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BELL WITCH: Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate

BELL WITCH läuten eine neue Trilogie ein: „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ ist ein Epos, das erforscht werden will und das Potenzial hat, Trost in dunklen Zeiten zu spenden.

Auf diesen Trauermarsch werden wir eingestimmt mit viereinhalb Minuten auf der Orgel, gefolgt von einer subtilen fünfminütigen Basslinie. Wer dieses Intro als zu lang empfindet, ist vermutlich sofort raus. Aber mittlerweile dürften alle Hörer:innen, die es heavy mögen wissen, auf was sie sich bei BELL WITCH einlassen. Das Duo ist nicht dafür bekannt, schlampige Songs zu schreiben – wie auch, bei den Epen, die diese Formation seit ihrer Gründung schreibt? Dass sie mit „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ einen neuen Zyklus einleiten, ein musikalisches Triptychon aus drei Alben, von denen zumindest das erste, ähnlich wie „Mirror Reaper“ aus einem einzigen, 80minütigem Song besteht, überrascht also nicht wirklich.

Mit diesem Stück gehen die beiden Musiker aus Portland, OR allerdings weiter als zuvor – sie überschreiten die Grenze zu anderen Kunstformen. „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ atmet die Dramatik von Goreckis Dritter und die bildhafte, poetische Abstraktion von Andrei Tarkowski und folgt eher den Regeln großer Kompositionen oder des Storytellings denn traditionellen Songwritings. Es braucht Courage, sich dem Album zu nähern, doch so monolithisch „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ zu sein scheint, so zugewandt und warm ist es. Selbst in den Momenten, in denen die Riffs von Dylan Desmonds Bass alles zu zermalmen drohen und das langsame Drumming wie Peitschenschläge wirken, fängt „The Clandestine Gate“ die Rezipienten auf und spendet Trost – oder es wirft einen gnadenlos in die Hölle.

Film und klassische Musik sind mehr Einfluss für BELL WITCH als typischer Funeral Doom: „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ erzählt eine fiebrige Geschichte.

Mit gewöhnlichen Maßstäben lässt sich „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ nicht betrachten. Abermals schreiben BELL WITCH keine profanen Songs, das Stück ist eine einzige, lange Funeral Doom-Messe. Unterteilt in vier Sätze, was vermutlich der Aufteilung auf 4 LP-Seiten geschuldet ist, erzählt das monumentale Stück eine abstrakte Geschichte mit langem Atem und großer, innerer Ruhe. Aufgebaut ist „The Clandestine Gate“ eher wie ein Film mit fiebrigen Lyrics, die einer religiösen Vision entsprungen zu sein scheinen, mit langen Spannungsaufbauten und großen Gesten, bleiben aber stets nachvollziehbar: Die einzelnen musikalischen Bausteine werden immer wieder aufgegriffen und in neue Kontexte gesetzt.

Gerade das schafft es, dass BELL WITCH so unter die Haut gehen. Die sorgsam variierten Repetitionen graben sich subtil ins Unterbewusstsein und wirken nicht platt oder fad. Dazu spannt das Duo große dynamische Bögen, das Laute wird immer wieder von Stille unterbrochen, die Stille zerschneidet das Laute. BELL WITCH schaffen so rein als Duo ein großangelegtes Panorama. Auch ohne den obligatorischen Gastbeitrag von AERIAL RUINs Erik Moggridge wirkt „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ vollwertig, Chöre stehen neben extrem tiefen Growls und agieren beides sind Werkzeuge, um eine Geschichte zu erzählen. Zahlreiche Synthesizer und Orgeln füllen den Raum zwischen dem akzentuierten Drumming, den eruptiven Riffs und den melancholischen Bassmelodien. Gitarren werden hier zu keiner Sekunde vermisst, so sehr hat Dylan Desmond sein Spiel mittlerweile perfektioniert.

„Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ erschafft ein groß angelegtes Panorama: BELL WITCH agieren fern von klassischem Songwriting.

Bemerkenswert ist auch das an Hieronymus Boschs Visionen angelehnte Artwork von Jordi Diaz Alamà. Beim Betrachten des Covers parallel zur Musik ist es, als würde man mit einem göttlichen Auge über der apokalyptischen Szenerie wachen. Im Gegensatz zum Klagelied „Mirror Reaper“, das sich auf den Verlust des ehemaligen Drummers Adrian Guerra bezog und darum zirkulierte, setzt „The Clandstine Gate“ einen deutlich größeren Maßstab an: Die ganze Menschheit scheint mit dieser Threnodie gemeint zu sein. Cover und Musik zeigen auch auf, dass die ikonische Verbindung aus Bild und Musik auf „Mirror Reaper“, noch mehr Gewicht hatte, vielleicht weil es einfach ihr erstes aufsehenerregendes Epos war.

Weh tut das freilich nicht, denn BELL WITCH sind die, die (Doom) Metal zur Kunst werden lassen. Dank ihrem Blick über den Tellerrand und dem Gespür für maximal emotionale Musik, die in aller Tristesse ein Licht spendet, ist das Duo nicht etwa in einer stilistischen Sackgasse gelandet, sondern hat sich für andere Kunstformen geöffnet, die das Gesamtbild runder werden lassen. Auch die Komposition als solche ist so abwechslungsreich und sorgfältig durchdacht, dass – für Funeral Doom-Maßstäbe – keine Langatmigkeit entsteht.

Musik mit Eigenleben: BELL WITCH erlösen ihr Publikum mit „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ – oder werfen sie in die tiefste Hölle.

BELL WITCH sind auf ihrem – die „Stygian Bough“-Kollaboration inklusive – fünften Album ungebrochen ganz mit ihren eigenen Regeln unterwegs und folgen ihrer Urlogik und Intuition ohne die Ratio zu vernachlässigen. Ihre Musik braucht Zeit und Raum – und sie nimmt sich diese auch. Wer folgen kann, ist eingeladen, alle anderen bleiben eben draußen. „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ buhlt nicht um Aufmerksamkeit. Es ist, als wäre das Album eine Entität, als hätte es ein Eigenleben und wäre durch Dylan Desmond und Jesse Shreibman lediglich kanalisiert worden. Wer Musik nicht als bloßes Entertainment versteht, wer eine tiefe Ebene braucht, wer wahre Größe spüren will, wer entweder in die tiefsten Abgründe der Hölle geworfen oder erlöst werden will, hat hier ein Album, in dem man sich mit Haut und Haar verlieren kann.

Wertung: Weder nötig noch möglich

VÖ: 21. April 2023

Spielzeit: 83:15

Line-Up:
Dylan Desmond – Bass, Vocals, Synthesizer, Lyrics
Jesse Shreibman – Percussion, Vocals, Synthesizer, Organ, Piano

Label: Profund Lore

BELL WITCH „Future’s Shadow Pt. 1: The Clandestine Gate“ Tracklist:

1. The Clandestine Gate

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