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Dr. Katherina Heinrichs, Prof. Dr. Jörg Vögele (Herausgeber): Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst

Die gelungene Covergrafik von Holger Mulch lässt einen beim Anblick von «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» unmittelbar an ein VALBORG-Cover denken. Nach dem fesselnden Roman «Wölfe vor der Stadt» versorgt die Edition Outbird 2022 weiterhin düstere Themen. Doch bei «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» gibt es mehr Sachtexte als Fiktion. Sicher ein Drittel der Texte entspringt der akademischen Welt und dem damit verbundenen Schreibstil. Quellenangaben, das Gegenüberstellen von Theorien, das Vermitteln und Erweitern von Wissen – diese Art der «schweren» Lesekost muss man sich auch erst einmal geben wollen.

Sachtexte treffen auf Journalismus, Fiktion und Kunst

Spannende Sachtexte bietet das vorliegende Werk auf jeden Fall. Trotz der kulturwissenschaftlich-akademischen Note bringen einem etwa Fugmann und Konrad die Welt der Antike fassbar näher. Interessant ist vor allem, wie die Autoren von Seneca berichten, der sich philosophisch vorsichtig schon mit der Idee beschäftigt, dass der Mensch das Recht habe, selber über den Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen. Mit der Positionierung zu Beginn des Buches lassen die HerausgeberInnen schon ein Omen zu auf die letzten Beiträge des Werkes, die sich mit der seriösesten und erfolgreichsten Schweizer Sterbehilfeorganisation EXIT auseinandersetzen. Doch der Horizont von «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» endet nicht in Europa – auch Japan (vom Samurai zum Kamikaze) und die USA (vor allem bezüglich der Ästhetisierung) werden genauer unter die Lupe genommen. Gerade die Ästhetisierung weiblicher Suizide sind in der Kunst präsent und Martins Text erinnert unweigerlich an die Thesen Elisabeth Bronfens in «Over her dead body». Die Texte mit dem Fokus aufs Künstlerische stehen in krassem Gegensatz zum Text über die Suizide von ÄrztInnen während der NS-Zeit. Der Artikel von Halling, Nebe und Krischel fällt etwas aus dem Rahmen der präsentierten Auswahl, doch interessant ist er alleweil, weil er eben einen sozialhistorischen Aspekt beleuchtet, den man damals im gymnasialen Geschichtsunterricht so gar nicht berücksichtigte (dort spielte sich Geschichte ja meist auf dem Schlachtfeld ab).

Prävention und Kunst

Was «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» durchs Band gelingt, ist, dass die Herausgeberschaft den Suizid nie verherrlicht oder verteufelt. So gibt es durchaus Beiträge – wissenschaftlicher, journalistischer (Interviews mit Pflegepersonal und ÄrztInnen) und künstlerischer (man kann sich bei «Hamster» ein Augenzwinkern nicht verkneifen) Natur, die man der Suizidprävention zurechnen kann. Aber es ist Prävention ohne mahnenden moralischen Zeigefinger und genau deswegen passt sie in dieses Buch hinein. Diese Gratwanderung ist kein Leichtes und Heinrichs und Vögele haben die Beiträge so gewählt, dass die Rechnung eben aufgeht. Ein weiterer Pluspunkt geht an das Lektorat des Werkes – wohltuend ist die Absenz von Orthografiefehlern, gerade für das durch die profane Tagespresse geschundene Auge.

Recht und Bild

Abgerundet wird «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» durch das vieldiskutierte Thema der Suizidhilfe. Rosenau beleuchtet die 2015 etablierte (und erst 2020 aufgelöste) im Vergleich zur Schweiz restriktive deutsche Rechtsprechung, die den Schweizer Organisationen EXIT und Dignitas zahlreiche deutsche «Sterbetouristen» besorgte. Die damit verbundene, hitzig geführte Debatte in der Schweiz damals erwähnt Rosenau nicht – gerade über den Umstand, dass die Schweiz zu einer finalen Destination für ausländische Sterbetouristen werde, wurde mehr als einmal in den Schweizer Medien und in der Gesellschaft gestritten. Den würdigen Einblick in die letzten Stunden eines sterbewilligen Großvaters gibt dann just ein Schweizer Fotograf – Yves Müller, der unter anderem durch seine kulturwissenschaftlichen Fotoarbeiten zu Ossarien (mit Prof. Anna-Katharina Höpflinger) bekannt ist.

Sein oder Nichtsein?

So sehr man die Lektüre von «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» schätzen mag, so fragt man sich doch unweigerlich, wer die Zielgruppe des Werkes ist. Während die erste Portion des Buches klar die akademische Welt anspricht und entsprechend in eigenen Forschungsarbeiten zitierbar ist, fällt es schwer, die künstlerischen, journalistischen und fiktiven Texte einzuordnen. Wer sich hingegen dem künstlerischen Aspekt hingeben will, mag vielleicht nicht die im Vergleich trockenen wissenschaftlichen Artikel lesen. So mögen Heinrichs und Vögele zwar den stilistischen Spagat schaffen, doch es scheint ein Ding der Unmöglichkeit, eine «Empfehlung für Fans von…» auszusprechen. Doch vielleicht war genau dieses Gefühl von «Zwischen den Welten» ein Ziel der HerausgeberInnen – wer «Sein oder Nichtsein – Suizid in Wissenschaft und Kunst» ersteht, kann dann zuhause darüber nachdenken, ob dieses Werk bei «Fiktion auf Deutsch» oder im «Sachbuch»-Teil der eigenen Bibliothek eingereiht wird. Oder ob das Werk schlicht und ergreifend mal hier, mal dort ist. Hauptsache nicht IAMNOTHERE.

Veröffentlichungsdatum: 01.09.2022

Anzahl Seiten: 254

Verlag: Edition Outbird

https://edition-outbird.de

Beiträge

  • Michael Sele: Suicide Day
  • Jörg Vögele: Suizid in der Geschichte – ein Überblick
  • Joachim Fugmann und Thomas Konrad: Der Suizid als Exemplum in der griechisch-römischen Antike
  • Rebecca Peters: Suizid – eine japanische Geschichte
  • Michael Martin: The most beautiful suicide… – zur Ästhetisierung des Suizids
  • Thorsten Halling, Julia Nebe und Matthis Krischel: Flucht in den Tod – Gedenken an Suizide von (Zahn-)ärztinnen und Ärzten im Nationalsozialismus
  • Maritta Tkalec: Ein Friedhof für Selbstmörder
  • H16: Jagen 135
  • Daniela Link: Alterssuizide in der Literatur am Beispiel von Dörte Hansens «Altes Land»
  • Katherina Heinrichs: Suizidprävention als gesellschaftliche Aufgabe
  • Juliane Uhl: Das Töten seiner Selbst – psychosoziale Ansichten zum Suizid
  • Luci van Org: Hamster
  • Katherina Heinrichs: Gothic-Szene und Suizidalität
  • Jea Pics: IAMNOTHERE
  • Bianca Stücker: The Sparrows and the Nightingales
  • Petra Hohn: Das Leben mit dem Suizid des eigenen Kindes
  • Katherina Heinrichs: In der Singularität – Arbeit mit suizidalen Menschen
  • Benjamin Schmidt: Let`s talk about suicide
  • Asp Spreng: Wie könnt ihr es wagen? (Rocksong kurz vor Schluss)
  • Christian von Aster: Pasençic
  • Henning Rosenau: Das Menschenrecht auf Suizidhilfe
  • Yves Müller: Ein bewusster Abschied – Bilderstrecke zu einem begleiteten Suizid
  • Michael Sele: Suicide Landscape
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