Ein thematisch deutlich gesteckter Rahmen, aber kein Konzeptalbum. Ein bunter Cocktail verschiedenster Stile, aber dennoch den eigenen Trademarks treu. Ein Doppelalbum, aber irgendwie doch nicht so richtig. Die scheinbaren Gegensätze, die NIGHTWISH im Jahr 2020 definieren, lassen uns manchmal tatsächlich zweifeln, ob die Symphonic Metal-Veteranen von vornherein überhaupt wussten, wohin die Reise gehen sollte. Immerhin lässt sich der sperrige Titel „Human. :II: Nature.“ auf diese Weise nachvollziehen.
In jedem Fall bleibt das Sextett experimentierfreudig und unerschrocken. Fehlende Innovationslust konnten wir NIGHTWISH noch nie vorwerfen, aber was „Human. :II: Nature.“ auf seiner ersten CD mit dem typischen Band-Sound anstellt, ist durchaus wagemutig. Wir meinen nicht einmal das zweiminütige instrumentale Vorgeplänkel im Opener „Music“, das schon einige Elemente der folgenden 50 Minuten vorgreift.
Auf “Human. :||: Nature.” darf Multi-Instrumentalist Troy Donockley glänzen
Was die Band diesmal ins Auge fasst, sind die folkigen Instrumente, deren unbeschwerter Charme nicht selten das Rückgrat der Kompositionen stellt und die überraschend homogen in das ebenfalls prominente Orchester eingebettet sind. Am plakativsten geschieht das im naiven Tagtraum „Harvest“, wo Multi-Instrumentalist Troy Donockley nicht nur sein beachtliches Repertoire aus Flöten, Whistles und Sackpfeifen zur Schau, sondern auch gleich noch den Gesang stellt. Seine warme Stimme verleiht dem Stück etwas herrlich Unschuldiges, kann jedoch im Gegenzug dem Finale nicht die Energie geben, die wir uns gewünscht hätten.
Glücklicherweise haben NIGHTWISH mit Floor Jansen eine fantastische Sängerin, die auf „Human. :II: Nature.“ nahezu ihre komplette stimmliche Bandbreite zum Besten gibt. In „Music“ spannt die Niederländerin waghalsige Melodiebögen, bevor sie uns im unaufgeregten Folk Rocker „How’s The Heart“ mit Gefühl und Authentizität gefangen nimmt. Und doch lieben wir Floor immer dann am meisten, wenn sie etwa in „Noise“ die ganze Kraft ihrer Stimme entfesselt und so selbst die opulenten Symphonic-Arrangements in den Schatten stellt. Daher wiegt es für uns doppelt bitter, dass auf „Human. :II: Nature.“ durch die Dramaturgie bedingt viel Kopfstimme gefragt ist und etwa „Pan“ mit seiner Laut-Leise-Dynamik erst im Refrain richtig aufdreht.
Ganz ohne Melodramatik ist NIGHTWISH kaum vorstellbar
Da NIGHTWISH ganz ohne Melodramatik hingegen kaum vorstellbar ist, darf „Shoemaker“ mit klassischen Einflüssen und Operetten-Pomp dick auftragen, während „Tribal“ dank rhythmischer Percussion-Einlagen seinem Namen alle Ehre macht. Hier nehmen dann endlich auch Schlagzeug und E-Gitarren eine prominentere Rolle ein, nachdem sie zuvor über weite Teile lediglich die Komplizen gegeben haben.
Seinen theatralischen Abschluss findet das erste Kapitel von „Human. :II: Nature.“ schließlich im ausladenden Midtempo: Ein nachdenklicher und leidenschaftlicher Marco Hietala trägt „Endlessness“ gesanglich ans (Zwischen-)Ziel, bevor uns Keyboarder und Haupt-Songwriter Tuomas Holopainen schon mit auf die nächste Etappe nimmt.
“All The Works Of Nature Which Adorn The World” gehört eigentlich nicht unter das NIGHTWISH-Banner
„All The Works Of Nature Which Adorn The World” ist unmissverständlicher Ausdruck der Exzentrik des Keyboarders, welcher sich mit dem gut halbstündigen Werk in der orchestralen Komposition übt. Eingerahmt in zwei kurze gesprochene Passagen entwickelt das weitgehend instrumentale Opus einen beruhigenden und doch irgendwo packenden Charme im besten Stil großer Hollywood-Kompositionen.
Die Streicher und Bläser führen uns durch Höhen und Tiefen, lassen uns ins ruhigen Momenten schwelgen („The Green“) und greifen – wie auch in der Filmmusik typisch – das markante Haupt-Thema an geeigneten Stellen wieder auf, um uns Orientierung zu geben. „All The Works Of Nature Which Adorn The World“ ist zweifellos ein Werk, in dem wir uns verlieren können. Nur ist es eben nahezu gänzlich von dem losgekoppelt, was üblicherweise unter dem NIGHTWISH-Banner veröffentlicht wird.
Für NIGHTWISH ist der Weg das Ziel
Andererseits passt das irgendwo auch zur Momentaufnahme einer Band, die aktuell von Gegensätzen geprägt zu sein scheint. „Human. :II: Nature.“ mag weder Konzeptalbum noch reinrassiges Doppelalbum sein. Vielleicht wussten die Musiker ob der mannigfaltigen Genre-Melange nicht einmal zu einhundert Prozent, wo NIGHTWISH am Ende der Reise landen würden. Aber eines stand von Beginn an nie zur Diskussion: Wen interessiert denn schon das Ziel, wenn es auf dem Weg dorthin derart viele Schauwerte zu bestaunen gibt?
Veröffentlichungstermin: 17.4.2020
Spielzeit: 50:34 / 30:58
Line-Up:
Floor Jansen – Gesang
Emppu Vuorinen – Gitarre
Troy Donockley – Flöten, Sackpfeifen, Gesang
Tuomas Holopainen – Keyboards
Marko Hietala – Bass, Akustikgitarre, Gesang
Kai Hahto – Schlagzeug
Produziert von Tero Kinnunen, Mikko Karmula und Mika Jussila (Mastering)
Label: Nuclear Blast
Homepage: https://nightwish.com/
Facebook: https://www.facebook.com/nightwish/
NIGHTWISH “Human. :II: Nature.” Tracklist
Disc 1
01. Music
02. Noise (Video bei YouTube)
03. Shoemaker
04. Harvest
05. Pan
06. How’s The Heart? (Lyric-Video bei YouTube)
07. Procession
08. Tribal
09. Endlessness
Disc 2
01. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Vista
02. All The Works Of Nature Which Adorn The World – The Blue
03. All The Works Of Nature Which Adorn The World – The Green
04. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Moors
05. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Aurorae
06. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Quiet As The Snow
07. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Anthropocene (incl. „Hurrian Hymn To Nikkal“)
08. All The Works Of Nature Which Adorn The World – Ad Astra (Lyric-Video bei YouTube)