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RYE: Знание

Angst, Tod und Liebe: RYEs drittes Album „Знание“ bietet zwischen Funeral Doom, Post Black Metal und Dark Ambient viel Raum, über die großen Themen des Lebens zu reflektieren.

Man stelle sich vor, nicht zu fühlen, im Angesicht dessen, was das Leben uns schenkt. Und mit „schenken“ spricht der Verfasser sowohl von Liebe, als auch von Schmerz und Trauer. Alles wäre wertlos. Doch das am stärksten dominierende Grundgefühl des Menschen ist die Angst, dieser Motor, der jede Spezies am Leben erhält. Wer am konstruktivsten mit der Angst umgehen kann, überlebt. Wer nach „Glück“ und „Selbstverwirklichung“ sucht, ohne die Ängste bewusst zu steuern, wird diese Ziele niemals erreichen können. Blickt der Verfasser in die Gesichter seiner Kinder, möchte er manches Mal laut losweinen, aus Angst um deren Zukunft. Denkt der Verfasser an die kommenden Jahrzehnte, verkrampft sich häufig sein Magen vor Schmerz, aus Angst vor globaler Gewalt und der Klimakrise.

Also bleibt nichts Anderes übrig, als zu lernen, die Angst zu meistern. Das bedeutet Sterben zu lernen, denn das ist die ultimative Konsequenz aus der Angst. Wer mit dem Leben im Reinen ist, heißt es, hat keine Angst vor dem Tod. Ganz abseits martialischer Floskeln wird dies deutlich, wenn Menschen in Würde von dieser Welt gehen können. Und da kommt diese Frage, die ein Störgeräusch verursacht, ein Rauschen, das lauter wird, je mehr die Frage in den Hintergrund gedrückt wird. Der Motor hierfür ist natürlich wieder die Angst. RYEs drittes Album „Знание“, das mit einem rätselhaften, tarkowskieskem Text angekündigt wird, ist ein Gleichnis, das über zahlreiche Kulturen hinweg Spuren im Angesicht des Todes, jenseits der Angst sucht.

Panta rhei: RYE fließen im Verlauf von „Знание“ von Funeral Doom über Post Black Metal hin zu Dark Ambient und kehren am Ende wie nach einer mythischen Heldenreise zurück zum Kern.

Um „Знание“ – das „Wissen“ – in seiner Gänze zu erfassen, braucht es mehr als Ohren, die einordnen, dass das russische Projekt RYE, alias РОЖЬ in allen drei Stücken den Fokus anders setzen: Funeral Doom und Doom Death in den ersten dreizehn Minuten in dem Song „Гало“, Post Black Metal in „Ходдмимир“ und ein sehr langes, episches Abschlussstück namens „Каждого ждёт“, das zwischen Folk Drone und Dark Ambient liegt und in der letzten Hälfte wieder zum Funeral Doom zurückkehrt. Panta rhei – alles fließt und so entwickelt sich „Знание“ in vierzig Minuten langsam aber sicher, strömt mit meditativer Konsequenz von einem Song zum Anderen während es tiefer und tiefer gräbt.

Das erste Stück kreist um ein Thema, zunächst unverzerrt, das dann als gewaltiges Doom-Riff die totale Erhabenheit ausstrahlt. „Гало“, der „Heiligenschein“, ist wie eine Prozession in Würde über die Grenzen des Irdischen, in der Gewissheit, etwas hinterlassen zu haben, das die Zurückgebliebenen stärkt. Die intensive Basis aus Gitarren, Drums, den Growls, die sich mit dem tiefen, sanften Gesang abwechseln, die Ritzen und Fugen dazwischen, die mit Synthesizern verdichtet wurden, erzeugen eine Soundwand, die geradezu überwältigend ist. Überwältigend in Sachen Heaviness, als auch in Emotion, auch dank Dynamik und Atmosphäre und dem Gespür für Songwriting. Schon hier kommt man nicht umhin, Vladimir Friths Talent zu bestaunen und sein Gespür für das große Ganze, aber auch die Details wertzuschätzen.

Impulse aus verschiedenen Kulturen als verbindendes Element: RYE nutzen die Kraft der Edda und die Repetition des Sanskrit, um die Gravitas von „Знание“ spürbar werden zu lassen.

„Ходдмимир“ nimmt Anlauf und mündet in einem repetitiven Post Black Metal-Riff, dessen Grimm im Kontrast zu den Lyrics steht: „Hoddmimírs Holz“ als der Ort, an dem Lif und Lifthrasir als einziges Menschenpaar die Götterdämmerung überlebte. Die Welt tobt, die Musik rast, während der Kern des Songs wie im Auge des Sturms eine eigentümliche Ruhe ausstrahlt. So erscheint diese Reflexion auf Snorri Sturlussons „Edda“ als relevant, auch 900 Jahre später. RYE reisen nach diesen intensiven sieben Minuten weiter, dieses Mal mit einem Kollaborateur. Das zwanzigminütige Stück „Каждого ждёт“, dessen erste Hälfte im Dark Ambient liegt, wird in seinen Details durch den äußerst talentierten Ambient-Musiker TSAREWITCH ergänzt. Mit einer Gusli – einer Kastenzither – und einer Talharpa – eine Streichharfe – wird die Musik mehrdimensionaler und authentischer. All das fließt später in den Funeral Doom vom Anfang und endet mit einem Sanskrit-Gebet über die Vergänglichkeit.

Nach dem schon sehr beeindruckenden „Вс​ё“ entwickelt sich RYE deutlich weiter, lässt den Rest an konventionellem Songwriting hinter sich und verbindet meisterhaft Heaviness und Atmosphäre. Dabei ist „Знание“ ebenso ambivalent, wie es das fantastische Artwork von Meike Hakkart andeutet. Wird Skalli, der Sohn des Fenris so groß und mächtig, dass er die Sonne verschlingt? Naht also Ragnarök, das Ende der Welt? Oder entrinnt die Sonne und somit auch wir ihrem Schicksal? Auch hier gilt: Hier reitet „Знание“ nicht auf Pagan Metal-Klischees herum, eine poetische Relevanz ist zu spüren. Und die Angst wird wieder greifbar. Eine Angst, der nur mit dem unerschütterlichen Glauben, dass alles irgendwie weitergehen wird, beizukommen ist.

Auf dem Weg zum inneren Frieden im Angesicht eines katastrophalen Außen: RYE spenden mit „Знание“ Zuversicht und

Ergo schürt die Überwältigung von außen das Bedürfnis, Frieden und Erlösung im Inneren zu finden, gerade in Anbetracht, dass alles Sein enden wird. Und das ist eine gute Nachricht – denn wer sich seines Endes bewusst ist, hat größere Chancen die restliche Zeit sinnvoll zu verbringen, Wissen und Talente weiterzugeben und so sicherzustellen, dass doch etwas bleibt. Jón Kalman Stefánsson schreibt: „Vergiss mich nicht, und dann bin ich am Leben.“ Und so lässt sich die oftmals so übermächtige Angst zumindest ein wenig besser aushalten, sofern die weltweite Panik nicht in den Untergang führt.

RYE haben mit „Знание“ ein Album geschaffen, das eine Sogwirkung ausstrahlt, nach 40 Minuten gleichermaßen erfüllend wie erschöpfend ist. Ein ganzheitliches Album, dessen Gravitas mit nur drei Songs eine Intensität aufbaut, die es nur selten zu bestaunen gibt. Die spirituelle Heaviness von den NEUROSIS der Neunziger, und der maximal ausgespielte Minimalismus von BELL WITCH einerseits und ULVERs Elegie von „Teachings In Silence“ andererseits, sind nicht mitreißender wie „Знание“. Das bedeutet, dass RYE eines der ganz großen Alben der letzten Jahre geschrieben haben. Wundervoll gespielt und mit großartigem Gesang versehen, aber auch exzellent geschrieben ist „Знание“ sowieso. Nur eins ist es nicht: Entertainment.

Wertung: 11 von 12 Cortisolausschüttungen

VÖ: 5. Mai 2025

Spielzeit: 40:27

Line-Up:
Vladimir F – Music, vocals, lyrics
TSAREWITCH – Talharpa, gusli, partially synths, lyrics, vocals

Label: Reflection Nebula

RYE Tracklist:

1. Гало („Halo“)
2. Ходдмимир („Hoddimírs Holt“)
3. Каждого ждёт („Awaits All“)

Mehr im Netz:

https://bandrye.bandcamp.com/
https://www.instagram.com/rye_onemanband/
https://www.facebook.com/Ryeband
https://www.patreon.com/reflectionnebula

„Kein Leben ist ohne Schmerz, kein Tod ohne Leben und kein Leben ohne den gestrigen Tag. […] Was den Tod überwindet, tröstet uns. Und doch ist Trauer die Glut, die nie aus deinem Herzen schwindet.“ – Jón Kalman Stefánsson