Island – Land der Sagen, der Eisberge und der seltsamen Kopfbedeckungen. Soweit mal die oberflächlichen Stereotypen. Parallel zu diesem Klischee könnte man die musiktheoretische These aufstellen, dass isländische Bands grundsätzlich zart hauchende und manchmal auch exaltiert juchzende Elfenwesen am Mikro stehen haben oder sich zumindest in ausladenden, esoterisch-elegischen Klangwelten à la SIGUR RÓS ergehen. Das soll sich natürlich nicht gegen die von mir sehr verehrte BJÖRK richten, aber es ist schön zu hören, dass sich die isländische Musikszene dieser Schubladisierung von außen widersetzt und alleine die Einzigartigkeit der meisten Acts aus dem hohen Norden als roter Faden herhalten kann.
MÍNUS aus Reykjavik sind ein weiterer Beweis für die Vielseitigkeit der isländischen Szene und ihre Vorliebe für avantgardistische Liedkunst. Hier haucht niemand, hier werden die Gitarren nicht mit Cellobögen gestreichelt, und komische Hüte haben die fünf Jungs von MÍNUS auch nicht auf. Dafür frönen sie derb abgefahrenem Progressive Hardcore (oder welchen Namen man den auf „Jesus Christ Bobby“ enthaltenen Lärmkaskaden sonst verpassen will).
MÍNUS zeichnen mit ihren Klangkonstrukten die Welt in tiefgrauen Tönen
Die elf Tracks bestechen allesamt durch die fröhliche Wärme von GODFLESH, die zahmen Harmonien von FREDRIK THORDENDAL’S SPECIAL DEFECTS und die sanft swingenden Rhythmen von THE DILLINGER ESCAPE PLAN. Im Klartext: MÍNUS wüten sich durch zerhackte Arrangements, rüpeln sich durch vertrackte Grooves und suhlen sich im Dreck herber Disharmonien. Über all dem steht die oftmals fast bis zur Unkenntlichkeit entstellte Keifstimme des Sängers. Die Band wählt den direkten Weg zum zentralen Nervensystem, um dort ordentlich Chaos zu stiften und Verwüstung anzurichten. Schwer verdaulich wäre vermutlich noch untertrieben angesichts der völligen Abwesenheit von Hooklines und anderen markanten, gefälligen Teilen. Lediglich vereinzelte Post-Rock-Versatzstücke wie bei „Arctic Exhibition“ gestatten ansatzweise Verschnaufpausen.
Ansonsten ist jeder Baustein im Sound von MÍNUS voll destruktiver, negativer Energie. Und es ist gerade diese Energie, die unterm Strich dafür sorgt, dass „Jesus Christ Bobby“ in all seiner Hässlichkeit immer wieder die Neugier weckt und einen die CD unwillkürlich einlegen lässt, sei es im Bestreben herauszufinden, wie viel man davon verträgt, oder mit dem unwiderstehlichen niederen Zwang, der einen in der Bahn oder auf der Straße besonders hässliche Leute anstarren lässt. Aber wer behauptet schon, dass das Leben schön sei, und MÍNUS zeichnen mit ihren Klangkonstrukten die Welt in tiefgrauen Tönen, gegen die sich selbst NEUROSIS noch freundlich ausnehmen. Wer schon immer mal wissen wollte, wie Psychopathie klingt, sollte sich mit „Jesus Christ Bobby“ anspruchsvoll die Laune verderben lassen.
P.S.: Ich hab’s geschafft, in dieser Kritik nicht ein einziges Mal das Wort Geysir zu erwähnen 😉 !
Spielzeit: 44:35 Min.
Line-Up:
Bjarni
Krumi
Ívdr
Gjössl
Frosti
Produziert von Bidbi
Label: Victory Records
MÍNUS „Jesus Christ Bobby“ Tracklist
- Chimera
- Leisure
- Modern Haircuts
- Misdo
- Electra Complex
- Frat Rock
- Arctic Exhibition
- Liquid Courage
- Denver
- Peccadilla
- Pulse