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NOTIO: Worldview

Das finnische Ein-Mann-Projekt NOTIO bietet auf seinem zweiten Album eine interessante Mischung aus Alternative, modernem Progressive Metal und nordisch-heroischem Pomp, wenn auch in einer recht schroffen Version. Hier treffen SYSTEM OF A DOWN auf flirrende Progressive-Gitarren und Breitwand-Keyboards. Es ist gleichwohl ein Sound, auf den man sich einlassen muss.

Wenn ich auf der Suche nach neuer Musik den Promopool durchstöbere, stellt sich oft schnell Ernüchterung ein. Schon wieder eine Viking-Metal-Band, die nach Bierzelt klingt? Ach was. Der x-te Heavy Metal mit Maiden-Riffs? Na gut. So in etwa. So viele Bands, die klingen wie andere Bands, gewohnte Klischees bedienen, sodass man ermüdet nicht einmal die Kraft aufbringt, wenige Zeilen in die Tastatur zu tippen. Aber natürlich gibt es auch jene, die aufhorchen lassen, die Trüffelpralinen unter den Newcomern. Nicht immer ist es einfach zu sagen, ob man da nun einen kleinen Schatz ausfindig gemacht hat – oder das eigene Urteil trügt.

Bei NOTIO blieb ich hängen, weil ich das, was da an meine Ohren drang, erst einmal sehr gewöhnungsbedürftig fand. Dieser „Was ist das denn?“-Gedanke. Der Versuch, eine oder mehrere Schubladen zu finden, wo man das Gehörte einordnen kann. Was sind die Qualitäten, wo sind die Schwächen? Und dann der Gedanke: Immer her damit, dazu will ich etwas machen! Ich rolle das hier so detailliert aus, weil man sich bewusst machen muss, dass so eine Review durchaus ein Kraftakt ist. Man geht mit der Band für eine gewisse Zeit eine Art Beziehung ein, Beziehungsstatus: „kompliziert“, muss sich ein Album immer und immer wieder anhören, muss das Gehörte in Worte fassen, die bitte auch keine standardisierten Klischees abrufen sollen. Da zieht jemand in deine Wohnung ein und nimmt deine Zeit in Anspruch, manchmal für mehrere Tage.

Modern Progressive?: NOTIO klingen progressiv, aber anders

NOTIO ist das Soloprojekt von Albert Olli, einem Finnen, der in Heinola lebt: eine kleine Stadt, an zwei großen Seen gelegen, das Klima arktisch, Sägewerke und Güterbahnhöfe, viel Holz- und Transportindustrie, der Wald wird dominiert von hohen Fichten und Kiefern und kargem Felsgestein. Manchmal ist es ganz hilfreich, sich der Umgebung bewusst zu werden, in der Musik entsteht. Eine Mischung aus finnischer Gediegenheit, rauem Klima und Kurort, Idyll trifft auf Industriepark: Kontraste, die nicht unbedingt Gegensätze bilden, zumindest nicht im eigentlichen Sinne, sondern über Jahrzehnte, ja gar Jahrhunderte zusammen- und ineinandergewachsen sind. Ein ähnliches Wechselspiel kann man nun auch bei NOTIO ausmachen: Schroffheit und Melodik, das Ineinanderfließen von Genres, Tradition und Moderne. Seit 2015 ist Olli aktiv, das vorliegende „Worldview“ ist sein zweites Album.

Aber welche Elemente kommen hier zusammen? Die Beschreibung der Plattenfirma ist nicht ganz falsch, könnte aber in die Irre führen. Von Melodic und Progressive Metal ist die Rede. Stimmt, wenn man bei Melodic Metal nicht zuerst an SONATA ARCTICA und bei Progressive nicht an DREAM THEATER denkt. Sondern an Bands wie SYSTEM OF A DOWN. An deren Sänger Serj Tankian erinnert Albert Olli hin und wieder stark, auch Theatralik ist ihm kein Fremdwort, er kennt keine Scheu vor ungewöhnlichen und manchmal auch etwas gewöhnungsbedürftigen Harmonien. Das geht so weit, dass die Melodien stellenweise sogar von orientalischer Harmonik beeinflusst scheinen, wie im Opener „Propagation Process“: verschlungene und arabesk verzierte Tonfolgen, leicht folkloristisch angehaucht. SYSTEM OF A DOWN haben bekanntlich armenische Wurzeln: Und lassen die Musik der Kaukasusrepublik stolz in ihren Sound einfließen. Auch der orientalisch angehauchte Metal von ORPHANED LAND schimmert hin und wieder in den Gesangsharmonien durch.

Aber nein, NOTIO sind eben kein SOAD-Klon. Sie klingen auch sehr nordisch. Die Gitarren greifen zuweilen finnischen Melodic Death auf, knarzen mal schroff, galoppieren mal flott, dann mit melodischen Leads. Hinzu gesellen sich bombastische Keyboards und gelegentliche Ausbrüche, die ebenfalls an die nordische Herkunft gemahnen. Aufgrund der progressiven Songstrukturen werden sogar Erinnerungen an Bands wie TYR wach, auch wenn die Gitarren weniger im traditionellen Metal verwurzelt scheinen. Hier gesellt sich das Epische hinzu, das Pompöse: das Farbenspiel der Nordlichter, archaische Schroffheit. Eingestreut sind gelegentlich Growls, die an manchen Stellen aber leicht deplatziert scheinen. Manchmal erinnern die Gitarren und Rhythmen auch tatsächlich an Progressive Metal: der härteren, moderneren Gangart. Auf Soli wird hier übrigens fast vollständig verzichtet. Mitunter werden wilde Rhythmen und Blastbeats eingestreut.

Das alles klingt zusammengerechnet überraschend schlüssig, wenn auch mitunter leicht unbehauen: und eben auch, ich erwähnte es bereits, interessant. Es ist erstmal kein schlechtes Zeichen, wenn selbst die eigene Plattenfirma mit ihren Kategorisierungen eher falsche Erwartungen weckt, weil das Gehörte sich zunächst einer gewohnten Kategorie und Zielgruppe verweigert. In manchen Momenten, etwa in dem Song „Solipsism“ und im Refrain von „The Need to Fear“, erinnern mich die Stimme und die Gesangsharmonien sogar, ganz leicht nur, an Hansi Kürsch und BLIND GUARDIAN. Da hätten wir wieder den progressiven Melodic Metal.

Weil hier manch hübsche Melodie präsentiert wird und Olli ohne Zweifel über musikalisches Können verfügt, weil die Songs auch manch kleines Wagnis eingehen, sei dieses Album aufgeschlossenen Metal- und Alternative-Hörern durchaus empfohlen. Oben genannte Songs empfehlen sich als Anspieltipps. „Curtain of Ignorance“ ist ebenfalls ein Highlight, es ruft mit seinen melodisch sich auftürmenden Gitarren und orchestralem Bombast Erinnerungen an Bands wie TYR oder TURISAS wach, hier darf der Refrain auch mal heroisch zum Angriff blasen.

Diskutieren kann man erneut über die generisch und dumpf produzierten Drums: Olli hat das Album weitestgehend allein aufgenommen, an den Drums und Keyboards wurde er von Produzent Pasi Löfgrén unterstützt. Grundsätzlich kommt der Sound leicht übersteuert und höhenlastig aus den Boxen, die Leads reiten gern mal leicht disharmonisch die ganz hohen Töne. Dennoch ein Newcomer, den ich gerne für ein paar Tage in meine Wohnung einziehen ließ. Und wer Ideen hat, wie man diese Mischung stilistisch stimmig beschreiben kann, der schicke mir bitte Vorschläge. Ist das hier gar Weltmusik in der Modern-Prog-Metal-Variante? Nicht umsonst ist das Album “Worldview” betitelt, auch wenn die Texte, leider mir nicht vorliegend, auch manch pessimistische Perspektive auf das Weltgeschehen werfen.

Veröffentlichung: 08. März 2024
Label: Inverse Records

NOTIO bei bandcamp

Line-up:
Albert Olli – Vocals, Guitars, Bass, Drums
Pasi Löfgrén – Drums, Keyboards

NOTIO “Worldview” Tracklist

1. Propagation Process
2. Solipsism (Audio bei Bandcamp)
3. Curtain of Ignorance (Audio bei Bandcamp)
4. The Need to Fear
5. Absurd
6. A Ladder to Nowhere
7. Temporary Pain
8. Inevitable Outcome
9. Vis Major (Audio bei Bandcamp)
10. The End Is Beautiful

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