ENID: Seelenspiegel

"Seelenspiegel" ist ein Album, das Freunden romantischer, melancholischer Metal-Musik durchaus gefallen wird. Mehr jedoch nicht, und das ist das Problem ENIDs – Anspruch und Wirklichkeit liegen auseinander.

ENID sind Intellektuelle. Nun, vielleicht nicht alle Bandmitglieder, aber zumindest Komponist und Texter Martin Wiese, denn er macht Musik nach Noten und schreibt die Spielzeit der Lieder aus. Zusammen mit seinen drei Bandkollegen ist er „Die Essenz der Welt jenseits von Erkenntnis“, wenn man nach seinem Stück „And Soon Will Fall The Days“ geht. Daß das recht leeres Geschwätz ist, liegt auf der Hand, soll den Hörer aber nicht weiter stören, denn „Seelenspiegel“ ist ein Album, das bessere und inhaltsvollere Texte besitzt, und das Freunden romantischer, melancholischer Metal-Musik durchaus gefallen wird. Mehr jedoch nicht, und das ist das Problem Wieses – Anspruch und Wirklichkeit liegen auseinander.

Wenn versucht wird, Black Metal mit Klassik zu verbinden, kommt fast immer absoluter Mist dabei heraus, irgendwelche pseudo-intellektuellen Harmonieorgasmen jenseits von Verständnis für Gefühl und Musik. Bei ENID ist das anders, man merkt stets, daß Wiese weiß, was er tut, daß er musiktheoretisches Wissen mit Gefühl verknüpft, und daß er in der Lage ist, große Melodien zu schreiben, die in Fleisch und Blut übergehen und den Hörer tage- und nächtelang nicht loslassen. So lebt beispielsweise das ausgesprochene „And Sonn Will Fall The Days…“ von einem extrem ohrwurmtauglichen Refrain, der jede Party in Schwung bringen könnte, wenn er nicht eingewoben wäre in bombastische und durchaus komplexe Klanggewölbe. Oder nehmen wir das abschließende „Helios´ Niedergang“ – hier benutzt Wiese klassische Chor-Harmonien, die durchaus dramatisch klingen und dem Stück Spannung verleihen. Es ist eigentlich egal, welches Stück man nimmt, alle leben von diesen phantastischen Melodien, die süchtig machen und dich nicht mehr loslassen. Warum also ist „Seelenspiegel“ nicht ein großes Meisterwerk wie beispielsweise DORNENREICHs letzte beiden Werke? Warum fehlt die absolute, große Begeisterung?

Es ist der Anspruch, den Wiese an sich hat. Dieser wird schon in der Aufmachung deutlich. Professionell durch und durch, wunderschön und sehr ästhetisch präsentiert sich das Drittwerk ENIDs in einem edlen Digipak. Alles, selbst die Aufnahmedaten, werden in fein geschwungener Sprache präsentiert, kurz und gut: die intellektuelle und künstlerische Meßlatte wird in den Olymp versetzt. Und man ist geneigt, sie dort zu lassen, wenn man das erste Stück, „Soulglass“, hört: träumerisch-schwebend erklingen herzerfrischende Harmonien, und Wieses Gesang ist so professionell und glasklar, daß man schon gedanklich in Lobeshymnen schwelgt. Doch dann dies: Zwar haben die beiden Bandgründer Wiese und Dammasch nun eine Band um sich geschart, müssen also nicht mehr Gitarre und Schlagzeug aus dem Computer zaubern, aber einen guten Sound haben sie damit immer noch nicht hingekriegt. Die Gitarren klingen extrem schrammelig; und dünn, was daran liegt, daß – Kollegin Arlette wird im Dreieck springen – kein Bass zu hören ist. Es gibt auch keinen, leider. Die Keyboards, aus denen Wiese ein komplettes Orchester auferstehen lassen möchte, verharren ebenfalls in eher dünnen Gefilden – die Pauken beispielswiese klingen schlaff und die Geigen arg künstlich. Und am Schlagzeug hat man zwar mit Moritz Neuner (ABIGOR, DARKWELL, KOROVAKILL, ex-DORNENREICH und ca. 3652 andere Bands) einen der absolut besten Drummer dieser Erde verpflichtet, setzt diesen aber nur dürftig in Szene – „druckvoll“ ist jedenfalls etwas anderes. Merkwürdig, daß die Herren von ENID ihren Produzenten und Tontechnikern auf beinahe jeder Bookletseite huldigen – hat man etwa das Endresultat noch nicht gehört? Dieses versaut Herrn Wiese nämlich seinen Anspruch, was sehr schade ist, denn die Kompositionen, die man verewigt hat, gehören mit zu den besten und energiegeladensten, die ich seit langem gehört habe. Endlich mal ein Komponist, der durchgehend auf klassische Harmonien setzt und damit die ganzen Disharmoniefetischisten, die sich in der sog. avantgardistischen Metalszene tummeln, Lügen straft: Es geht auch so! Gut, hier und da klingen die Stücke ein wenig süßlich und, bedingt auch durch den zwar ausgezeichneten, aber dennoch teilweise aufgesetzt klingenden Gesang, etwas kitschig. Jedoch, wie wir wissen, ist Kitsch Kunst und auch bei ENID ist man nach einer kurzen Eingewöhnungsphase so weit, daß man darüber einfach hinweg sieht und die Melodien genießt. Mehr aber ist aus Wieses „Seelenspiegel“ nicht zu holen, es ist einfach nicht das große Meisterwerk, das er erschaffen wollte. Und so stehen Anspruch und Wirklichkeit eben in einem etwas schiefen Verhältnis zueinander, worin auch die Gefahr liegt, daß dieses Werk als lächerlich erscheinen mag – obwohl es das nicht ist.

Übrigens, wer ENID noch von alten Scheiben („Nachtgedanken“ und „Abschiedsreigen“) her kennt, wird sich wundern: mit SUMMONING hat „Seelenspiegel“ nichts, aber auch gar nichts mehr zu tun. Die einstige Kopie hat sich zum eigenständigen „Klassik-Metal-Act“ gemausert, verknüpft nun erhabene Klänge mit zaghaften Black Metal-Einsprengseln und sieht dabei alles andere als schlecht aus. Insofern ist es als Verdienst von „Seelenspiegel“ anzusehen, daß man sich von SUMMONING emanzipiert und endgültig eigene Wege gefunden hat. Daß dabei auch einige ausgezeichnete, aber leider nicht ganz so ausgezeichnet umgesetzte Musikstücke entstanden sind, ist sicherlich mehr als ein Nebeneffekt – der ganz große Wurf indes steht noch aus.

VÖ: 25.02.2002

Spielzeit: 45:43 Min.

Line-Up:
Martin Wiese – keyboards, vocals, flute on “Interlude”, compositions and lyrics

Alboin – rhythm guitars

Thalos – lead guitars

Michael Kipp – lead and acoustic guitars

Moritz Neuner (session) – drums and percussion

Produziert von Roland Wurzer und Stefan Graf
Label: Code666

Homepage: www.enid-webrealm.de

Tracklist:
1. Soulglass

2. Land Of The Lost

3. Nexus

4. Patience´s Ring

5. Interlude

6. The Forbidden Site

7. And Soon Will Fall The Days…

8. Seelenfrieden

9. Helios´ Niedergang

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