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LUCIUS: Second Nature

„Die beste Band, die keiner kennt“: so beschrieb einst das Rolling-Stone-Magazin den Sound der Nicht-Schwestern von LUCIUS. Stimmt vielleicht immer noch: Aber auf ihrem neuen Album verkaufen sie sich unter Wert. Ihre Verbeugung vor dem 70s-Funk-Discosound ist ausgefeilt, lässt aber den Hunger der früheren Aufnahmen vermissen.

LUCIUS? Wer jetzt sagt: nie gehört, dem ergeht es vielleicht wie vielen anderen auch. Und gern würde ich hier sagen: Diese 5köpfige Band aus New York ist der heißeste Indie-Scheiß, den man aktuell kennen sollte. Tolle, mehrstimmige Gesänge der beiden Sängerinnen HOLLY LAESSIG und JESS WOLFE, die ein bisschen aussehen wie Schwestern, aber keine sind, die gleichen lässigen Pony-Frisuren tragen und als Gesangsduo super harmonieren. Songs, die sich vor locker-fluffigem Elektropop ebenso verneigen wie vor dem Rock einer Band wie FLEETWOOD MAC, große Gefühle auszupacken vermögen. Und lässige Grooves, die sich auch mal gern vor Disco und Funk verneigen. Auch ein gewisses Flowerpower-Feeling ist der Band nicht abzusprechen, viel 60s. Musik mit Blume im Haar und Glitzersternchen.

Dieses bunte Gebräu in einen großen Topf zu mischen, ohne dass es aufgesetzt und zerfahren wirkt, ist eigentlich schon eine große Kunst. Als „beste Band, die keiner kennt“, bezeichnete folglich der Rolling Stone die Mischung. Ausgefeilte Arrangements mit schönen Harmonien, durchaus infektiös und verführerisch. Den meisten sind LUCIUS vermutlich durch ihren Gastauftritt auf dem letzten Album von WAR ON DRUGS bekannt, wo sie den Titelsong „I Don’t Live Here Anymore“ mit ihren Harmoniegesängen veredelt haben. Es war der schönste Song auf dem Album, vielleicht einer der schönsten Songs der letzten Jahre. „Is life just dying in slow motion / Or getting stronger everyday?“, sang der widerborstige Bandkopf Adam Granduciel gemeinsam mit den Sängerinnen, und: „We’re all just walkin‘ through this darkness on our own“. Ein melancholisches Meisterwerk über Depression. Ohne den Background-Gesang von LUCIUS hätte der Song nicht halb so gut funktioniert.

Ein bisschen enttäuschend – aber auf hohem Niveau

Umso begeisterter war ich, als ich las, dass LUCIUS anno 2022 ein neues Album droppen werden. Es ist ihr mittlerweile fünftes Studioalbum seit 2009: und gerade nach dem Gastauftritt bei WAR ON DRUGS habe ich mir Großes davon versprochen. Ihr Album von 2013, „Wildwoman“, zählt immer noch zu den Favoriten auf meiner Playlist: ein hungriges, originelles, teils sehr witziges Indie-Pop-Kleinod, das ich an dieser Stelle nur jedem empfehlen kann. Und für wenig Geld in einer Ramschkiste im niederländischen Utrecht erstanden habe. Wenn du mit einem eleganten City-Rad die Grachten entlang radelst, schließlich in irgendeiner Hipster-Kneipe absteigst, wo das Heineken fünf Euro kostet, wenn noch der Eindruck von vielen Kunstgalerien und dem -hüstel- Rotlichtviertel in Amsterdam nachwirkt, gibt es keine bessere Musik. Glücksmomente in XL. Urlaubsfeeling der anspruchsvollen Art.

Aber vor diesem Hintergrund ist das neue Album doch eine kleine Enttäuschung. Und das liegt ausgerechnet an der Konsequenz der zwei Nicht-Schwestern und ihrer drei Mitmusiker. Diesmal haben sie sich weit stärker als bisher in Richtung 70s-Discosound orientiert. Was im Glitzer der Discokugel verloren geht, ist die Widerborstigkeit, auch die unterschwellige Angriffslust und der subversive Witz, die ihre stärksten Nummern bisher ausgezeichnet haben. Blick zurück: das Paste-Magazin hat Wildwoman einst zum „komplettesten Indie-Pop-Album des Jahres“ gekürt.

Die Band kackt nicht ab: Sie enttäuscht immer noch auf hohem Niveau. Der Opener „Second Nature“ kommt mit dezent groovendem, aber effektivem Bass daher. Die Harmoniegesänge sind nahezu perfekt. Das Arrangement ist pompöser Disco und lädt tatsächlich zum Tanzen ein. Auch eine unterschwellige Melancholie ist spürbar, während man sich im rosa Pailletten-Kleid als Dancing Queen präsentiert. „Deine Liebe ist wie eine rauchende Waffe/ direkt auf mich gerichtet/ Erdbeben und Schmetterlinge/ spürst du das?“, singen Laessig und Wolfe. Im Refrain wird mit gebrochenem Herzen getanzt und getanzt und getanzt. Gute Nummer, aber zu poppig, zu glatt!

Das ist auch Produzent Dave Cobb zu verdanken. Bekannt ist er für Arbeiten mit den RIVAL SONS, EUROPE: aber auch für LADY GAGA und unzählige Nashville-Country-Sternchen. Er überredete die Band, ein ganzes Album im Disco-Sound einzuspielen. Eine gute Idee? Ich weiß nicht. Man kann einer Band mit solchen Entscheidungen ein bisschen die Identität rauben. Auch die Folk-Sängerin Brandi Carlisle hat einen Teil der Songs produziert, bekannt für u.a. Kooperationen mit PEARL JAM und PAUL MCCARTNEY.

„Next to Normal“, der zweite Song auf dem Album, kommt mit funky groovendem Bass und lässig darübergelegten Gitarren-Licks daher. Man kann der Produktion gar nicht absprechen, dass sie organisch ist. Überhaupt wird Disco mit Blick auf die Instrumentierung oft unterschätzt. Hier fand man Virtuosentum gepaart mit Effektivität: ein Musiker wie BOOTSY COLLINS zählt einfach zu den besten Bassisten aller Zeiten, Vorbild für die RED HOT CHILI PEPPERS und FAITH NO MORE. Aber auch dieser Song ist eigentlich zu glatt, zu perfekt. Ich bin niemand, der „poppig“ als Schimpfwort benutzen würde, ich halte MICHAEL JACKSON und PRINCE für zwei der größten Künstler aller Zeiten. Und ja: auch ABBA, die ebenfalls ein Beleg dafür sind, wie raffiniert und komplex Musik für die Tanzfläche sein kann. Aber hier fehlt es an Brüchen, an Widerhaken: Das, was man an „Indie“ eben schätzt.

„Heartbursts“ biegt dann komplett in Richtung Radio ab, Soul Pop, wie man ihn Mitte der 90er Jahre hätte hören können. Ist immer noch gut gemacht, gut gesungen, gut arrangiert. Aber man hat das Gefühl, dass LUCIUS das schon besser und interessanter umgesetzt haben. Es geht um den verzweifelten Versuch, den Moment des Verliebtseins einzufrieren und festzuhalten: mit dem Wissen, dass das nicht gelingen wird. „Es ist besser, sein Herz zu geben, als gar nichts zu geben“: platzende Herzen. Sich eng am Kitsch entlang hangelnd.

Es ist – trotz Disco – keine Heile-Welt-Platte

Zu oft hat man hier das Gefühl, dass die Girls und Boys einfach Potential verschenken. Wobei das subversive Element noch immer durchklingt: „Dance Around“ ist eine super Synthie-Pop-Nummer, clever arrangiert, über die man sich in jedem Club freuen würde. Sehr einprägsam, eine schöne Melodie. SHERYL CROW wirkt mit. Trotz Disco ist das hier kein Heile-Welt-Album. Es geht um Scheidung, die (krisenhafte) Erfahrung der Mutterschaft, um Karriere-Krisen. Und auch der 80s-AOR-Rock klingt durch: Es gibt Balladen mit umarmenden Gesten, HEART in Zeiten des Vokuhila nicht unähnlich. Man höre die abschließende Ballade „White Lies“: ein durchaus kraftvolles Herzschmerz-Stück.

„Es ist eine Platte, die darum bittet, die schwierigen Momente nicht auszusitzen, sondern sie zu durchtanzen“, sagt Wolfe. „Es berührt all diese Phasen der Trauer – und einige davon sind übrigens bahnbrechend. Das ganze Spektrum der Erfahrungen, die wir gemacht haben, oder die ich bei meiner Scheidung gemacht habe, oder die wir gemacht haben, als unsere Karrieren sozusagen zum Stillstand kamen“. Stichwort: Corona. Es sei ein Album, indem es darum gehe, nach zahlreichen Krisen wieder auf die Beine zu kommen: eben tanzend im Disco-Sound. Aber wenn du die ganze Nacht durchtanzen kannst und dich angesichts aller Lebenskrisen unbesiegbar fühlst, hast du vielleicht auch schon ein bisschen zu tief ins Glas (und in die Diskokugel) geschaut.

Fazit: Nein, das hier ist kein schlechtes Album. Aber vieles, was die Band hier abliefert, haben sie zuvor schon cleverer, subversiver und spannender gezeigt: und bunter. Weniger glatt, weniger gefällig. Alle, die den klugen Pop von HAIM schätzen, die tollen Harmonien von FIRST AID KIT oder den abgründig-verträumten Sound von THE PIERCES, sollten das mal anchecken. Es ist immer noch gut genug, um empfehlenswert zu sein.

 

Label: Second Nature
Release-Datum: 08. April 2022

Lineup:

Jess Wolfe (Gesang und Songwriting)
Holly Laessig (Gesang und Songwriting)
Dan Molad (Gitarre)
Peter Lalish (Schlagzeug)

Homepage: https://ilovelucius.com/

LUCIUS: Second Nature Tracklist

1 Second Nature
2 Next To Normal (Official Music Video bei Youtube)
3 24
4 Heartbursts (Official Music Video bei Youtube)
5 Dance Around It (Feat. Brandi Carlile & Sheryl Crow)
6 The Man I’ll Never Find
7 Promises
8 Lsd
9 Tears In Reverse
10 White Lies