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NESTOR: Kids in a Ghost Town

Die Schweden NESTOR fahren ihren alten Volvo aus den 80ern mit Vokuhila, Ledernieten und ordentlich Proll-Attitüde vor. Doch das könnte in die falsche Richtung führen: Hinter „KIDS IN A GHOST TOWN“ verbirgt sich eines der besten Melodic-Rock-Alben seit langer Zeit. Leider derzeit nur als Export zu haben, gehört das Album auf den Einkaufszettel von jedem Genre-Fan.

Es gibt Alben, auf die stößt man eher zufällig, ohne dass Plattenfirmen und Promo-Abteilungen einen mit der Nase darauf stoßen würden. Bei mir in diesem Fall, weil ich eine verdammte Leidenschaft für melodisch-poppigen AOR-Rock aus den 80ern habe. Genau: diese Zeit, in der man noch ohne Scham Stirnbänder und Spandexhosen mit Leopardenmuster tragen durfte. Und als die Girls in den Musikvideos mehr Gel in den Haaren trugen, als Jeff Bezos Dollars auf dem Konto hat. Kenny Loggins, SURVIVOR, Robin Beck: solche Sachen. Unverschämt catchy Songs, die gern mal bei Top Gun, Miami Vice oder Knight Rider liefen.

Ich zappe mich also nächtens durch Youtube und tanze durchs Zimmer, karaokeerprobt und schon leicht angetüdelt. Und dann empfiehlt mir der Algorithmus einen Song, den ich definitiv noch nicht kenne: “On the Run”. Mich schaut ein Typ an, der eine weiße Plastikbrille mit Balken auf der Nase trägt: Damit kann er definitiv nichts sehen. Pornoschnauzer, eine dicke Silberkette um den Hals, Wuschelfrisur und ein Vokuhila, auf den jeder Mantafahrer in den 80ern stolz gewesen wäre. Ob das nun Satire sein soll oder todernst gemeint ist: Man weiß es nicht. Der Typ ist Tobias Gustavsson, seine Band kommt aus Schweden und heißt NESTOR. Und nein: Es handelt sich nicht um einen vergessenen Act aus vergangenen Dekaden. NESTOR sind der neueste heiße Scheiß.

NESTOR: Melodic Rock von selten gehörter Perfektion und Klasse

NESTOR sind keine Frischlinge: Bereits vor über drei Jahrzehnten wurde die Band in der Schwedischen Kleinstadt Falköping von fünf Schulfreunden gegründet. Die Reife hört man dem Album an. Was die Band hier über zehn Songs (plus ein kurzes Intro) bietet, ist feinster AOR-Rock, den ich in dieser Perfektion und Spielfreude schon lange nicht mehr gehört habe. Hier gibt es alles, was das Fan-Herz begehrt: Ordentlich Hooks, einprägsame Refrains und eingängige Ohrenschmeichler. Knackige Riffs, wilde Soli. Fanfarenhafte Keyboards. Einen sensationell guten Sänger, der auch schwierige Harmonien spielerisch meistert. Und eben: Vokuhila, Attitüde, Catchyness.

Denn das ist die andere Seite der Band: Was das Image angeht, ist hier alles drüber. Macker mit fetten Brillen und Bärten. Man mimt den Kleinstadtrebellen, auf jeder Bad-Taste-Party wäre ihnen der Preis für das beste Kostüm sicher. Natürlich wissen die Musiker, was sie hier machen, dass sie längst keine Kids aus den 80ern mehr sind. Und so ist die Verbeugung vor dem Jahrzehnt zugleich auch ein bisschen Satire und bunte Zitatesammlung, ohne dass damit die Ernsthaftigkeit der Musik infrage stünde. Auf einem Plakat sitzt einer der Musiker, vermutlich in seinen 40ern, auf einem viel zu kleinen Klappfahrrad, das ordentlich aufgepimpt wurde. Er trägt ein gelbes Basecap, Sonnenbrille, Fuchsschwanz. Er ist zu groß und zu unförmig für dieses Gefährt. Was hier ernst gemeint ist und was nicht, bleibt in der Schwebe. So wundert es nicht, dass die Band auf ihrem Facebook-Account vor Kurzem eine Hommage an SPINAL TAP geteilt hat.

Das Image könnte ein bisschen in die falsche Richtung lenken, denn die punkige Rotzlöffeligkeit, die manch andere skandinavische Band –HELLACOPTERS und Co.- kennzeichnet, geht dem Fünfer eher ab. Hier sind die Songs fein austariert und liebevoll inszeniert, es gibt ein enormes Hitpotential. Was nichts daran ändert, dass der Sound knackig und druckvoll aus den Boxen dröhnt. Und doch ist es gerade dieses selbstironische Augenzwinkern, das der Band einen enormen Kultstatus bescheren könnte. Leute, ich liebe Melodic Rock, wirklich. Aber vieles, was Bands wie HEAT und ECLIPSE in den letzten Jahren veröffentlicht haben, ist mir oft zu berechnend, zu stereotyp, die immer gleichen Texte über Liebe und die Kraft des Rock ’n’ Roll nerven. Was dieses Genre gebrauchen kann, ist tatsächlich: Selbstironie, Augenzwinkern. Es ist eine Band wie NESTOR.

Hits, Hits, Hits!

Es fällt schwer, hier einen Song hervorzuheben. „On the Run“ -jener Song, der mir auf Youtube empfohlen wurde- ist ein kraftvoller Einstieg, eine treibende Feelgood-Nummer mit amtlichen Old-School-Riffs und einem süchtig machendem Refrain. Wunderbar einschmeichelnd der Gesang, hoch, klar und voluminös: Und es wird besungen, wie man sich als lebenshungriger Mensch in einer abgefuckten Kleinstadt fühlt. Der Hunger ist endlos, die Möglichkeiten sind begrenzt. „Call the police/ Call the fire squad or anyone/ Get me a priest/ I´m a lost child on the run“, fleht Gustavsson. Und auch das ist ein Moment, das diese Band hervorhebt: Hunger und Euphorie sind in vielen Songs spürbar.

Nein, ohne genretypische Klischees kommen auch NESTOR nicht aus. Frauen besitzen das Gesicht eines Engels, haben kalte Augen, „She’s a killer on the loose“. Das geht besser und origineller. Geschenkt, das kann ich mir geben, wenn es im Image besagte Selbstironie und wenn es kleine Brüche gibt (Verdammt: Sind die Vokuhila-Frisuren nur Perücke? Sind die Porno-Bärte angeklebt?). Und wenn die Songs derart gelungen sind.

Das folgende „Kids in a Ghost Town“ geht in eine ähnliche Richtung. Ein kurzes Gitarrensolo zum Einstieg, ein kraftvolles Riff: der Gesang über jeden Zweifel erhaben. Tatsächlich bekommt man bei solchen Nummern Lust, mit Walkman und BMX-Bike durch eine menschenleere Stadt zu cruisen. Die Faust in die Luft gereckt, Schlängellinien fahren, einer unglücklichen Liebe nachtrauern. Sorry, aber das sind Glücksmomente. Dafür braucht man eingängige Songs, die auch ein bisschen berechenbar sind. Sonst könnte man ja nicht mitgrölen. Klar: Auch hier ist alles nah an der Kitschgrenze. Auch hier denkt man gelegentlich: an welchen Song aus den 80ern erinnert mich das jetzt? Egal. Die Produktion ist modern, die Harmonien sind bittersüß. Einfach schön! Ja, es gibt viele Bands, die mit einem ähnlichen Rezept unterwegs sind: ein Label wie Frontiers Records lebt von der 80s-Nostalgie. Aber in dieser Güteklasse, so frisch und unverbraucht hat man das lange nicht gehört.

„Stone Cold Eyes“ fällt leicht ab: Ähnliches Rezept, aber der Refrain klingt doch erzwungen. Ist okay. Das melancholische „Perfect 10 (Eyes Like Demi Moore)“ ist dann wieder besser. Langsam schreitend, mit balladesken Momenten, trotzdem tanzbar groovend. Auch wenn der Text nach Catcalling schreit und vermutlich keiner Sexismus-Debatte standhalten würde („Sie hat Augen wie Demi Moore/ Und einen Körper wie Sharon Stone/ Ich kann es nicht glauben, dass sie ganz allein tanzt!/ Sie ist eine perfekte 10!“) Jungs und Mädels, haben wir schonmal über Klischeetexte im Melodic Rock geredet?

NESTOR halten das Niveau

Das hohe Niveau wird über den Rest der Spielzeit weitestgehend gehalten. „Firesign“ ist zum Beispiel eine flotte Uptempo-Nummer, die ordentlich Arsch tritt und ebenfalls kleine Glücksmomente hervorzurufen vermag. „1989“ wiederum ein nostalgischer Blick in die Zeit vor Grunge, als Hair Metal noch groß war: vorab als zweite Single ausgekoppelt, wieder ein Hit. Balladeske, getragene Strophe: kraftvoller Refrain. Schön.

Etwas aus dem Rahmen fällt die Ballade „Tomorrow“, für die sich die Band einen echten Star der 80er ins Boot geholt hat: Samantha Fox. Kennt Ihr alle von ihrem Hit „Touch Me (I Want Your Body)“, 1986 ein Welthit. Aus keiner Karaoke-Bar wegzudenken. Und auch diese Ballade ist wirklich gelungen, ein gefühlvolles Piano, schöne Herzschmerz-Nummer. Musik zum Kuscheln und Schwelgen. Ohne peinlich zu sein. Power-Balladen: Wenn diese gelungen sind, ist das auch ein Grund, weshalb ich Fan dieses Genres bin.

Fazit: Geiles Album, das Melodic-Rock-Fans und 80s-Nostalgiker unbedingt mal anchecken sollten. Ein Wermutstropfen ist, dass dieses Debüt, auf einem kleinen Label erschienen, vorerst nur als teurer Schweden-Export zu haben ist. Aber das wird sich ändern. Es gibt bereits einen kleinen Hype um diese Band, er ist absolut gerechtfertigt. Am 19. November werden NESTOR auf dem “Keep it true”-Festival in Würzburg zu sehen sein. Nicht verpassen! Bald wird man die Schweden bei einem großen Label wiederfinden, da bin ich mir sicher. Ein heißer Tipp für das Melodic-Rock-Album des Jahres.

(PS: Soeben wird mir bei Youtube übrigens “No Easy Way Out” von Robert Tepper empfohlen: wieder so ein geiler AOR-Rock-Song, den viele nicht mehr kennen. Und der Teil des Soundtracks von ROCKY IV gewesen ist. Definiert bitte Kult: Ich habe gerade keine Zeit, ich muss Karaoke singen!)

Veröffentlichungstermin: 22.10.2021

NESTOR: “Kids In A Ghost Town” Track List

A Fanfare For The Reliable Rebel (Intro)
On The Run
Kids In A Ghost Town
Stone Cold Eyes
Perfect 10 (Eyes Like Demi Moore)
These Days
Tomorrow (Feat. Samantha Fox)
We Are Not OK
Firesign
1989
It Ain’t Me

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NESTOR auf Spotify

Musiker:
Jonny Wemmenstedt (guitar)
Mattias Carlsson (drums)
Tobias Gustavsson (vocals)
Marcus Åblad (bass)
Martin Frejinger (keyboards)

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