Geschrieben und aufgenommen wurde „The Longest Night“ zwischen 1 Uhr nachts und 5 Uhr morgens: Sind NATTRADIO etwa extrem gelangweilte Pförtner, Nachwächter, Rezeptionisten, die die Zeit bis zum Morgengrauen irgendwie überstehen müssen? Oder liegen sie im schlechtesten Fall nachts wach, starren an die Decke, zermalmt von Sorgen, Ängsten und Nöten? Zugegeben, es scheint durchaus Dunkelheit in den beiden Musikern Niklas Brodd und Martin Bomann vorzuherrschen, und das nicht erst seit Kurzem. Beide waren in den Neunzigern schon in den recht unbekannten Bands EVERCRY und in den frühen Zweitausendern mit MARBLE ARCH aktiv, fanden sich 2022 erneut zusammen, um es mit NATTRADIO erneut zu versuchen.
Die Erfahrungen, die das Duo mitbringt, sind hörbar aus einer vergangenen Generation. Und das meint der Verfasser voll und ganz anerkennend. NATTRADIO ist eine kleine Zeitreise in die Neunziger, in eine Zeit, in der sich von Doom Death-Bands etwas abkoppelte, das nicht rein Gothic Metal war, sondern auch Dark Wave, Post Punk und Alternative integrierte. Die Geburtsstunde der modernen KATATONIA, nämlich „Discouraged Ones“ und „Tonight’s Decision“ ist hier überdeutlich zu hören, aber auch PARADISE LOST der „Icon“- und „Draconian Times“-Ära sind gegenwärtig. Sprich: So richtig originell sind NATTRADIO nicht, aber angesichts der Tatsache, dass KATATONIAs vergangene Alben reichlich blutleer ausfielen, tut diese Zeitreise sehr gut.
„The Longest Night“ ist ein Trip in die Vergangenheit: NATTRADIO klingen wie KATATONIA, als diese den Doom-Death hinter sich ließen.
Beide Protagonisten sind in ihren Disziplinen überaus begabt. Niklas Brodds Songwriting, gerade im Bereich der Riffs und Leadgitarren, erinnert mal an Greg Mackintosh, dann wieder an Anders Nyström. Daraus entstehen Songs, mal heavy, mal melancholisch, meistens aber ziemlich catchy. Somit wird aus „The Longest Night“ ein sehr abwechslungsreiches Album. „Allright For Now“ hat schon fast offensives Hitappeal, „Rainbirds“ ist im Gegensatz dazu ein leises, subtiles, tieftrauriges Stück. Dazwischen probieren sich NATTRADIO in verschiedenen Formen aus. Martin Bomanns, deutlich an Jonas Renkse erinnernde Stimme, passt sich an das Songmaterial hervorragend an. Er bleibt sanft, introvertiert und ist dabei sehr eindringlich.
So deutlich NATTRADIOs Einflüsse sind, so prägnant ist, wie sich die Protagonisten präsentieren. Dass sie auf „The Longest Night“ für sich stehen, ihre Talente im Verbund aber vollständig wirken, zeugt von songschreiberischer Qualität. Etwas unglücklich ist, dass der Opener „Shadow Speaker“ zu zäh beginnt und erst in der zweiten Hälfte seine Form findet. Also etwas Geduld, denn dann geht es Schlag auf Schlag: In „Sketches From The Dark“ und „Shifting Baseline“ dominieren triste, aber sehr eingängige Riffs, die klug variiert werden und in bedrückenden Refrains enden. „Dark Streets“ und „Night“ lassen dann den Metal weitgehend hinter sich, positionieren sich im Gothic Rock, lassen die Gitarren über weite Strecken beiseite, addieren dafür elektronische Beats und Synthesizer für einen recht urbanen Gesamteindruck. Kurz: Hier zeigen sich NATTRADIO von ihrer besten Seite, auch weil sie Dynamik geschickt zu nutzen wissen. Lediglich gegen Ende, mit dem knapp dreizehnminütigen, etwas ermüdenden Titelsong verlieren NATTRADIO von ihrer Faszination. Man darf nachsichtig sein, in der endlosen Nacht verschwimmt die Zeit nun mal gerne.
Dass „The Longest Night“ nicht perfekt ist, lässt das Album so intensiv werden. NATTRADIOs Zweitwerk ist lebendig und geht in den besten Momenten unter die Haut.
„The Longest Night“ ist somit kein perfektes Album. Ein paar Songs haben Längen und mangelnde Originalität ist auch so ein Thema. Und doch ist NATTRADIO ein viel emotionaleres Werk gelungen, als es KATATONIA in den vergangenen Jahren vorweisen konnten. Schließlich geht es hier um das pralle Gefühl. So sehr, dass mancher Kitsch in Kauf genommen wird. Dieser Mut lässt „The Longest Night“ zu einem faszinierenden, überraschend starken Album werden, das aufgrund seiner Vielzahl an wirklich guten Songs dazu einläuft, sie immer wieder zu hören. Dabei verweigert es sich so wunderbar dem Zeitgeist, immer fetter zu produzieren und technisch komplexer spielen zu müssen. NATTRADIO beweisen Mut, indem sie keine Perfektion anstreben, Mut in Sachen Stil und Sounddesign 25 bis 30 Jahre in der Vergangenheit leben, Mut ihre Einflüsse bewusst zu leben. Diese Authentizität zahlt sich aus: Mit einem Album wie „The Longest Night“, das mitunter verdammt gut und sehr intensiv geworden ist, rechnen nicht mal die einsamsten Nachtwächter ihren langweiligsten Schichten.
Wertung: 7 von 9 Nachtschichten
VÖ: 12. Dezember 2025
Spielzeit: 52:17
Line-Up:
Niklas Brodd
Martin Bomann
Label: Darkness Shall Rise Productions
NATTRADIO „The Longest Night“ Tracklist
1. Shadow Speaker
2. Sketches From The Dark (Official Video bei Youtube)
3. Allright For Now (Official Video bei Youtube)
4. Dark Streets
5. Night
6. Shifting Baseline
7. All For Now
8. Rainbirds
9. The Longest Night
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