ÄNGLAGÅRD: Stockholm, Medborgarhuset, 11.06.2003

Die triumphale Rückkehr der schwedischen Progrock-Götter!

Die triumphale Rückkehr der schwedischen Progrock-Götter!

Während wenige Kilometer entfernt Ricky Martin bei strömendem Regen ein Open Air-Konzert in Gröna Lund gab, versammelten sich vergangene Woche knapp 200 Musikliebhaber im Medborgarhuset zu Stockholm. Denn dort spielten ÄNGLAGÅRD ihr erstes Konzert seit knapp neun Jahren. Zuvor hatte die Band etlichen Monate im Proberaum verbracht, alte Stücke entstaubt und neue Meisterwerke geschrieben.

Natürlich lag vor dem Auftritt eine große Spannung in der Luft, zumal viele Leute – mich eingeschlossen – die Band erst nach ihrem Auseinanderfallen Ende 1994 kennengelernt hatten. Bevor es losging, erlebte ich allerdings noch etwas sehr Ungewöhnliches. Während anfangs alles nach einem gewöhnlichen Rockkonzert aussah, holten sich nach und nach alle Anwesenden einen Stuhl aus dem Foyer. Einfach so. Schließlich organisierten sich auch die etwas verunsicherten Fans, die bereits seit anderthalb Stunden in der ersten Reihe ausgeharrt hatten, eine Sitzgelegenheit.

Kurz nach 21 Uhr ging dann die Saalbeleuchtung aus. Ein wirres Intro erklang und Thomas Johnson betrat die Bühne. In aller Ruhe checkte er sein Keyboard-Arsenal, während ich langsam ungeduldig wurde. Doch nach mehreren Minuten verstummte endlich das Intro und das Warten hatte ein Ende.

Thomas

Mit dem Rücken zum Publikum spielte Thomas die ersten getragenen Takte von Saknadens Fullhet. Unterdessen betraten die restlichen Bandmitglieder die Bühne. Nach dem kurzen Klavierstück ging es direkt mit Höstsejd weiter. Und was soll ich sagen!? ÄNGLAGÅRD waren zurück!

Die Musik ist auf Platte schon eine Achterbahnfahrt. Doch live klang alles noch dynamischer und noch leidenschaftlicher. Mattias Olssons Schlagzeugspiel wohnte bei allen technischen Raffinessen immer noch so etwas wie jugendlicher Leichtsinn inne. Da er im Gegensatz zum Rest der Band nicht an die vorgegebenen Harmonien des Stücks gebunden war, warf er an den unmöglichsten Stellen kleine Wirbel ein und verzögerte vermeintlich entscheidende Schläge derart gekonnt, dass die Musik oftmals einen geradezu humoristischen Touch bekam. Zwischendurch griff er außerdem noch zur Gitarre und schnallte sich schließlich sogar ein Akkordeon um, ehe das Lied nach mehr als einer Viertelstunde in einem furiosen Crescendo endete.

Mattias

Kaum war die letzte Note verklungen, brach ein wahrer Sturm der Begeisterung und der Erleichterung los. ÄNGLAGÅRD waren wirklich zurück! Ein Gefühl jenseits jeder Gänsehaut erfasste mich, wie ich es nicht einmal beim Bang Your Head 2000 erlebt hatte, als WATCHTOWER nach einem Jahrzehnt Pause wieder gemeinsam auf der Bühne standen.

Nach einer Minute ebbte der Applaus langsam ab und Anna Holmgren trat sichtlich gerührt ans Mikrophon. Leider verstand ich die schwedischen Ansagen größtenteils nicht, was angesichts der musikalischen Klasse des Abends aber verschmerzlich war.

Es folgte das neue Lied Nummer 1. Bass und Gitarre begannen leicht versetzt eine Melodie zu spielen, ehe die Flöte einsetzte. Wenig später schwoll das Stück etwas an. Schließlich setzte das Schlagzeug richtig ein, und die Gitarre drängte sich vorrübergehend in den Vordergrund. Dann ging alles ganz schnell. Hier ein Bassbreak, dort eine Saxophonmelodie, dann ein schneller Orgelpart von Thomas Johnson, der sich bis dahin eher zurückhaltend in das Stück eingebracht hatte. Mittendrin bremste die Band abrupt ab, nur um kurz darauf umso energischer zur Sache zu gehen. Gegen Ende wurde wieder eins der Anfangsthemen aufgegriffen und zu einem elegischen Schlussteil versponnen.

Insgesamt wirkte das Lied auf mich weniger düster als das Epilog-Album, mit dem es ansonsten viel gemein hat. Klassische Songstrukturen suchte man vergebens, obwohl zugleich alles wie aus einem Guss klang. Typisch ÄNGLAGÅRD eben.

Anna

Die Zuhörerschaft war während des Stücks absolut still gewesen, brach aber gleich darauf in Jubel aus. Gitarrist Jonas Engdegård, der bis dahin eher ruhig am linken Bühnenrand vor sich hingespielt hatte, ergriff das Wort und bedankte sich abermals für den Beifall. Dann erzählte er in einem flotten Tempo irgendeine ausschweifende Geschichte, die darauf hinauslief, dass als nächstes Gånglåt Från Knapptibble auf dem Programm stand.

Die Band hatte das Lied an einigen Stellen überarbeitet, wobei sämtliche Änderungen absolut schlüssig erschienen. Im Mittelpunkt stand einmal mehr Anna Holmgren, die am vorderen Bühnenrand ständig zwischen Flöte, Saxophon und Keyboard hin- und herwechselte, ohne dabei auch nur einen einzigen Einsatz zu verpassen. Außerdem griff sie bisweilen zu einem Stylophon, mit dem sie bei diesem Stück den fehlenden Gesang imitierte.

Überhaupt vermisste ich Tord Lindman, der vor zehn Jahren Gitarrist und Sänger der Band war, so gut wie gar nicht. Die fünf verbliebenen Bandmitglieder agierten absolut souverän und hatten keinerlei Probleme damit, die komplexen Kompositionen würdig umzusetzen.

JohanDanach war Bassist Johan Brand mit seiner Ansage an der Reihe, ehe der zweite neue Song – neues Lied Nummer 2 – mit epischen Klangteppichen begann. Eine melancholische Klaviermelodie suchte sich ihren Weg in Richtung Publikum. Eine traurige Flöte leistete ihr alsbald etwas Gesellschaft. Dann begann das Stück begleitet von Glockenspielklängen zu fließen. Die Gitarre umspielte verträumt die Flötenmelodien, während das Schlagzeug im Hintergrund immer bedrohlicher anschwoll. Schlussendlich mündete das alles in ein ausladendes Progrockgewitter. In kleinen Nischen versteckten sich aber auch sanfte Passagen, in denen die Flöte wunderschöne Töne spielte.

Nach ungefähr der Hälfte des Songs kulminierte die Spannung zudem in einer eingängigen, bittersüßen Sequenz. Diese wurde wenig später geschickt moduliert, ehe nach einer kurzen Entspannung die besagte Sequenz in ihrer ganzen Melancholie wieder aufgegriffen wurde. Danach schien sich das Stück etwas zu verlieren, bis nur noch ein Drumloop übrig blieb. Doch dann setzte die gesamte Band zu einem furiosen Finale ein. Thomas Johnson, im normalen Leben wohl das ruhigste Bandmitglied, flippte richtiggehend aus und ging so sehr mit, dass ihm die Brille von der Nase fiel!

Das einzige, was dem Lied jetzt vermutlich noch fehlt um ein neuer Bandklassiker zu werden, ist ein ordentlicher Titel.

Frenetischer Applaus war die logische Konsequenz. Das Konzert dauerte bereits länger als eine Stunde, was aber den meisten erst richtig bewusst wurde, als Mattias Olsson das letzte Lied ankündigte. Zum ersten und einzigen Mal an diesem Abend spielten ÄNGLAGÅRD eine Nummer von Hybris, dem Album mit dem die Band 1992 der gesamten Progrock-Welt gezeigt hatte, wie man es besser macht.

Schon ab den ersten Klaviertönen von Jordök befand ich mich im siebten Himmel. Kleinere Schnitzer machte die Band problemlos durch ihre ungeheure Spielfreude wett, und selbst dem verpassten Schlagzeugeinsatz von Mattias wurde mit Humor statt mit Ärger begegnet. Zur Abwechslung gab es bis auf den Einsatz einer Theremine kaum Veränderungen zur Studioversion, so dass selbst Puristen danach hellauf begeistert waren, die Band mit Standing Ovations feierten und lautstark eine Zugabe forderten.

JonasSo kamen ÄNGLAGÅRD auf die Bühne zurück und zauberten mit Sista Somrar ein weiteres As aus dem Ärmel. Das ruhige Intro ging direkt unter die Haut, die dramatischen Gefühlsausbrüche quälten meine Seele, die eingestreuten Melodiefragmenten berührten mein Herz.

Gleichzeitig verfolgte ich ergriffen das Treiben auf der Bühne. Dort gab es keine Spur von früheren Streitereien. Alle gingen voll und ganz in der Musik auf. Anna genoss ganz offensichtlich endlich wieder die Musik zu spielen, während Mattias mit einer unglaublichen Präzision und wehenden Haaren sein Schlagzeug bearbeitete.

Das Ende des Lieds war komplett überarbeitet und um eine herrliche Flötenstimme ergänzt worden. Das setzte dem ohnehin schon sensationellen Konzert die Krone auf. Erschöpft aber glücklich erntete das Quintett den Beifall des begeisterten Publikums.

Das wollte seine Helden aber nicht ziehen lassen, sondern lärmte so lange, bis ÄNGLAGÅRD ein weiteres Mal die Bühne betraten. Jonas holte tief Luft, und ehe jemand eingreifen konnte, begann er eine Ansage. Sie handelte wohl davon, dass die Band kein weiteres Lied geprobt hatte, dass sie deshalb auch keins mehr spielen würden, dass sie aber überglücklich über die positive Resonanz wären. Johan nahm ihm letztlich das Mikrophon aus der Hand und verabschiedete sich. Anna folgte seinem Beispiel und verließ dann mit einem Strahlen im Gesicht und dem Rest der Band im Schlepptau die Bühne.

Mit diesem Konzert haben ÄNGLAGÅRD meine kühnsten Erwartungen übertroffen und zugleich gezeigt, dass sie anno 2003 nicht um der guten, alten Zeiten Willen wieder zusammen spielen. Im Gegenteil, mit den beiden neuen Liedern demonstrierten sie eindrucksvoll, dass die Band nach vorne schaut, und nicht in der Vergangenheit lebt.

Bilder: Petter Sundlöf

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