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ALL AGES – Reflections on Straight Edge (von Beth Lahickey) [Buch]

Wer schon immer mal mehr über die Ursprünge und Hintergründe der sXe-Hardcore-Szene wissen wollte ist bei diesem Buch goldrichtig. Eine fundierte Sammlung aus Interviews und Texten zu einem Thema, das noch heute für Diskussionsstoff sorgt.

Heute, lange Zeit nach der Entstehung der Straight Edge-Bewegung, hat sich vieles in der Szene getan – zum Positiven, wie zum Negativen. Einerseits als Trend verschrieen, nicht selten verlacht und verhöhnt und andererseits als Kult verehrt und ein eisernes Bekenntnis auf Lebenszeit. Viele Menschen haben mittlerweile dazu beigetragen diesen Kult aufzubauen oder auch zu zerstören. Innovative Vorreiter brachten neuen Wind in die Sache und Aussteiger trugen dazu bei die Glaubwürdigkeit der sXe-Ideale zu unterminieren. 2005 ist Straight Edge nach wie vor präsent – und die Definition der Bewegung nach wie vor nicht fix auszumachen. Dass es nie darum ging nach genormten Regeln zu leben, ist wahrscheinlich der Grund, warum es so viele Definitionen von Straight Edge gibt, wie Straight Edger selbst. Essentiell ist dabei aber zumindestens das Bekenntnis völlig auf Drogen zu verzichten, seien es harte Drogen oder auch nur Alkohol oder Nikotin. Die Meinungen zum Sex-Leben und einer vegetarischen oder veganen Ernährung sind dagegen wesentlich schwerer auszumachen. Den Mittelpunkt bildet das Fundament einer Lebensweise, die sich zielgerichtet, selbstbestimmt und frei von schwachen, bewussteins-störenden Irrwegen wähnt. Das hat sich mit der Zeit entwickelt, wie sich jede Bewegung mehr oder weniger entwickelt: Es gibt auf der einen Seite Aussteiger, auf der anderen Seite Fanatiker und beides ist Gift für die Ehrlichkeit und Offenheit der Szene. Militante „Hate Edger“ ziehen mit sinnloser Gewalt alles, was die Bewegung ausmachen sollte in den Dreck und religiöse Anwandlungen sorgen dafür, dass Straight Edge bei vielen weniger als bodenständiger Lifestyle und mehr als abgehobener und deplazierter, kleinbürgerlicher Asketismus gesehen wird.

Aber „All Ages – Reflections on Straight Edge“ ist davon noch einen Schritt entfernt. Das meiste Material in dem Buch entstand in den Neunzigern und seitdem hat sich viel getan. Deshalb muss man das Buch immer mit dem Bewusstsein einer leichten Inaktualität lesen, auch wenn die damaligen Begebenheiten allesamt einen wichtigen Einfluss ausüben. Ziel des Buches ist es aber mitnichten eine allgemeingültige Definition des „Drug Free“-Lifestyles zu propagieren. Vielmehr spürt man bei Autorin Beth Lahickey (die selber nie Straight Edge war) des öfteren einen sehr kritischen Unterton. In ihren Augen war Straight Edge, wie sie es erlebt hat, immer die Sache der Männer, Frauen gab es wenige bis keine – auch eine Tatsache, die wahrscheinlich stimmt, sich aber heute nicht mehr behaupten kann. Aber der Blick der Schreiberin hat einen enormen Vorteil: Es ist nicht der eines Journalisten, der seine Story verkaufen möchte, es ist der eines Menschen, der dabei war, als der Mythos „Straight Edge“ entstand. Der Blick eines Menschen, der viele der maßgeblichen Gründer der Szene persönlich kannte oder wenigstens gesprochen hat.

So fühlt sich der Leser hinein versetzt, in die Zeit der ersten sXe-Bands, er darf die Geschichte einer Szene erleben und die Stimmen seiner Erschaffer, Kritiker, Mitläufer und Beobachter anhören. Nicht nur ist hier die Rede von Straight Edge, sondern vor allem auch von dem, was für die Bewegung immer so ungeheuer wichtig war und ist: Die Musik. Punk und die daraus folgende Entstehung des Hardcore sind untrennbar mit Straight Edge verbunden. Geboren aus der Musik, geboren für die Musik. Das ist heute genauso aktuell wie früher. Beth Lahickey führt uns in ihren Interviews durch viele verschiedene Meinungen, die klar machen, dass selbst früher keine endgültige Kernaussage zu machen war und jeder – in irgendeiner Form – Beteiligte die Sache anders aufgenommen hat. Die Liste der Stimmen ist lang: Von A wie Anastas (Jon; u.a. SLAPSHOT) bis W wie Wilson (Sterlin; NO FOR AN ANSWER, INSIDE OUT und REASON TO BELIEVE) reichen die Interviews. Wichtige Größen der Szene, wie Ian McKaye (TEEN IDOLS, MINOR THREAT, EMBRACE) und Ray Cappo (YOUTH OF TODAY, SHELTER) dürfen ebenso wenig fehlen, wie alle anderen, die etwas zu sagen haben. So kann der geneigte Leser sich die Meinungen von dutzenden Musikern zu dem Thema zu Gemüte führen, darunter Civ von den GORILLA BISCUITS, Mike Judge (Ex-JUDGE) oder Kevin Seconds (7 SECONDS).

Aber die Informationen gehen weiter: Mit Jordan Cooper kommt der Gründer von Revelation Records zu Wort, mit Don Fury ein Produzent und mit Mike Hartsfield (Ex-FREEWILL, Ex-OUTSPOKEN) ein weiterer Label-Mann (New Age Records, Network Sound Records). Auch die Freundinnen der Autorin, (z.B. Glynis Hull-Rochelle) kommen zu Wort und sogar Hilly Cristal, der Inhaber des legendären CBGB-Clubs erzählt uns, wie er das Phänomen Straight Edge erlebt hat.

Der Leser bekommt es hier also nicht mit einseitiger Berichterstattung zu tun, sondern kann jede Facette betrachten und die Szene aus allen möglichen Blickwinkeln erleuchten, was das Buch überaus gelungen macht.

Die vielen Fotos von Musikern und die Bilder von (meist handgezeichneten) Gig-Plakaten, Flyern und Artworks geben dem ganzen noch eine Portion Nostalgie mit auf den Weg und setzen dem textlichen Inhalt gekonnt das „visuelle I-Tüpfelchen“ auf.

Wer schon immer wissen wollte wie Straight Edge entstanden ist, was das X auf den Händen bedeutet und woher es kommt, sich aber nicht mit halbgaren geschichtlichen Zusammenfassungen begnügen will, der ist bei „All Ages – Reflections on Straight Edge“ goldrichtig. Dieses Buch ist keine Predigt, keine Abhandlung und keine Analyse, sondern eine Zusammenfassung von Meinungen und Ansichten. Und vor allem fühlt man sich zu keiner Zeit von trockener Recherche gelangweilt, sondern darf sich die Stimmen zum Thema anhören – nicht von Menschen, die sich mit dem Thema Straight Edge beschäftigt haben, sondern von Menschen, die all das erlebt haben.

Dass die Zahl der „Aussteiger“ dabei überraschend hoch ist, kann und muss jeder für sich selbst interpretieren. Wer also einen Blick in die Vergangenheit werfen will, dem ist mit dem Buch durchaus geholfen, eine Definition von Straight Edge im 21. Jahrhundert (wenn das überhaupt möglich ist) kann das Buch aber verständlicherweise nicht liefern.

Trotz allem empfehlenswerte Sache, auch für Leute, die sich nur über Hardcore allgemein informieren wollen. Denn wer das tut, kommt an Straight Edge nicht vorbei.

(englische Ausgabe)

Veröffentlichungstermin: 1997
Label: Revelation Books (Publisher)