Wir mögen doch einfach die Augen schließen und nur auf unseren Atem achten, rät uns SILENT PLANET-Sänger Garrett Russell zur Hälfte des Sets. Für einige Minuten bewusst Achtsamkeit zu praktizieren, haben wir auf einer Metal-Show bislang tatsächlich noch nicht erlebt. Doch vermutlich weiß der Frontmann nach einigen Wochen auf Tour ganz genau, wie nötig wir zu diesem Zeitpunkt ein paar Momente der Ruhe haben. Immerhin ließ bis zu diesem Zeitpunkt keiner der drei Support-Acts auch nur eine Sekunde locker: Vom energischen Post Hardcore der Opener AVOID über den verbissenen Auftritt VEXEDs bis hin zum Kardio-Workout mit LIKE MOTHS TO FLAMES ging es im Münchner Backstage Schlag auf Schlag.
All das jedoch steht uns bei unserer Ankunft am frühen Sonntagabend freilich noch bevor: Als sich gegen 18 Uhr die Tore der großen Werk-Halle öffnen, wirkt das Ambiente noch vergleichsweise entspannt. Der geschickt platzierte Merchandise-Stand legt gemeinsam mit weiteren Trennelementen nahe, dass die volle Kapazität der Location heute nicht benötigt wird. Dementsprechend gemächlich füllt sich die Arena bis zum offiziellen Showbeginn und darüber hinaus.
AVOID
Dass AVOID zunächst vor vergleichsweise lichten Reihen beginnen müssen, kann der Spielfreude der US-Amerikaner bei ihrem München-Debüt glücklicherweise nichts anhaben. Bei bester Laune sieht Frontmann Benny sogar darüber hinweg, dass der gewünschte Moshpit vorerst noch keine Formen annehmen will. Immerhin klatschen die Münchner:innen in „COWABUNGA“ munter im Takt, bevor sie in „Whatever“ vereinzelt sogar mit beiden Beinen vom Boden abheben.
Es dauert heute eben ein kleines bisschen, bis der Funke überspringt. Das ist weniger die Schuld AVOIDs, die vielleicht nicht immer absolut perfekt auf den Punkt sind, doch dafür umso mehr Leidenschaft in ihre Performance legen. Man scheint im Backstage schlicht und ergreifend etwas zurückhaltender in den Abend starten zu wollen, ohne sich dem Live-Potenzial der Post-Hardcore-Band grundsätzlich zu verschließen.
AVOID vermischen catchy Singalongs mit harten Ausbrüchen
Mit jedem Track kommt folglich auch mehr Bewegung ins Zentrum, so dass aus dem ersten kleinen Circle Pit in „Flashbang“ bis zum Finale „Song About James“ ein ganz respektables Getümmel wird. Mit catchy Singalongs und ein paar harten Ausbrüchen, die Fronter Benny Scholl mit fiesen Pig Squeals zu füttern weiß, ist ja auch ein buntes Potpourri geboten, das – im Gegensatz zu den recht wahllos zusammengeschnitten Videoprojektionen – einen roten Faden erkennen lässt.
Setlist AVOID – ca. 30 Min.
1. Burn
2. COWABUNGA
3. Whatever
4. If It Hurts
5. Flashbang
6. Split (Kill It)
7. Hostage At A Beach House Party
8. Song About James
Fotogalerie: AVOID










VEXED
Schluss mit lustig heißt es dann eine Viertelstunde später, als „Anti-Fetish“ mit massivem Groove den Weg ebnet. VEXED fackeln mit ihrem modern interpretierten Metalcore nicht lange, sondern zielen auf ein Maximum an Zerstörung ab. Das erreicht das Quartett mittels tief gestimmter Gitarren, einer völlig ungezügelten Bühnenperformance sowie einer überaus galligen Vocal-Performance, die uns anfangs noch auf dem falschen Fuß erwischt.
Shouterin Megan schenkt den Songs durch ihre giftigen Screams jedoch nicht nur Dringlichkeit, sie fordert selbige auch zurück. Ganz zufrieden scheint sie daher nicht mit der bayerischen Landeshauptstadt, die eben einige Augenblicke braucht, um sich zu akklimatisieren. So unerbittlich VEXED vorgehen, ist das durchaus verständlich, zumal die Lichtuntermalung aus permanentem Blitzlicht das Gesamtpaket nicht unbedingt verdaulicher gestaltet.
VEXED lassen nicht locker, müssen sich den Lohn aber erkämpfen
Immerhin bekommt das Backstage in „X My <3 (Hope To Die)“ erst eine Wall of Death und zum Ende des kompakten Sets sogar einen Circle Pit zustande, so dass die Brit:innen ihre Show letzten Endes standesgemäß beschließen dürfen. Ein solides Resultat, das mit etwas mehr Wertschätzung möglicherweise noch überzeugender ausgefallen wäre: Den halben Saal als langweilig abzustempeln kann man als Support-Act machen, neue Freunde findet man damit aber wohl nur bedingt.
Fotogalerie: VEXED















LIKE MOTHS TO FLAMES
Mit den Münchner:innen sind LIKE MOTHS TO FLAMES hingegen bestens bekannt. Erst im Vorjahr war das Quartett im Vorprogramm von LANDMVRKS an Ort und Stelle zu sehen. Was wir von den US-Amerikanern erwarten dürfen, ist somit kein Geheimnis. Dem will Fronter Chris Roetter offenbar gerecht werden, wenn er von der Meute ab der ersten Sekunde alles und noch mehr einfordert.
Es sei schließlich ein „Kardio-Workout“, gibt der Shouter vor: Gesprungen wird auf Kommando somit bereits beim Opener „Habitual Decline“, aber auch im Folgenden dürfen sich die Fans in „You’ll Burn“ weiterhin auf und ab bewegen, während sich die beiden Gitarristen Cody Cavanaugh und Zach Pishney ausgelassen im Kreis drehen. Hyperaktiver agiert eigentlich nur Roetter selbst, den laut eigener Aussage das High einholt, bevor er vollkommen erratisch über die Bühne stürmt und vor „I Solemnly Swear“ in großem Bogen um das Drumset vormacht, wie der gewünschte Circle Pit auszusehen habe.
Selbst die minutenlangen Ansagen können LIKE MOTHS TO FLAMES nicht ausbremsen
All das funktioniert schlussendlich ausgesprochen gut – wobei die Demonstration vermutlich nicht einmal nötig gewesen wäre. LIKE MOTHS TO FLAMES stehen offensichtlich vor einer treuen Fanschar, die selbst darüber hinwegsehen kann, dass die spärliche Lichtuntermalung eine einzige Katastrophe ist und sich Chris Roetter im Laufe der Show immer wieder in minutenlangen Monologen verliert. Da zudem der oftmals wacklige Klargesang Pishneys seit dem letzten Gastspiel kaum zugelegt hat, hinterlässt das Set jenseits des gut beschäftigen Pits in der Arena einen etwas schalen Beigeschmack. Schade, denn wie gut LIKE MOTHS TO FLAMES auch live sein können, zeigen sie heute mit dem packenden „What Do We See When We Leave This Place?“.
LIKE MOTHS TO FLAMES Setlist – ca. 40 Min.
1. Habitual Decline
2. Over The Garden Wall
3. You’ll Burn
4. I Found The Dark Side Of Heaven
5. What Do We Seen When We Leave This Place?
6. I Solemnly Swear
7. Burn In Water, Drown In Flames
8. Kintsugi
9. Bury Your Pain
Fotogalerie: LIKE MOTHS TO FLAMES













SILENT PLANET
Der lauten, forderndern Art der Vorbands setzen SILENT PLANET eine Art Kontrastprogramm entgegen. Die Bühne wirkt ohne jegliche Dekoration erstaunlich aufgeräumt, so dass sich unsere Blicke zunächst auf die abwechslungsreiche Videobegleitung richten. Atmosphärische Szenen zwischen Wäldern und Weltraum untermalen das intensive Set des Headliners auf durchdachte Weise. Dass die Projektionen auf Leintuch im Gegensatz zu kontrastreicheren LED-Tafeln bisweilen von der Lightshow verschluckt werden, ist ein kleiner Wermutstropfen, den das Quartett problemlos kompensieren kann.
Denn was noch mehr fesselt als die visuelle Ausgestaltung, ist die Bühnenpräsenz der Musiker, die im Fall von Frontmann Garrett Russell durchaus an Slam-Poetry erinnern kann, wenn er den akzentuiert dargebotenen Worten in „Panic Room“ mit Pathos und expressiver Gestik Nachdruck verleiht. Mit Charisma und aufrichtiger Bescheidenheit führt der Frontmann durch das Set, wechselt dabei spielend zwischen energischen Wutausbrüchen und introspektiver Nachdenklichkeit.
SILENT PLANET-Frontmann Garrett Russel zeigt sich authentisch und umsichtig
Zu erleben ist das in besonders intensiver Weise im umjubelt aufgenommen „Antimatter“, dessen Laut-Leise-Dynamik auch aufgrund des hervorragenden Audiomix als Live-Erlebnis noch packender wirkt. Als hier bei Gastsängerin Megan (VEXED) die Technik nicht so recht mitspielen will, ist Russell zudem umsichtig genug, ihr sein eigenes Mikrofon anzubieten. Das eigene Ego hat bei SILENT PLANET auch sonst keinen Platz: So darf in „Euphoria“ Gitarrist Mitchell Stark den Klargesang übernehmen, nachdem er bereits in „Collider“ zwischenzeitlich an den Sampler gewechselt war.
Alle spielen somit ihre Rolle, auch das Publikum: Während sich die Metalcore-Band mit jedem Song um neue Facetten bemüht, heizt sich die Stimmung in der Arena auf natürliche Weise immer weiter auf, bis sie im heftigen „Anunnaki“ in einer Wall of Death kulminiert. Dass nach dem stampfenden „Mindframe“ also ein kurzer Ruhepol tatsächlich nicht schlecht gewählt ist, weiß selbst Garrett Russell. Hier bittet er uns nämlich an dem eingangs erwähnten Experiment teilzunehmen: für einige Augenblicke ein wenig Achtsamkeit zu praktizieren.
SILENT PLANET verabschieden sich mit einer wichtigen Botschaft
Zur Interpretation von Hans Zimmers „Cornfield Chase“ aus dem „Interstellar“-Soundtack, schließen wir die Augen und lassen uns mitnehmen auf eine instrumentale Reise, die SILENT PLANET schlussendlich in Shoegaze-Regionen führt. Ähnlich entrückt lässt bald darauf „Superbloom“ das Set ausklingen. Für den Titeltrack der aktuellen Platte greift Fronter Russell selbst zur Gitarre, während die Münchner:innen die Halle mit dutzenden Lichtern erhellen.
Ein versöhnlicher Abschluss, nicht aber das Ende des Abends. Für eine Zugabe kehren SILENT PLANET nochmals zurück, immerhin fehlt noch ein ganz besonderer Track. „Trilogy“ ist der vielleicht größte Hit der Formation, dessen Text während eines Aufenthalts in einer psychiatrischen Heilanstalt entstanden ist. Dementsprechend ist der Band diese abschließende Botschaft ein wichtiges Anliegen: Egal was passiere, man dürfe niemals aufhören, mit dem eigenen Umfeld zu kommunizieren.
Was so offensichtlich klingt, ist manchmal ungeheuer schwierig – daran lassen uns die US-Amerikaner ein letztes Mal voller Leidenschaft teilhaben, bevor es nach eigentlich kurzen, doch umso intensiver genutzten 65 Minuten hinaus in die kalte Nacht geht: erschöpft, aber mental auch ein kleines bisschen besser gewappnet für die Herausforderungen der kommenden Tage. Eigentlich verrückt, was man auf einer Metal-Show mit ein wenig Achtsamkeit bewirken kann.
SILENT PLANET Setlist – ca. 65 Min.
1. Offworlder
2. Collider
3. Euphoria
4. Dreamwalker
5. Antimatter
6. Panic Room
7. Wick
8. :Signal:
9. Anunnaki
10. Mindframe
11. Corn Field Chase (Interstellar Soundtrack)
12. The Overgrowth
13. Panopticon
14. Nexus
15. Superbloom
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16. Trilogy
Fotogalerie: SILENT PLANET












Fotos: Tatjana Braun (https://www.instagram.com/tbraun_photography/)