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VOIVOD: Synchro Anarchy

Die Prog-Thrash-Helden finden zurück zu alter Stärke und vertonen die Zukunft von gestern

Normalerweise erwähne ich die Produktion eines Albums immer erst gegen Ende, wenn die Songs besprochen wurden, aber dieses Mal muss ich das anders machen. Denn es stört mich und drängt deshalb nach außen, dass der Sound dieses VOIVOD-Albums bei mir etwas Merkwürdiges auslöst, obwohl er allem entspricht, was ich immer hören möchte.

Der Sound von “Synchro Anarchy” ist warm und angenehm, transparent, richtig HiFi, man hört jedes Detail der einzelnen Instrumente, es klingt natürlich, räumlich, man ist förmlich mittendrin in der Musik. Also eigentlich alles gut. Aber fast schon zu gut, obwohl man sich fragen muss, ob das überhaupt sein kann. Das Problem ist aber folgendes:  Wenn ich ein Bild zu diesem Sound assoziieren müsste, wäre es einer dieser mega-teuren Plattenspieler mit Marmorplatte, freischwebend und ein ca. 40jähriger Architekten-Typ mit dezenter Hornbrille und grauem Kaschmir-Pulli zum grauen Drei-Tage-Bart, der kritisch prüfend den Lauf der Mechanik beobachtet und einschätzt, ob er nicht lieber doch den Plattenspieler-Justierer mit seinem goldenen Inbus-Schlüssel, Diamant-Lot und 380€ Stundenlohn (als Audiophiler kann man offenbar Geld künstlich herstellen) zurückholen soll, der ihn gerade bei der optimalen Platzierung im Raum in Bezug auf die Schwingung der Erdachse sechs Stunden lang unterstützt hat.

Ich bin kein Architekt

Und ich mag diese Bild nicht. Und ich hab Angst, dass ich dieser Typ bin. Also ich bin kein Architekt, mein Bart ist eher drei-Jahre lang und Kaschmir kenn ich nur aus Erzählungen, und Geld, ach hör auf, aber irgendwie…verdammt, ich passe nicht mehr zu dem Bild von mir selbst, als ich damals im Jahr 1988 „Dimension Hatröss“ das erste Mal gehört habe und völlig begeistert war, was für ein neuer Kosmos (im wahrsten Sinne des Wortes) von fantastischer Musik sich mir, meiner Vokuhila und dem Bart-Flaum auf dem Kinn da auftut! Damals wußte ich nicht, dass Vinyl 180g schwer sein kann oder warum das überhaupt wichtig sein sollte. Man schrieb mit dem Edding seinen Namen auf die Platte damit sie nicht wegkam und hörte sie ständig und bei Freunden und in Partyräumen. Heute denkt man nach, ob man nicht doch mal über Platzierung von “Hifi-Elementen” im Raum nachdenken sollte. Puh, wie erbärmlich…

Und was können VOIVOD dafür?

Kann die Band etwas für meine komischen Assoziationen? Natürlich nicht, aber um zum Ausgangspunkt zurückzukommen und das nostalgische Rumheulen sein zu lassen: Bei einer VOIVOD Platte würde ich doch eine etwas schneidendere Aggressivität im Sound bevorzugen, vor allem in der Saitenfraktion. Es klingt leider etwas schaumgebremst. Ich rede jetzt nicht von hoch-komprimierter Modernität, das wäre natürlich völlig unpassend (und ist ohnehin zu verdammen), nein, ich meine schneidende Distortion von einem Verzerrer-Pedal für höchstens 50 Mark. Ausschläge in den roten Bereich der Skala, vor allem in den typischen abgehackten Riffs in den hohen Lagen mit diesen wunderbaren Disharmonien. Die sollten schon ein wenig wehtun. Aber vielleicht ist auch die Band mittlerweile mit Platzierung im Raum beschäftigt und die Cyber-Punk-Hydrauliken sind ein wenig ausgeleiert.

Überhaupt ist Hydraulik ein Bild, welches, wie ich finde, gut zum Wesen der Band passt. Eine ehemals hoch-moderne Technik, die aber in den heutigen Zeiten mit ihrem Zischen und ihrer Mechanik etwas aus der digitalen Welt gefallen zu sein scheint. Genauso sind VOIVOD eine progressive Band, die aber auf angenehme Weise altmodisch klingt. Und deswegen wäre etwas mehr Thrash und etwas weniger HiFi im Sound auch besser gewesen.

Aber immerhin hat die Platte damit eines geschafft, nämlich mich auf emotionaler Ebene mit der Zeit des kreativen Höhepunktes der Band zu verbinden und DAS ist wirklich eine beachtliche Leistung. Denn “Synchro Anarchy” schließt direkt dort an, wo ich die Band damals kennen gelernt habe und das alleine ist schon mehr als man erwarten durfte.

Widerborstige Androiden-Riffs wie zu VOIVOD-Hochzeiten

Die Band führt ihr eigenes Erbe als die Quasi-PINK FLOYD des Prog-Thrash mit beeindruckender Kreativität und Energie fort. Die 9 Songs bieten die typische Rhythmik, das wunderbar fließende und doch widerborstige Androiden-Riffing wechselnd mit aufgelöste Akkorden, wilde Breaks, knarzig-gegenläufige Basslinien und darüber die immer noch leicht schrägen, aber nicht mehr so schrillen Vocals – alles, was das Fan-Herz begehrt.

Aber das war ja eigentlich immer so. Was „Synchro Anarchy“ trotzdem besonders macht, ist das dieses mal wieder vollumfänglich packende Song-Writing. Frisch und jugendlich, als wäre die Band in einen Jungbrunnen gefallen, bzw. in einem Riss im Raum-Zeit-Kontinuum mit ihrer Mitte-80er Inkarnation verschmolzen. Ausserdem stehen Progressivität, spiel-technische Spielereien – wie immer auf höchstem Niveau – und Eingängigkeit auch wieder in einem vernünftigen Verhältnis zueinander und Komplexität wird nicht zum Selbstzweck.

„Holographic Thinking“ oder „Mind Clock“ sind ganz hervorragendes Songwriting, progressiv und herausfordernd, aber dennoch zugänglich und den Hörer aufnehmend wie  ein warme Decke aus Nano-Kaschmir, die ihre Farbe der Befindlichkeit des Menschen anpasst und hier dann ganz silbrig wird.

Altmodisch zischende und perfekte Hydraulik

Das hervorragende Titelstück mit fast melancholischem Refrain im Gegensatz zum hektischen Haupt-Riff mit schönem Stolper-Rhythmus, einem abgedrehten aber nicht nervigen Prog-Part, der in einen Part mit abgedämpftem Delay-Riff wie zu besten „Brain Scan“-Zeiten überfließt, dazu etwas PINK FLOYD-Gesangs-Harmonie und dann zurück und von vorne. Herrlich!

Immer wieder schafft es die Band, das alles wieder so harmonisch zu vereinen, zum Fließen zu bringen wie zu ihren besten Zeiten. Ein guter VOIVOD Song ist wie eine riesige Maschine mit Panzerketten, die mit perfekt laufender Hydraulik, in der alle Mechaniken ohne Reibungsverluste arbeiten, altmodisch zischend und lärmend über einen unwirtlichen Planeten rollt und ihn in einen riesigen Androiden verwandelt, der aber seinen Daseins- Zweck nicht kennt und deswegen verrückt wird. Und nahezu alle Songs auf diesem Album sind genau so.

VOIVOD sind in der aktuellen Besetzung ganz bei sich und in Hochform. So kann die Maschine noch einige Generationen weiterlaufen, bis irgendwann mal jemand ihren Zweck entschlüsselt und sie sich abschalten kann.

Ein überraschend gutes Album einer Band, die ihren Helden-Status bei mir damit wieder vollständig re-initialisiert (und optimal im Raum platziert) hat.

(Die zusätzliche Live CD der Deluxe-CD Version lag nicht zum Review vor.)

Release Date: 11.02.2022
Label: Century Media Records

Line-Up:
Denis “Snake” Bélanger – Vocals
Daniel “Chewy” Mongrain – Guitar
Dominic “Rocky” Laroche – Bass
Michel “Away” Langevin – Drums

VOIVOD “Synchro Anarchy” Tracklist

Paranormalium
Synchro Anarchy (Video bei YouTube)
Planet Eaters (Video bei YouTube)
Mind Clock
Sleeves Off (Video bei YouTube)
Holographic Thinking
The World Today
Quest For Nothing
Memory Failure

http://www.voivod.com/

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