebes Tagebuch, heute bekam ich die neue PAIN OF SALVATION-CD zum Besprechen in die Hand gedrückt. Ich brauche wohl nicht sagen, wie mir – kaum war ich zu Hause – nach Monaten der Vorfreude auf neues Ohrenfutter meiner persönlichen Progressive Metal-Favoriten die Finger zitterten, als ich den The Perfect Element pt. I-Nachfolger Remedy Lane in den CD-Schacht wandern ließ. Der CD-Player liest die CD… zeigt an, dass PAIN OF SALVATION wie auf jedem Album bislang spielzeittechnisch weit über einer Stunde liegen… Play… und eine lange Miene… so richtig hängen bleiben will kaum eine der Melodien, anders als auf The Perfect Element pt. I jagt nicht ein Monsterrefrain den nächsten, um von Riffkaskaden weitergescheucht zu werden! Der Vorgänger zündete sofort, während Remedy Lane sperrig, verspielt und in sich gekehrt wirkt. Wie soll ich nur eine Kritik darüber verfassen? Ich will doch eigentlich etwas Gutes schreiben über die sympathischen Prog-Senkrechtstarter, die Fierce und mich auf dem ProgPower 2001 ohne Umwege ins Nirvana beförderten mit einer intensiven, fannahen Show und diesen unfaßbar genialen Melodiebögen auf höchsten spielerischen Niveau!
16.1.2002: Erneut in die PAIN OF SALVATION-CD reingehört, aber dann doch lieber die neue VANDEN PLAS stattdessen laufen lassen. Wie ein Tiger schleiche ich um Remedy Lane herum, oder besser wie ein ängstliches Tier, das befürchten muss, dass die bis dahin so heißgeliebte Nahrung plötzlich nicht mehr so gut schmeckt. Irgendwann gebe ich mir einen Ruck, werfe Remedy Lane rein und versuche, diesmal nichts nebenher aufzuräumen, zu lesen oder mit den Gedanken abzugleiten. Mit Klauen wehren sich die Songs dagegen, sich erschließen zu lassen. Ausnahmen: das bereits auf der Homepage der Band seit einiger Zeit zum Download bereitgestellte Rope Ends und die nicht nur von mir auf dem ProgPower bewunderte Ballade Undertow, vermutlich wegen ihres Vorsprungs. Immer noch rührt sich in mir Enttäuschung darüber, nicht ein weiteres Mal mit den umwerfenden, mitunter knallharten Proghymnen der letzten beiden Alben verwöhnt zu werden. Werde Fierce morgen fragen, ob er vielleicht die CD besprechen will.
17.1.2002: So leicht lasse ich mich aber auch nicht unterkriegen, ich werde um den Zugang zu Remedy Lane kämpfen. Und ein erster kleiner Erfolg ist zu vermelden, denn den Texten gelingt, was der Musik bis dahin versagt blieb: Tief berührt lausche ich dem, was Sänger Daniel Gildenlöw mir und allen anderen PAIN OF SALVATION-Fans zu erzählen hat. Und so langsam wird mir klar, warum Remedy Lane nicht The Perfect Element pt. II ist, es gar nicht werden konnte: Zu persönlich und zu dringlich sind die Themen, die Daniel auf der Seele gebrannt haben müssen, als dass er das eher fiktive, theoretische Konzept von The Perfect Element an diesem Punkt hätte weiterführen können. Gänsehaut sowie das Gefühl, Daniels Innenleben fast schon zu nahe gekommen zu sein, übermannen mich bei A Trace Of Blood, als der Auslöser für die Texte ans Licht gezerrt wird. Eine Fehlgeburt von Daniels Frau gilt es zu verarbeiten, und je tiefer man in die Texte eintaucht, umso mehr beginnt man zu ahnen, was Daniel und seine Frau durchmachen mußten. Mehr als eine Ahnung kann es nicht werden, doch Daniel gelingt das Kunststück, irgendwie die Kurve zu bekommen und in den Texten zu dokumentieren und rüberzubringen, wie man an solchen Schicksalsschlägen sogar noch wachsen kann, auch wenn ihm selbst das nicht so vorkommen mag. Beängstigend und Ehrfurcht einflößend zugleich, wie Daniel sich offenbart. Alleine schon die todtraurige Anordnung der Liedtitel Beginnings und Ending Theme – zutiefst schockierend und aufwühlend! Viel Stoff zum Nachdenken bei der abendlichen Zugfahrt. Fierce gefragt, ob er die Scheibe besprechen will. Er meint nach meinen ausführlichen Erläuterungen, warum ich sie nicht reviewen will, dass diese Erläuterungen an sich doch fast schon ein Review wären. Und irgendwie hat er damit recht.
18.1.2002: Remedy Lane läßt mir keine Ruhe. Kaum erklingt Beginnings, macht es klick. Da ist sie, die Verbindung zwischen Texten und Musik! So verrückt es klingt, aber die 13 Songs stellen gewissermaßen die perfekte Umsetzung des textlichen Konzepts dar, indem sie ebenfalls statt opulentem Bombast mit introvertierten, reflexiven Strukturen und melancholisch-verschlossenen Harmonien aufwarten. Inside Out-mäßige Härte wäre hier völlig fehl am Platze, ebenso die wie Sirup reinlaufende Chorushookline von Ashes. Dafür stellt Remedy Lane einen vor Rätsel, lässt einen oftmals ratlos sich wundern, stellt sich quer, weigert sich, einen durchgängigen Sinn zu ergeben. Und gerade daraus erwächst die Stärke dieses Albums: Noch nie, wirklich niemals war ein Album so schonungslos nahe an dem dran, was unser aller Leben ausmacht! Das Schicksal ist nicht von Harmonie bestimmt, so viele Irrungen und Wirrungen des Lebens bleiben unerschließbar für uns. Was wäre, wenn…, Warum…, Wohin… – das sind die Fragen, die uns verzweifeln lassen angesichts persönlicher Tragödien, wie sie sich im Leben von einem jeden abspielen…ohne dass sich nach dem fünften Akt der Vorhang öffnet und man die eben Gestorbenen mit freudestrahlender Miene den Beifall über sich zusammenschlagen lassen sieht. Uns bleibt der Einblick ins Drehbuch des Lebens verschlossen, Regieanweisungen erhalten wir keine, und wer weiß, ob ein Drehbuch überhaupt existiert…Und genau diese zutiefst bewegenden Unschlüssigkeiten, Ängste, Verzweiflungen und Aggressionen angesichts dieser Machtlosigkeit in einem absurden Universum werden von PAIN OF SALVATION auf meisterhafte Weise in Klänge umgesetzt, doch nicht ohne einen aus den 13 Kompositionen in Form von versteckten, deshalb aber nicht minder grandiosen, tröstenden Melodien erklingenden Appell an die Menschlichkeit in uns allen zu äußern. Sie ist es und nur sie, die es vermag, Schicksalsschläge hinzunehmen und in manchen Fällen uns daran wachsen zu lassen. PAIN OF SALVATION haben dies auf Remedy Lane dokumentiert, indem sie mit einem zutiefst unkommerziellen Album die Musik und mit ihr Kunst allgemein auf das zurückgeführt haben, was sie ursprünglich ausgemacht hat: den direkten Ausdruck von Seelenzuständen. Tiefer Schmerz und eine vermutlich nur auf Zeit bestehende Erlösung – sie sprechen passend zum Bandnamen aus den Kompositionen auf Remedy Lane. Sind das Tränen, die da meine Wangen herabrinnen, wenn Undertow, This Heart Of Mine, A Trace Of Blood, der herzzerreißenden Ballade Second Love und Beyond The Pale erklingen? Es sind Tränen…
Spielzeit: 68:14 Min.
Line-Up:
Daniel Gildenlöw – Gesang, Gitarre
Johan Hallgren – Gitarre
Kristoffer Gildenlöw – Bass
Fredrik Hermansson – Keyboards
Johan Langell – Schlagzeug
Produziert von Daniel Gildenlöw & Anders Theander
Label: Inside Out
Homepage: http://www.painofsalvation.com
Tracklist:
Beginnings
Ending Theme
Fandango
A Trace Of Blood
This Heart Of Mine
Undertow
Rope Ends
Chain Sling
Dryad Of The Woods
Remedy Lane
Waking Every God
Second Love
Beyond The Pale