Metal und Klassik. Ist das tatsächlich eine immerwährende Liebesbeziehung? Immerhin habe zumindest in den Augen Joey DeMaios (MANOWAR) Richard Wagner ja seinerzeit den Heavy Metal überhaupt erst erfunden. Unmittelbar maßgeblich ist das für „The Poetic Edda“ aber wohl weniger: Bach und Vivaldi seien neben MALMSTEEN die größten Inspirationsquellen für die vier Tracks der EP gewesen, so die beteiligten Musiker.
Zu hören ist das am deutlichsten in „Winter“, wo sich DISEMBODIED TYRANT und SYNESTIA tatsächlich dem namengebenden Concerto No. 4 der „Vier Jahreszeiten“ annehmen und Vivaldis vielleicht berühmtester Komposition ein symphonisches Deathcore-Gewand überstülpen. Das ist gewagt, das ist vielleicht sogar frevelhaft und resultiert in all seiner Tollkühnheit doch in einem überraschend packenden EP-Finale. Violine und Streicher duellieren sich mit der flinken Leadgitarre, die immer wieder das Originalstück zitiert, um so der überbordenden Reizüberflutung einen roten Faden zu schenken.
Die Orchestrierung ist ein zentraler Aspekt von „The Poetic Edda“
In gewisser Weise ist „The Poetic Edda“ schließlich ein recht typisches Genrewerk für das Jahr 2024: Produktionstechnisch bewegt sich das Gespann am Anschlag, während es gottlose Breakdowns mit bitterbösen Grunzern versieht oder wahnsinnig schnell gespielte Gitarren mit einem Orchesterbombast zukleistert, der beim ersten Aufeinandertreffen geradezu in Orientierungslosigkeit ausarten kann.
Dass somit LORNA SHORE die naheliegende Referenz sind, steht wohl außer Frage, obgleich sich Solokünstler Blake Mullens (DISEMBODIED TYRANT) und das Duo von SYNESTIA in einer Hinsicht durchaus von den US-Amerikanern abheben. Schon im Opener „Death Empress“, wo Violine und Gitarre zwischenzeitlich den Schulterschluss praktizieren, erfährt die Orchestrierung eine ganz andere Gewichtung. Mehr als nur ein Vehikel für Pomp und Melodie scheinen die Arrangements tatsächlich um die barocken Einflüsse herumgestrickt. Selbst wenn „I, The Devourer“ zwischen Blasts und Doublebass-Gewitter die Intensität an den Rand des Erträglichen schraubt, formen Piano, Chöre und Orchester zunächst das Fundament des Stücks.
DISEMBODIED TYRANT und SYNESTIA setzen mittels bewährte Stilmittel auf Durchschlagskraft
Was nicht bedeutet, dass das Trio den Schwerpunkt nicht auch mal verschieben kann: Gerade die zweite Hälfte des Tracks löst sich völlig überraschend von der bisherigen Marschrichtung, um mittels vergleichsweise moderner Synths und Riffs in einen abschließenden Breakdown überzuleiten. Hier reduzieren DISEMBODIED TYRANT und SYNESTIA die Geschwindigkeit in ähnlich krasser Weise, wie es LORNA SHORE oder SIGNS OF THE SWARM zu tun pflegen – nicht immer originell, doch mit Blick auf die häufigen Tempowechsel effektiv.
Als solche lässt sich überdies die Entscheidung bezeichnen, für den Titeltrack mit Ben Duerr (SHADOW OF INTENT) einen der besten Frontmänner des Genres als Gast anzuheuern. Der Shouter schenkt der teils cineastischen Qualität des Stücks punktuell noch mehr Durchschlagskraft und uns die Erkenntnis, dass es Wagner vielleicht gar nicht gebraucht hätte, wenn sich doch auch auf den Schultern Vivaldis und Bachs eine solche Urgewalt formen kann, wie es „The Poetic Edda“ 20 Minuten lang demonstriert.
Veröffentlichungstermin: 03.05.2024
Spielzeit: 20:22
Line-Up
SYNESTIA:
Sam Melchior – Gitarre, Orchestrierung
Ville Hokkanen – Vocals
DISEMBODIED TYRANT:
Blake Mullens – Vocals, Gitarren, Orchestrierung
Produziert von Blake Mullens
Label: Eigenproduktion
Facebook: https://www.facebook.com/p/Disembodied-Tyrant-100090651215777/ / https://www.facebook.com/p/Synestia-100068127064729/
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Bandcamp: https://synestia.bandcamp.com/album/the-poetic-edda
DISEMBODIED TYRANT / SYNESTIA “The Poetic Edda” Tracklist
1. Death Empress (Video bei YouTube)
2. I, The Devourer (Lyric-Video bei YouTube)
3. The Poetic Edda (Lyric-Video bei YouTube)
4. Winter (Video bei YouTube)