L`ARC~EN~CIEL: Kiss

Diese Scheibe ist ein Hit! Eine erstaunlich hörenswerte Mischung aus A-HA und TOKIO HOTEL mit dem Kitschfaktor einer italienischen Symphonic Speed Metal-Band. Durch den starken japanischen Gesang hebt sich die Musik angenehm vom amerikanischen und europäischen Popeinheitsbrei ab.

Manchmal ist Unwissenheit tatsächlich ein Segen. Schon bevor ich die CD zum ersten Mal auflegte, stach mir die schlichte, aber äußerst geschmackvolle Gestaltung des Inlays ins Auge. Kopfhörer und Kuss ziehen sich wie ein schwarzer Faden durch die Seiten, auf denen auch vier japanische Musiker zu sehen sind, von denen man nicht mit Gewissheit sagen vermag, ob sie a) männlich und b) bereits volljährig sind. Die erste Begegnung mit dem Opener Seventh Heaven löste bei mir keine große Begeisterung aus. Natürlich beeindruckte mich die Professionalität, mit der das Quartett agierte. Nicht oft findet man Produktionen, die einerseits nach verdammt viel Geld, andererseits aber auch unverbraucht und derart souverän klingen, dass es fast schon frech wirkt. Obwohl die Gitarren fett und der klare Gesang kräftig tönen, fällt der Song ganz klar in die Kategorie Kommerzpop, wenngleich sich schon hier Rock-Einflüsse tummeln. Für die breite Masse ist die Nummer sicherlich bestens geeignet. Doch für die Vampster-Kundschaft wird das Album erst beim zweiten Song langsam interessant. L`ARC~EN~CIEL bewegen sich hier zwar weiterhin auf massentauglichem Boden, zeigen aber zumindest, dass sie nicht so zahm sind, wie sie auf den Bildern im Inlay dreinschauen. Die Stimmung ist anfangs sehr sommerlich. Auf halbem Weg zum Refrain emanzipiert sich das Quartett jedoch vom stromlinienförmigen Popact-Korsett. Der Gesang erklimmt höhere Register und die Harmonien werden etwas dramatischer.

Beim den eher balladesken Stücken My Heart Draws A Dream und Sunadokei schimmern A-HA durch, auch wenn man deren Melancholie vergeblich sucht. Sänger Hyde liefert eine beeindruckende Leistung ab und zeigt, dass er sich am Anfang des Albums weit unter Wert verkauft hat. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hat man sich auch daran gewöhnt, dass überwiegend japanisch gesungen wird. Wenn man nicht im Inlay mitliest, verpasst man die meisten der eingestreuten Anglizismen. Das ist nicht weiter schlimm, weil gerade in der Sprache der besondere Reiz liegt. Denn sie beeinflusst natürlich auch die Melodieführung, wodurch sich die Stücke angenehm vom amerikanischen und europäischen Popeinheitsbrei abheben. Es spricht zudem für die Haltbarkeit der Songs, dass es viele liebevoll arrangierte Details zu entdecken gibt. Von stumpfer Popmonotonie findet man nicht die geringste Spur. Und was auch keine Selbstverständlichkeit in diesem Genre ist: Die Gitarre lebt!

Bei Alone En La Vida gibt es schließlich erneut Parallelen zu A-HA, zumal hier endlich auch etwas traurigere Harmonien zum Zuge kommen. Mit Daybreak`s Bell folgt ein Song in ähnlicher Stimmung, der förmlich nach einer Single-Veröffentlichung schreit (die er in Japan auch bekam, inklusive sehenswertem Video). Hier werden Schwung und Gefühl kongenial miteinander kombiniert. Einmal mehr besticht der Gesang mit seiner großen Variabilität und einer Extra-Portion Charisma. Stilistisch erinnert die Musik etwas an TOKIO HOTEL, obgleich L`ARC~EN~CIEL wesentlich reifer – und besser klingen als die deutschen Teenie-Stars. (Was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass die Bandmitglieder von L`ARC~EN~CIEL allesamt bereits in den 60ern geboren wurden und Kiss entsprechend nicht ihr erstes Album ist.)

Ein weiteres Plus von Kiss ist die Abwechslung in der zweiten Albumhälfte. Anstatt die bisherigen Stücke, die allesamt ein enormes Hitpotenzial aufweisen, wiederzukäuen, werden munter die musikalischen Grenzen erforscht und überschritten. Bei The Black Rose wird treibender Punkrock mit düsteren Bläsersätzen vermischt. Bei Link findet man sich in einem völlig anderen Film wieder, irgendwo zwischen 70er-Jahre-Ferienidylle und SAINT ETIENNE. Und damit nicht genug: Yuki No Ashiato entpuppt sich als Bilderbuchballade, die es in Sachen pathetischer Gesang mit sämtlichen italienischen Symphonic Speed Metal-Bands aufnehmen kann.

Ich kann jeden geschmacksbewussten Menschen nur davor warnen, den Abschlusstrack Hurry Xmas anzuhören (oder gar das dazugehörige Video anzuschauen). Tut es nicht! Beißt euch in die Oberschenkel, lauft dreimal um den Block, macht Euch schlau über den Zusammenhang zwischen Primzahlfaktorisierungen und der Normalverteilung von Gauss – Hauptsache ihr meidet den zwölften Song. Ich musste nach dem Anhören mit einer akuten Kitsch-Vergiftung ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ihr meint, ich scherze – hah, weit gefehlt. Swing-Rhythmen, schleimiger Gesang, jazzige Gitarren, Akkordeon – es ist ganz, ganz furchtbar.

Kiss ist trotzdem ein Top-Album, das Eingängigkeit, Eigenständigkeit und jede Menge Hits bietet. Gestandene Metaller haben vermutlich spätestens bei der Erwähnung von TOKIO HOTEL die Lektüre dieses Reviews abgebrochen. Aufgeschlossenere Leute, die auf der Suche nach etwas Abwechslung sind, können aber durchaus ein Ohr riskieren. Und wer entsprechende jugendliche Verwandte hat, die langsam aber sicher an Gitarren-lastigere Musik herangeführt werden sollen (und die einem ohnehin ständig von Bill vorschwärmen), hat hier sicherlich ein originelles Geschenk für den nächsten Geburts- bzw. sonstigen Feiertag. Vielleicht schmücken dann schon bald Hyde-Poster Deutschlands Kinderzimmer. Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn der Band auch hierzulande der große Durchbruch gelänge. In ihrer Heimat (und diversen anderen Ländern) sind L`ARC~EN~CIEL nämlich bereits (völlig zurecht) seit geraumer Zeit Superstars.

Veröffentlichungstermin: 18.04.2008

Spielzeit: 53:20 Min.

Line-Up:
Hyde: Gesang
Ken: Gitarre
Tetsu: Bass
Yukihiro: Schlagzeug

Produziert von L`ARC~EN~CIEL
Label: Gan Shin

Homepage: http://www.larc-en-ciel.com

Tracklist:
1. Seventh Heaven
2. Pretty Girl
3. My Heart Draws A Dream
4. Sunadokei
5. Spiral
6. Alone En La Vida
7. Daybreak`s Bell
8. Umibe
9. The Black Rose
10. Link (Kiss Mix)
11. Yuki No Ashiato
12. Hurry Xmas

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