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INSOMNIUM: Anno 1696

Indem sich INSOMNIUM auf ihrem neunten Album in den Dienst der erzählten Geschichte stellen, ist “Anno 1696” mehr als die Summe seiner Teile und sollte daher auch bevorzugt bewusst und als Gesamtwerk konsumiert werden.

„Wähle einen Beruf, den du liebst, und du brauchst keinen Tag in deinem Leben mehr zu arbeiten.“, sagt bekanntlich der Volksmund. Geht man nach dieser Weisheit, dann dürfte Niilo Sevänen den Hauptgewinn gezogen haben: Nicht nur spielt sich der Bassist und Sänger mit INSOMNIUM seit vielen Jahren immer näher an die Speerspitze des Melodic Death Metal heran, auch sein Faible für Prosa kann der Musiker mit seiner Band frei ausleben. Wir erinnern uns an die vertonte Kurzgeschichte „Winter’s Gate“ (2016), während wir dem neuesten Streich der Finnen unsere Aufmerksamkeit schenken.

„Anno 1696“ erzählt abermals eine zusammenhängende Geschichte aus der Feder Sevänens, die uns – daraus macht bereits der Titel keinen Hehl – ins Finnland des ausgehenden 17. Jahrhunderts mitnimmt, wo Aberglaube und Gottesfurcht in den abgelegenen Regionen noch immer für Aufruhr sorgen: Mit Hexerei und Magie soll es zugehen, als in einem kleinen Dorf nahe der Wälder ein grausamer Mord passiert und ein Neugeborenes spurlos verschwindet. Der Leibhaftige persönlich habe seine Finger im Spiel, so der Verdacht, weshalb für die aufgebrachte Bevölkerung die Ankunft des berüchtigten Hexenjägers Johan Kalmanders nicht früh genug kommen kann.

Die Handlung von “Anno 1696” bietet den idealen Nährboden für die INSOMNIUM-typische Schwermut

Auch im Finnland des 17. Jahrhunderts kannte man offenbar bereits die eingangs erwähnte Volksweisheit: Kalmander brennt für seinen Beruf; und nach seiner Ankunft in aller Regel die überführten Sünderinnen. Es ist keine revolutionäre, aber doch eine spannende Prämisse, die INSOMNIUM für „Anno 1696“ gewählt haben, obschon die lyrische Aufarbeitung letzten Endes einige Lücken lässt und die beiliegende Kurzgeschichte somit zur Pflichtlektüre erhebt.

Für den charakteristischen Melodic Death Metal des Quintetts ist eine solche Kulisse derweil ein absoluter Glücksgriff, da die Handlung zwischen Trauer, Mystik und Tragödie den idealen Nährboden für die INSOMNIUM-typische Schwermut bildet. Dementsprechend schnell fühlen wir uns im Klangkosmos des Openers „1696“ wie zu Hause, wo es nach dem nachdenklichen Akustikintro unerwartet rabiat zur Sache geht. Tatsächlich entdecken die Finnen auf ihren neunten Studioalbum über weite Strecken den Furor wieder, den sie in der jüngeren Vergangenheit vielleicht etwas stiefmütterlich behandelt haben.

INSOMNIUM stellen sich als Musiker in den Dienst der erzählten Geschichte

„Anno 1696“ ist aggressiv und wild, ohne jedoch den Trademarks INSOMNIUMs abzuschwören. Wenn das Gespann mit Blastbeats und einem beherzt knurrenden Niilo Sevänen am Mikro das Tempo anzieht, ergänzt sich das sogar ganz hervorragend mit den typisch melancholischen Leadgitarren. Dabei stellen sich die Musiker immer in den Dienst der Geschichte: Das stampfende „White Christ“ kündet humorlos und entschlossen von der Ankunft des Hexenjägers Kalmanders, dem ROTTING CHRIST-Sänger Sakis Tolis eine unbarmherzige Stimme schenkt.

Trotz grundsätzlich härterer Herangehensweise flankieren INSOMNIUM die aggressiven Passagen mit versöhnlichen Momenten, wo beispielsweise Gastsängerin Johanna Kurkela dem ausladenden „Godforsaken“ zwischenzeitlich einen folkigen Anstrich à la ELUVEITIE verleiht. Auch die beiden Gitarristen Jani Liimatainen und Markus Vanhala dürfen in der zweiten Songhälfte ihren beruhigend-sanften Klargesang beisteuern, halten sich auf Albumlänge insgesamt jedoch etwas zurück – obgleich „The Unrest“ als Akustik-Stück vor dem Finale doch nochmals als Ruhepol fungiert.

“Anno 1696” ist eines dieser Alben, die mehr sind als die Summe ihrer Teile

Der Weg dorthin bietet im Prinzip alles, was wir von INSOMNIUM gewohnt sind und lässt uns dennoch die Augenbrauen hochziehen. Denn anders als zuletzt birgt „Anno 1696“ keine dezidierte Hit-Single, obschon das treibende „Lilian“ mit seiner prägnanten Lead-Gitarre in diese Kerbe zielt. Tatsächlich entfaltet der Großteil der Kompositionen erst im Kontext seine volle Wirkung: Wo uns manche Tracks isoliert betrachtet ein anerkennendes Nicken entlocken, erfahren sie im Verbund eine komplett neue Wertschätzung.

Anders formuliert: „Anno 1696“ ist eines dieser seltenen Werke, die mehr sind als die Summe ihrer Teile und dementsprechend erst im Gesamten ihre ganze Größe entfalten. In dieser Hinsicht jedenfalls beweisen INSOMNIUM viel Fingerspitzengefühl, indem sie die Spannungskurve konsequent zu ihrem Höhepunkt führen, der auf den letzten Metern von „The Rapids“ musikalisch aber leider doch nicht so dramatisch ausfällt, wie es das Ende der düsteren Mär nahelegt.

Zwar ist “Anno 1696” kein Magnum Opus, aber doch ein eindrucksvolles Stück Musik

Es ist ein kleiner Wermutstropfen, der nur deshalb ärgerlich ist, weil hier INSOMNIUM zum ersten Mal in diesen 50 Minuten nicht die Handlung selbst die Richtung diktieren lassen. Und doch bleibt „Anno 1696“ ein eindrucksvolles Stück Musik, bei dem man konzeptionell allerdings ganzheitlich denken muss. Dann jedenfalls bekommen wir zwar kein Magnum Opus, aber ein rundum stimmiges Werk, welches zugleich die Vermutung nahelegt, dass nicht nur Niilo Sevänen selbst, sondern letztlich auch wir mit dessen Berufswahl das große Los gezogen haben.

Veröffentlichungstermin: 24.02.2023

Spielzeit: 50:32

Line-Up

Niilo Sevänen – Bass and Vocals
Ville Friman – Guitars
Jani Liimatainen – Guitars and clean vocals
Markus Vanhala – Guitars and clean vocals
Markus Hirvonen – Drums

Produziert von Jaime Gomez Arellano (Mix) und Tony Lindgren (Mastering)

Label: Century Media

Homepage: https://insomnium.net/
Facebook: https://www.facebook.com/insomniumofficial/

INSOMNIUM “Anno 1696” Tracklist

1. 1696
2. White Christ (feat. Sakis Tolis) (Video bei YouTube)
3. Godforsaken (feat. Johanna Kurkela) (Video bei YouTube)
4. Lilian (Video bei YouTube)
5. Starless Paths
6. The Witch Hunter (Visualizer bei YouTube)
7. The Unrest
8. The Rapids

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