Im Deutschland des Jahres 2025 gibt es ein paar so zeitgeistige und tagesaktuelle Bands, dass es im Angesicht gefühlt sich stündlich ändernder Nachrichtenlagen und Situationsverschlimmerungen an ein Wunder grenzt, nach dem Albumrelease noch relevant zu sein. Dieses Profil trifft auch auf BERLIN 2.0 zu. „Kaltental“, ihr zweites Album, ist ein bitterer Kommentar zum postfaktischen Zeitalter, spiegelt dabei die Schere, die sich weiter auftut, angeheizt durch Desinformation aus Autokratien, und den Ländern, die es dringend werden wollen. Es ist dabei fast erstaunlich, dass BERLIN 2.0 nicht wie FEIND extremen Deathgrind spielen, sondern sich im Post Punk ansiedeln.
Natürlich ist das nur FAST erstaunlich. Blickt man auf die Bands der 1980er und ihre Coldwar-Lyrics mit all der Atomangst, wird schnell deutlich, dass diese Musik zumindest früher sehr am Puls der Zeit war. BERLIN 2.0 lassen diese Tradition wieder aufleben und starten ohne zu hadern mit einem Hit: „Keine Erlösung“ ist der Auftakt zu einem Panoptikum der schönen neuen Welt. Technologien, die vorgeben das Leben zu erleichtern, ihre Nutzer aber zu Sklaven machen. Da kann man schon mal die Contenance verlieren, und BERLIN 2.0 zeigen hiermit, dass Post Punk sehr nah am Hardcore liegen kann. Melodiös agiert die Band außerdem und spielt diese Stärke offensiv aus. Dabei nennt das Quintett aus Stuttgart ihr Genre nicht zufällig „Death Pop“ – denn „Kaltental“ setzt auf Eingängigkeit und zeichnet sich durch sehr gutes Songwriting aus.
Der „Death Pop“ von BERLIN 2.0 fußt auf Post Punk, Hardcore-Punk und einem Händchen für gutes Songwriting: Auf „Kaltental“ tummeln sich einige Hits
Trotz – oder wegen – ihrer Wut verlieren BERLIN 2.0 ihre Songs nicht aus den Augen. Sarkasmus, Bitterkeit und auch leise Hoffnung sind im „Kaltental“ angesiedelt. Sängerin Elena Wolf und ihre Band balancieren diese Extreme dabei sehr gut aus. „Sirenen“ und „Jahr ohne Sommer“ suchen sehnsüchtig Menschlichkeit und wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass Wahnsinn und toxische Aggression enden. Hier sind BERLIN 2.0 melancholisch und zeigen sich von ihrer intensivsten Seite. Dem gegenüber stehen mit „Gabionenzaun“ und „AZ!“ Midtemposongs, die trotz ihrer dynamischen Ähnlichkeit andere Ansätze wählen. Wenn Elena Wolf ihre Spoken Word-Parts verwendet, sich darin etwa über SUV-Fahrende und TEMU-Käufer lustig macht, wird „Kaltental“ zu einer schwer verdaulichen, aber auch irgendwie vergnüglichen Angelegenheit. Dialektik, I guess.
Mit „Pflugscharen zu Schwertern“ treiben BERLIN 2.0 weiter den Schweiß aus den Poren, während „Salamanderin“ mit Kontrasten spielt: Das ruhige Stück wird von aggressiven Vocals dominiert. Doch Elena Wolf kann auch leiser und melodischer, hat aber in jeder Stimmlage genügend Power und eine rohe Punk-Attitüde – ein Spagat, den sie besonders im verzweifelten Stück „Panzerliebe“ beherrscht, das insgesamt, ebenso wie „Ich denke über Gewalt nach“ etwas fragmentarisch wirkt. Doch dann ist da noch der große Hit des Albums: „1789“ ist ein kraftvoller Post Punk-Song wie aus dem Bilderbuch: Mit starken Riffs und Leadgitarren, tightem, schnurgeraden Drumming und einer Hook zum Mitschreien hat dieser Song Potenzial eine Hymne zu werden, ähnlich wie „Benzo Heart“ und „Feind am Tisch“ vom Debüt „Scherbenhügel“.
Richtig gute Lyrics, die ein breites Gefühlsspektrum ansprechen: BERLIN 2.0 sind im „Kaltental“ mal wütend, mal sarkastisch, mal verzweifelt – und haben am Ende sogar eine leise Hoffnung.
Das sehr wuchtig und voluminös produzierte Zweitwerk der Stuttgarter schafft es also, die Tanzbarkeit des Post Punk mit der Wut und Attitüde des Hardcore-Punk zu verbinden. Auch wenn „Kaltental“ in der zweiten Hälfte die hohe Intensität der A-Seite stellenweise nicht halten kann, ist es ein authentisches, energiegeladenes und integreres Werk. Hier trifft die gesamte Bandbreite aufeinander, die es zu fühlen gibt, blickt man als progressiv denkender Mensch auf die Gegenwart. Somit schaffen BERLIN 2.0, und speziell Lyrikerin Elena Wolf es, dass man sich weniger allein fühlt in diesen Realitäten, in diesem Deutschland. „Glaub mir, ich kann Land sehen“, heißt es am Ende des Albums, und so fordert die Band uns auf, nicht aufzugeben. In dem mit einem ikonischen Artwork versehenen Album „Kaltental“ steckt also vielleicht mehr von TON, STEINE, SCHERBEN als von JOY DIVISION. Wer angesichts der Weltlage droht zu verzweifeln, sollte daher regelmäßig zu diesem Album greifen.
Wertung: 8 von 10 Fackeln und Heugabeln
VÖ: 29. August 2025
Spielzeit: 38:09
Line-Up:
Schlagzeug: Stephan Kappler
Bass & Backing Vocals: Eduard Petrolillo
Gitarre: Hannes Schwarz
Gitarre: Matthias Mauz
Gesang & Synthesizer: Elena Wolf
Label: Kidnap Music
BERLIN 2.0 „Kaltental“ Tracklist:
1. Keine Erlösung (Offizielles Video bei Youtube)
2. Sirenen
3. Gabionenzaun
4. AZ!
5. Pflugscharen zu Schwertern (Offizielles Video bei Youtube)
6. 1789
7. Panzerliebe
8. Salamanderin
9. Ich denke über Gewalt nach
10. Jahr ohne Sommer
Mehr im Netz:
https://berlin-str.bandcamp.com
https://www.instagram.com/berlin.zwei.null
https://www.facebook.com/berlinausstuttgart