WARDRUNA(was im Übrigen gleichermaßen „Hüter von Geheimnissen“ und „Die, die flüstert“ bedeutet) sind in keiner Hinsicht mit typischem Metal assoziierbar, natürlich. Und dennoch hören Metalheads aus aller Welt den Klängen des folkloristischen Gespanns rund um Einar Selvik und LINDY-FAY HELLA. Aber da hört es nicht auf, denn der Bekanntheitsgrad des Projekts wächst weit über die Grenzen der Szene gitarrenliebender Schwarzklamottenträger hinaus. Selvik war mit seinem Schaffen bereits in der Serie „Vikings“ und dem Videospiel „Assassin’s Creed Valhalla“ zu hören. Die Reichweite des musikalischen Ausnahmeprojektes steigt somit zusehends. Und doch bleiben die Künstler stets bodenständig. Man wirft nicht reihenweise neues Material auf den Markt oder verliert sich im Kitsch immer massentauglicher werdender Musik.
Die Songs von WARDRUNA waren nie für leichte Kost oder gar Popcharakteristiken bekannt. Und eben das ist es, was die Musik zu etwas so Besonderem macht.
Ganze vier Jahre musste ich auf das neue Album warten. Ja, förmlich warten. Denn als Fan der ersten Stunde fiebere ich solcherlei Releases immer entgegen. Beschreibt der Zyklus der „Runaljod-Trilogie“ („Gap Van Ginnunga“ – 2009, „Yggdrasil“ – 2013 und „Ragnarok”- 2016) den meiner Meinung nach Beginn einer ganz eigenen Musik-Subkultur, überrascht Selvik in seinem Solo-Werk „Skald”-2018 mit erfrischendem Minimalismus. Hier waren es die Essenz und die Reduktion auf das Wesentliche, was die Scheibe so besonders machten. „Kvitravn“ aus dem Jahre 2021 kommt dafür umso voluminöser daher und bietet das größte Repertoire an traditionellen Instrumenten, was WARDRUNA je aufbot.
Und nun, da soll „Birna“ (die Bärin / engl. She-Bear) ein weiteres Mal Menschen in aller Welt berühren. Bereits ein erstes Anspielen des neuen Materials trieb mir beinahe Tränen der Freude in die Augen. Es ist einfach unglaublich, was hier passiert!
Musikalisch sind WARDRUNA ihrem Stil selbstredend treu geblieben. Und doch ist der am 24.01.2025 erschienene Longplayer so viel mehr als einfach nur ein neues Album.
Der Fokus liegt (zumindest in den ersten zwei Dritteln der Scheibe) auf Winter und steht im Zeichen der Natur, was einem umgehend klar wird, auch ohne die Lyrics gelesen zu haben. Vorrangig wird hier beschrieben, wie sich die Gestalt der Bärin, verdrängt durch die Moderne, immer weiter zurückzieht. Dieser Rückzug wird symbolisiert durch den Winterschlaf, der zwar alles erneuert, doch durch das Fehlen des beinahe magischen Wesens beginnt der Wald als Verkörperung des Lebens an sich zu sterben.
Sehr mystisch steigt man im ersten Track „Hertan“ (Herz) mit nachhallendem Herzschlag ein. Immerfort den Rhythmus vorantreibend beschreibt ebendieser den Takt des Titels. Man erkennt hier den Anfang eines Kreislaufes. Das Album beginnt mit dem Winterschlaf, dem Rückzug unter die Erde und dem Verschwinden aus unserer Welt.
Deutlich langsamer, aber nicht weniger ausdrucksstark, geht es mit dem Song und Namensgeber des Albums „Birna“ im Zyklus weiter. Hier wird die Bärin, als mystifiziertes Wesen und als Geschöpf voller Wunder, Stärke und Weisheit verehrt. Es wird versucht, von ihr zu lernen, ihr quasi gleich zu werden. Schon immer war der Bär eine sagenumwobene Gestalt beinahe aller Völker der Nordhalbkugel. Die Magie, die von dem Tier, welches uns gar nicht mal so unähnlich ist, ausgeht, war es, was Einar Selvik beim Songwriting inspiriert hat.
„Ljos til Jord“ (Licht zu Erde) klingt, als dritter Titel des Albums, aufgewühlt und verströmt eine Stimmung der Rastlosigkeit. Es wird die Reise in die Welt des Winterschlafes beschrieben. Eine Reise in die Welt der Träume. Die Rückkehr unter die Erde, hinein in die Geborgenheit. Der Winterschlaf, als das alles besiegelnde Ende und schlussendlich als ein Neubeginn.
„Liv til daud, sumar til vinter, frå ljos til livmor“
„Vom Leben zum Tod, vom Sommer zum Winter, vom Licht zum Schoß (der Erde)“
„Dvaledraumar“ (Schlafende Träume) bezeichnet im bisher sehr rhythmischen Verlauf der Platte beinahe einen Umbruch. Das knapp fünfzehneinhalb minütige Stück verströmt pure Atmosphäre. Beginnend mit einem lange nachhallenden Rufhorn vernimmt man sogleich den unverwechselbaren Klang atmenden und singenden Eises, dessen Wiegenlieder die Träume von der warmen Jahreszeit begleiten. Ähnlich dem Gesang der Wale geht vom Klang des Eises, der nicht von dieser Welt zu kommen scheint, ein Zauber aus. Erzählt wird hier eine den gesamten Winter andauernde Geschichte. Dunkelheit und klirrende Kälte gehen über zu dahinplätschernden Harfenklängen und verlieren sich schließlich in von einer weit entfernt erklingenden Flöte begleitetem Vogelgezwitscher. Das Ende der dunklen Jahreszeit naht.
Und wo „Dvaledraumar“ endet, knüpft „Jord til Ljos“ (Erde zu Licht) nahtlos an. Eine liebliche, weibliche Stimme weckt die sich zur Ruhe gebettete Bärin, die Natur und alles um sie herum. Leise plätscherndes Wasser kündet von der Schneeschmelze, Vogelgesang zeugt vom nahenden Frühling.
Durch tiefe Bässe wird eine akustische Wärme erzeugt, die den Hörer beinahe die helle Frühjahrssonne spüren lässt.
„Himinndotter“ (Himmelstochter) beschreibt die Suche nach der Bär-Schwester oder dem Bär-Bruder. Auf ebendieser Suche finden sich nur Überreste. Man verfolgt rastlos einen Geist, der allgegenwärtig und doch unauffindbar ist. Beinahe panisch erkennt man hier, dass der Wald und das Leben dem Untergang geweiht sind, wenn die Himmelstochter, die Bärin, die Mutter und Schwester, nicht zurückkehrt. Kritisch geht WARDRUNA hier mit unserer immer moderner werdenden Welt ins Gericht. Zu weiblichem Chorgesang gesellt sich aufbäumend Einar’s unverwechselbarer Klargesang. Die schnellen Trommeln zeugen von der unaufhörlichen Suche und verkünden die erschreckende Erkenntnis zum Ende hin.
„Hibjørnen“ (Bär im Winterschlaf) ist, puristisch-minimalistisch ein Titel, wie ihn damals dem Album „Skald“ hätte entspringen können. Einzig Einar ist mit seiner Tagelharpa (Pferdeschwanzhaar-Harfe) und Klargesang zu hören. Es geht um den Winterschlaf als Ganzes, als Phase des Lebens – vom Ende des Jahres / dem Beginn der Ruhe bis hin zum Frühjahr. Im Titel werden auch hier der Lauf der Sonne, klirrende Kälte, Winter, Träume von Bienen und Wiesen und Feldern beschrieben. Die Welt, schlussendlich im Aufwachen begriffen, singt ihr eigenes Lied. Das Lied über das Wiedererwachen des Lebens.
Und genau an dieser Stelle wendet sich die Handlung. Fortan scheint es fast so, als dass der Handlungsstrang der Bärin und der Natur dem der Selbstreflexion weicht. Sowohl instrumental als auch textlich. Denn nun, war die Musik eben noch ruhig und friedlich, schreitet „Skuggehesten“ (Schattenpferd) schneller im Takt voran.
Eingeleitet durch fernen Donner und das Klappern von Hufen baut sich beinahe finster knisternde Spannung auf.
Indes stellt sich der Erzähler auf dem Rücken eines immer weiter voran preschenden Schattenpferdes seinen Ängsten und Abgründen. Ein Ausweg scheint unmöglich, denn das riesige finstere Tier ist kaum zu stoppen. Und doch ist da Licht und Hoffnung. Viel Raum für Interpretationen in alle möglichen Richtungen. Ich für meinen Teil erkenne hier das am meisten aufgewühlte Stück. Eine Art Rastlosigkeit schafft beklemmende Spannung.
„Tretale“, ins Deutsche mit „Die Stimme der Bäume“ zu übersetzen, fordert zur Standhaftigkeit auf. Standhaft wie tief verwurzelte Bäume. Es wird von ‘einer Stimme’ berichtet. Eine vielschichtige Stimme. So könnte man hier das Überstehen auch stürmischer Zeiten aufgrund von Geduld und dem Finden innerer Stärke behandelt sehen. Auch dieses Stück bietet viel Raum für Interpretationen. Langsam und beinahe hypnotisch schafft es der durch die tief klingenden Felltrommeln erzeugte Rhythmus, sich in eine selbstreflektierende Dunkelheit zu begeben.
„Lyfjaberg“, quasi als Finale von „Birna“ zu werten, da als letztes Stück auf dem Album zu hören, ist hingegen als einziges Stück nicht neu. Bereits 2020 entführte uns WARDRUNA auf der gleichnamigen Single zum Berg der Heilung, wie sich „Lyfjaberg“ übersetzen lässt. Rauschender Wind und das Stapfen von Füßen im Laub der Bäume des Waldes werden zum Rhythmus der Trommeln. Ein Marsch zu einem fernen Gipfel, der Heilung und Frieden verspricht, beginnt.
Der Berggipfel symbolisiert einen Ort der spirituellen Reinigung, wo die Seele in einem Zustand des Friedens und der Erneuerung verweilen kann.
Mit „Lyfjaberg“ findet dieses sechste Album von WARDRUNA ein fesselndes Ende. Hier liegt uns wieder ein Full-Lenght-Werk vor, das WARDRUNA unumstritten als die Meister ihres selbstbegründeten Genres kennzeichnet. Oft kopiert, nie erreicht. „Birna“ reiht sich nahtlos in die bisherige Diskografie ein, und steht doch, so fesselnd wie nachdenklich stimmend, für sich allein.
Veröffentlichungstermin: 24.01.2025
Spielzeit: 66:00
Line-Up:
Als Live-Band agieren WARDRUNA in verschiedenen personellen Konstellationen, aber das Standard-Line-up der letzten Jahre ist, wie folgt:
Einar Selvik – Gesang, Taglharpa, Kravik Leier, Bukkehorn
Lindy-Fay Hella – Gesang
Arne Sandvoll – Percussion, Hintergrundgesang
Sondre Veland – Percussion, Hintergrundgesang
Eilif Gundersen – Bukkehorn, Lure, Flöte, Hintergrundgesang
HC Dalgaard – Schlagzeug, Percussion, Hintergrundgesang
John Stenersen – Moraharpa
Label: Sony Music
Homepage: https://wardruna.com/
Facebook: https://www.facebook.com/wardruna
Instagram: https://www.instagram.com/wardruna
WARDRUNA “Birna” Tracklist
- Hertan (Video Youtube)
- Birna (Video Youtube)
- Ljos til Jord
- Dvaledraumar
- Jord til Ljos
- Himinndotter (Video Youtube)
- Hibjørnen (Video Youtube)
- Skuggehesten
- Tretale
- Lyfjaberg (Video Youtube)