Na sowas, im Bücherregal des Verfassers steht ein seltsames Stück Poesie von Christian Bök namens „Eunoia“, dank ULVERs „A Quick Fix Of Melancholy“. „Eunoia“, das kürzeste englische Wort, das alle fünf Vokale enthält, kommt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie „schönes Denken“ und das passt doch absolut zu den Poeten ENVY. ENVY, die auf diesen Seiten irgendwie zu kurz gekommen sind – wo war der Verfasser, als „A Dead Sinking Stoy“, als „Insomniac Doze“ das Licht der Welt erblickten? – hatten nicht nur mit einer bewegten jüngere Vergangenheit durch die On-Off-Beziehung mit Sänger Tetsuya Fukagawa und weiteren kritischen Line-Up-Wechseln zu kämpfen, an ihnen ist auch der Zeitgeist vorbeigezogen, und doch haben sie sich wacker gehalten.
Ihren Stil haben ENVY schon vor Jahrzehnten gefunden und zuletzt durch den einen oder anderen thrashigen und brachialen Moment aufgepeppt. Insofern ist es ein wenig gemein, bei Alben wie „The Fallen Crimson“ von Dienst nach Vorschrift zu sprechen. Doch Hand aufs Herz: Im Großen und Ganzen hat es sich die japanische Formation schon in ihrer Komfortzone gemütlich gemacht. Es ist ja auch schwer, etwas draufzusetzen auf etwas, das eigentlich schon perfekt ist, etwas, das mit mehr Epik oder Zusätzen wie Streicher nur schlechter und kitschiger werden würde. Für ihr achtes Album „Eunoia“ wählen ENVY nun einen anderen, tatsächlich etwas überraschenden Weg: den der Verknappung.
Trotz des Verbleibs in der Komfortzone denken ENVY ihr Songwritning neu: „Eunoia“ kommt schnell auf den Punkt.
In nur 30 Minuten sagen ENVY dieses Mal alles, was sie sagen müssen. Dass sie so konsequent auf den Punkt kommen, steht der Band sehr gut zu Gesicht, vor allem, weil sie dennoch genügend Dynamik und Emotion in die Musik einfließen lassen. Mit „Imagination And Creation“ legen ENVY nach einem kurzen Intro in weniger als vier Minuten das große Gefühlskino vor, mit den typischen schwebenden Gitarren, aber auch chaotischem Drumming, das sich kurz in Richtung Blast Beat steigert, und der leidenschaftlichen Stimme, die von dem typischen Spoken Words über melodischen Gesang bis hin zu Screams reicht und so die Musik in jeder Phase passend unterstreicht.
Na klar, melodiöse, shoegazige Post Rock-Stücke wie „The Night And The Void“, „Beyond The Raindrops“ und das abschließende „January’s Dusk“ sind kitschig und haben auch im kompakten Kontext mit der einen oder anderen Länge zu kämpfen, aber hey, ENVYs Kitsch ist trotz allem einfach schön. Und weil sie es damit nicht überstrapazieren – ist ja auch keine Zeit dafür auf „Eunoia“ – bleibt es durchgehend mitreißen. ENVY wechseln all das mit eher klassischen Screamo-Momenten wie in „Whiteout“ ab, und darum funktioniert „Eunoioa“ in seiner Gesamtheit ziemlich gut. Und wenn es, wie im Zweiteiler „Lingering Light“ und „Lingering Echoes“ von atmosphärisch hin zu impulsiv fließt, dann wird sofort deutlich, dass die Japaner packendes Songwriting nicht verlernt, sondern im Gegenteil, sogar noch ausgebaut haben.
Mitreißend, trotz einiger Längen in den zahmen Stücken: Die große Stärke von „Eunoia“ liegt in der Dynamik und den entfesselten Momenten ENVYs.
Je ein neues Album von MONO und ENVY in nur einem Jahr, das gab es zuletzt 2006. So wird es überdeutlich, dass beide Bands nicht nur ihres Herkunftslandes, der üppigen Laut-Leise-Dynamik und der Tremologitarren wegen, spürbar verwandt sind. Denn beide Formationen hatten es in den 2010ern schwer, ihrem Ruf gerecht zu werden, und haben trotz jahrzehntelanger stilistischer Stagnation mittlerweile wieder zu einer guten Form gefunden, bei der es auch gar nicht darauf ankommt, ob hier noch neue Impulse gesetzt werden, solange die Musik authentisch ist. ENVY mögen aus der Zeit gefallen sein, aber sie schaffen es immer noch mit viel Dynamik und noch mehr Gefühl, ihr Publikum zu berühren. Und der neuen Kompaktheit wegen, vielleicht sogar zielgerichteter als in den vergangenen 15 Jahren. Da sieht man mal, was das „schöne Denken“ alles erreichen kann.
Wertung: 6,5 von 8 Vokale
VÖ: 11. Oktober 2024
Spielzeit: 30:14
Line-Up:
Nobukata Kawai – Guitar
Manabu Nakagawa – Bass
Tetsuya Fukagawa – Vocals, Programming
Tsuyoshi Yoshitake – Guitar
Yoshimitsu Taki – Guitar
Hiroki Watanabe – Drums
Label: Pelagic Records
ENVY „Eunoia“ Tracklist:
1. Piecemeal
2. Imagination And Creation
3. The Night And The Void
4. Beyond The Raindrops (Official Audio bei Youtube)
5. Whiteout (Official Audio bei Youtube)
6. Lingering Light
7. Lingering Echoes
8. January’s Dusk
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