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LYCHGATE: Precipice

The future from before is now! LYCHGATE sezieren frühe Dystopien und die aktuelle Welt auf ihrem vierten Album „Precipice“ mit atemberaubender Intensität.

Wenn man selbst in einer Dystopie lebt, wie es die Menschen im Jahr 2025 nun mal tun, schadet es nicht, auch mal einen Blick zurückzuwerfen, und zu schauen, wie die Großen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auf die Zukunft blickten. Vielleicht gibt es ja Lösungen von damals für Probleme von heute? Warum sich also nicht an klassischer, futuristischer Literatur orientieren? Das ist seit jeher LYCHGATEs Business, die allein ihrer Vorliebe für Stanisław Lem wegen (siehe „The Contagion In Nine Steps“) schon zu den coolen Leuten gezählt werden können. Mit ihrem vierten Album „Precipice“ öffnen sich LYCHGATE wieder neuen Einflüssen, E. M. Forster, T. S. Eliot, H. G. Wells und Plato standen lyrisch und konzeptuell Pate. Dass die Londoner Formation also nicht stumpf drauflos prügelt, sollte also keine Überraschung sein.

Viel mehr haben LYCHGATE ihren Stil mittlerweile so eingerichtet, dass sie mühelos zwischen technischem Death und komplexen Black Metal balancieren können, ihren Schwerpunkt verlagern und dabei ihre Handschrift keineswegs verlieren. „Precipice“ ist, wie der Name schon sagt, ein abgründiges Album, das die Rezipienten in einen lichtlosen Abgrund wirft. Sie haben eine stärkere Sogwirkung als in der Vergangenheit, denn LYCHGATE haben kleinere Anpassungen mit großer Wirkung vorgenommen. Die Orgel ist weniger dominant als in der Vergangenheit und besser im Gesamtsound integriert. Dennoch lässt die Formation nichts von ihrer Extravaganz missen. LYCHGATE atmen weiterhin die Würde und Größe einer vergangenen Ära und dekonstruieren so die Gegenwart.

Die Feinjustierung von LYCHGATEs Stil erhöht die Intensität deutlich: „Precipice“ ist ein Hybrid aus Black und Death Metal auf hohem Niveau.

EMPEROR zu Zeiten von „IX Equilibrium“ und „Prometheus – The Discipline Of Fire And Demise“ treffen auf GORGUTS in einem gotischen Gewand. Dass das in Zeiten, da IMPERIAL TRIUMPHANT, ULCERATE oder DØDHEIMSGARD die extreme Metal-Szene auf den Kopf stellen, vergleichsweise klassisch klingt, ist dabei kein Nachteil. Viel mehr wirkt „Precipice“ dadurch noch etwas extravaganter. Komponist und Texter J.C. Young geht dabei sehr sorgfältig und planvoll vor. LYCHGATE haben auf ihrem vierten Album eine sehr cineastische Atmosphäre, als würde man einen bizarren, hundert Jahre alten, heute vergessenen Film sehen, der im Schatten von Fritz Langs „Metropolis“ stand.

„Precipice“ hat außerdem eine sehr narrative Struktur: Sieben Songs, eingefasst in einen jeweils weit ausholenden Prolog und Epilog, in der Mitte thronen zwei lange, epische Stücke, die beinahe absurd komplex sind. Doch zunächst wird es technisch anspruchsvoll und wütend mit „Mausoleum Of Steel“. Erste artfremde Einflüsse finden sich im aggressiven, aber gegen Ende verspielten und mit einem wundervollen Orgelsolo endenden „Renunciation“, in das ein fusionlastiges, jazziges CYNIC-Gitarrensolo gewoben wurde. Die erste große Überraschung ist dann „The Meeting Of Orion And Scorpio“, das die Härte ausspart und voll auf eine beunruhigende Atmosphäre setzt, auf die Sänger Greg Chandler in der zweiten Hälfte mit Furor seine boshaften Vocals legt.

LYCHGATE atmen die Würde einer vergangenen literarischen und philosophischen Epoche und gießen dies auf „Precipice“ in ein zeitloses Sounddesign.

Mit „Hive Of Parasite“ und „Death’s Twilight Kingdom“ komprimieren LYCHGATE die Essenz des Albums im Zentrum auf siebzehn Minuten, die epische Komplexität, Riffs, wie sie IHSAHN in seinen besten Zeiten schrieb, gepaart mit Death Metal-Brutalität und viel Atmosphäre, aber auch bizarren Fusion-Elementen, gerade auch in leiseren Momenten – ein atemberaubendes Doppel. Dem gegenüber steht mit „Terror Silence“ ein kompaktes, relativ direktes Stück, das „Precipice“ etwas auflockert. Dazu kommt die instrumentale und spielerische Vielschichtigkeit: LYCHGATE arrangieren ihre Songs so, dass alles Überbordende an der Schmerzgrenze bleibt und genau im richtigen Moment einen dynamischen Shift zu machen. Hier hat die blitzsaubere (Drummer T.J.F. Vallely), bzw. recht melodiös agierende (Bassist Tom McLean) Rhythmusfraktion ebenso Anteil, wie die Zweitgitarrist S.D. Lindsley und Organist, bzw. Pianist F.A. Young.

Mehr als fünfeinhalb Jahre nach ihrer letzten EP „Also sprach Futura“ zeigen sich LYCHGATE weiterhin als erstklassige Songwriter, die ihr Publikum und sich selbst herausfordern, jegliche Eingängigkeit aber als eher zweitrangig ansehen. Mit einem von Greg Chandler verdichteten Sound erreicht „Precipice“ eine Tiefe, die den vorherigen Alben noch vorbehalten war – somit ist ihr viertes Album noch besser als das Zweitwerk „An Antidote For The Glass Pill“, hat viele Stimmungen, Dynamiken und ist spielerisch über alle Zweifel erhaben. „Precipice“ ist wunderbar zeitlos und anachronistisch zugleich. Opulent, hochintelligent und mit dem richtigen Maß an Größenwahn versehen zeichnen LYCHGATE auf ihrem vierten Album ein anstrengendes, düsteres, dichtes und intensives musikalisches Gemälde, wie gemacht für die düstere Zeit, in der wir leben.

Wertung: 8 von 9 Orakel

VÖ: 19. Dezember 2025

Spielzeit: 47:47

Line-Up:
J.C. Young „Vortigern“ – Guitar, Organ, Piano, Orchestration
Greg Chandler – Vocals
S.D. Lindsley – Guitar
Tom MacLean – Bass
T.J.F. Vallely – Drums & Percussion
F.A. Young – Piano, Organ
Y.W. – Flute

Label: Debemur Morti Productions

LYCHGATE „Precipice“ Tracklist

1. Introduction – The Sleeper Awakes
2. Mausoleum Of Steel
3. Renunciation (Official Audio bei Youtube) 
4. The Meeting Of Orion And Scorpio
5. Hive Of Parasites (Official Audio bei Youtube)
6. Death’s Twilight Kingdom
7. Terror Silence
8. Anagnorisis
9. Pangaea

LYCHGATE „Precipice“ Full Album Stream bei Youtube 

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