Na, mal wieder Bock auf den Thrash der alten Schule? Ihr wisst schon: Der Sänger hat seine lockigen schwarzen Haare im Gesicht hängen, sodass man nur Nase und Mund erkennt, man trägt Muskelshirts, Jeans und Sneaker, weil zu viele Gimmicks beim Moshen stören. Wäre das Schlagzeugspielen eine olympische Disziplin, könnte der Drummer für sich beanspruchen, der Usain Bolt der Bass Drum und Tomtoms zu sein. Diese Art der Attitüde. Es fließt viel Schweiß, der Sound ist räudig, und nach einem geschrienen ‚Go!‘ gibt es gepflegte Geschwindigkeitsattacken auf die Ohren. Voilà! Jetzt startet schon mal das Aufwärmprogramm: Nackenmuskeln lockern, 30-mal im Kreis mit der Luftgitarre springen, und die Fäuste rhythmisch gegen Stahlbeton hämmern. Here We Go!
Mit ‚Violence Prevails‘ legen CHEMICIDE aus Costa Rica ihr mittlerweile fünftes Album vor. Seitdem das Quartett vor etwa zehn Jahren mit ihrem Debüt auf der Bildfläche erschien, steht es für Thrash mit Haltung und Giftspritze. Vom Exotenbonus möchte ich nichts mehr hören: Bands aus Süd- und Zentralamerika liefern seit den späten 80ern Qualität. Und genau das bekommt man hier – eine kompromisslose Mischung aus Schlamm, Blut und ätzender Säure, die selbst den eingefleischtesten Fans von NUCLEAR ASSAULT oder SARCOFAGO den Puls auf 200 BPM treibt. Wer sein Shirt von damals trotz zig Wäschen immer noch mit Stolz trägt, wird ehrfürchtig den Kopf senken und mehrmals ein „Halleluja“ in den Thrashhimmel schicken.
CHEMICIDE servieren Thrash mit Wut und Aggressivität
Was CHEMICIDE auszeichnet, ist ein extrem hohes Maß an Wut und Aggressivität, mit der sie ihren Thrash wie eine Division von Abrissbaggern in die Innenstadt lenken. Und eine beeindruckende Authentizität. Ihre Texte sind durchzogen von sozialer Kritik, sie baden in Wut, sind anklagend und tragen oft Züge von Ohnmacht und Zweifel. Und so klingt auch die Musik. Sie explodiert im Gesicht, hinterlässt tiefe Brandwunden und ist von unbändiger Intensität. Es ist Thrash, der noch gefährlich und zermürbend aus den Boxen bricht.
Der Sound ist Oldschool, das stimmt, aber die Band verleiht ihm durchaus ihre eigene Note. Mit fast punkiger Haltung präsentieren sie ihre meist einfach gehaltenen Songs, versehen mit Gangshouts und vielen Mosh- und Kopfschüttel-Momenten, manchmal mit gepflegter Raserei, dann wieder hart im mittleren Tempo groovend.
Einen Kontrapunkt dazu bildet die technisch anspruchsvolle Gitarrenarbeit, die mit virtuosen Soli und einem Sammelsurium an klassischen Oldschool-Riffs glänzt, sowie einige songdienlich eingesetzte Tempiwechsel. Missversteht mich nicht: Wenn ich hier von Punk (oder vielleicht auch Hardcore) spreche, dann eher in der Art, wie NUCLEAR ASSAULT diesen Sound für sich erschlossen haben – mit einfachen Songstrukturen und diesem leicht übersteuerten Moment, bei dem die Songs quasi mit sich selbst um die Wette laufen.
Und da ist diese Stimme. Whoa – diese Stimme! Im Thrash haben wir zuletzt eher gepflegten Sprechgesang oder melodischere Harmonien gehört, bei Bands wie ATROPHY oder HEATHEN – allesamt großartige Truppen, keine Frage. Aber Frontmann Fernando „Frankie“ Camacho ist noch ein richtiger Shouter, mit diesem schneidenden, fast schrillen Unterton im Organ, bei dem man das Gefühl hat, die Stimmbänder sind wie ein Bogen gespannt und könnten jeden Moment reißen. Dieses Giftige! Wisst ihr, was ich meine? Eine Stimme, die dich anspringt wie der Facehugger in Alien, dir mit fangartigen Tentakeln das Gesicht aufreißt und sich durch deinen Brustkorb frisst. Wut – pure, gallige Wut – spiegelt sich in jedem Ton. Eine Mischung aus dem jungen Mille und Steve Reynolds von DEMOLITION HAMMER, melodisches Gekeifere mit bedrohlichem Unterton.
Erkennbare Vorbilder…
Und so bekommen wir hier in zehn Songs amtlichen, urtümlichen Thrash um die Ohren geballert – wobei gleich drei Nummern Coverversionen sind, die sich jedoch nahtlos in den Sound einfügen. Natürlich lässt sich hier auch der Einfluss der großen Vorbilder erkennen. ‚Prail of Failure‘, im brutalsten Midtempo vorgetragen, erinnert an die ‚Terrible Certainty‘-Phase von KREATOR, technisches Riffing gepaart mit bestialischer Brutalität. Der Bass gräbt sich zu Beginn mit rhythmisch-anfeuernden Stößen in den Song wie auf den ganz frühen SLAYER-Alben.
Der Opener ‚Do as I Say, Not as I Do‘ startet mit einem Sprachsample, einer hellen Frauenstimme: ‚Was ist es, was dich so an der Gesellschaft enttäuscht?‘, bevor ein unglaublich fetter Schlagzeuggroove einsetzt – und Riffing, das wieder an SLAYER und KREATOR gemahnt. Eine Minute groovt der Song im mittleren Tempo, dann explodiert er, nimmt an Fahrt auf, bis Fernando mit schreiendem Organ dazukommt: ‚Ich kann meine Augen nicht öffnen für diese Welt, / ein trauriges Bild unserer tiefsten Ängste‘ – Blut fließt, erstickte Schreie, unbegreiflich. Korruption, Armut und soziale Ungerechtigkeit sind allgegenwärtige Themen.
‚Red Giant‘ nimmt ein wenig das Tempo raus und bewegt sich zunächst im groovenden Rhythmus. In solchen Momenten erinnert die Band mitunter an die „South of Heaven“-Phase von SLAYER, aber auch aufgrund des ausgeprägten Crustcore-Punches von klirrender Barmlosigkeit an Bands wie BRUJERIA. Auch dieser Song nimmt Wendungen und schlägt Ösen, steigert sich zwischendurch, nur um das Fahrt wieder zu drosseln – der Mittelteil lässt kurz Luft zum Durchatmen, bevor der Eisbrecher erneut tiefe Gräben in der Magengegend schneidet.
Immer wieder erinnert mich die Band in ihrer Intensität – und auch im Riffing – an DEMOLITION HAMMER, die mit Tortured Existence und Epidemic of Violence bekanntlich zwei der brutalsten Thrash-Alben aller Zeiten vorgelegt haben. Hört Euch nur das rasende „Chokehold“ an! Dann haben die Gitarrattacken einen Hauch von Death Metal und brutale Schärfe im Riffing, durchzogen von Speed- und High-Pitched-Soli.
Wie oft hatten Thrash-Bands früher einen Atompilz auf ihrem Cover? Da habt Ihr ein passendes Bild: eine atomare Kettenreaktion, die sich in purer Vernichtung entlädt. Die Äxte von Frontmann Camacho und Sebastian Quiros kommen dabei mit präziser Wucht aus den Boxen. Der Sound ist fett und lässt keine Wünsche offen – produziert, gemastert und gemischt hat die Band gemeinsam mit Martin Furia, den wir aus seiner Arbeit mit DESTRUCTION kennen.
…doch trotzdem besitzen CHEMICIDE eine eigene Handschrift
Trotz aller Referenzen besitzt die Band eine eigene Handschrift, die sich in den Songstrukturen und ihrer politisch aufgeladenen Haltung widerspiegelt – vor allem in der berserkenden Wut. Ein deutlicher Bezug zu Crust- und Anarchopunk ist erkennbar, zu Vorbildern wie DISCHARGE, CRASS oder AMEBIX. Kein Wunder also, dass sie die US-Punks von LOS CRUDOS covert haben, mit Zeilen wie: „You just a closet fucking nazi/ Bullshit!/ You just no understand us/ Bullshit!/ You just fucking fear us/ Bullshit!“
Der Punk schwingt im Sound des Vierers immer mit, auch wenn er oft unterschwellig bleibt. ‚Es stimmt, wir sind eine Spic-Band!‘, heißt der gevocerte Song: „Spic“ ist ein abwertender und rassistischer Begriff, der in den USA häufig verwendet wird, um Menschen lateinamerikanischer Herkunft zu beleidigen und herabzuwürdigen. Passend in Zeiten, in denen Donald Trump Massenabschiebungen plant.
Im Mittelteil des Albums gibt es dann auch getragenere Nummern wie das gallig-brachiale „Parasite“, bei dem Sänger Camacho teilweise nur von wuchtigen Drums begleitet seine wütenden Silben ausspuckt. Eine Höhlenmenschen-Hymne, unterfüttert von primitiven, aber wirkungsmächtigen Hardcore-Riffs. NAILBOMB lassen grüßen. Die Gitarren barmen stellenweise fast doomig, das Schlagzeug ist dominierendes Instrument. Immer wieder gibt es diese Momente, in denen die Schnelligkeit gedrosselt wird und der Schwerpunkt mehr auf brachialen Grooves liegt.
James Hetfield, zum Zombie mutiert
Die vielleicht geilste Coverversion hebt sich die Band bis zum Schluss auf. Zentralamerikas Thrash-Granaten schnappen sich ’72 Seasons‘ vom letzten METALLICA-Album – genau, das mit dem knallgelben Cover. Sie verwandeln den Song in eine unaufhaltsam nach vorn preschende Punk-Thrash-Attacke, alles ein wenig räudiger und schärfer dargeboten, und Camacho singt und keift wie James Hetfield, der zum Zombie mutiert ist. Nein, keiner dieser langsam dahinschlurfenden Zombies, sondern einer, der sich mit Lichtgeschwindigkeit bewegt und, wie in Danny Boyles ’28 Days Later‘, als Zombie-Tsunami Stadtmauern überrennt. Besser und härter als das Original? Auf jeden!
CHEMICIDE liefern hier ein Thrash-Album ab, das wie ein Gummigeschoss einschlägt – gestählt im Strahl der Wasserwerfer, mit geballter Faust und ungezähmtem Furor. Die Gitarrenarbeit ist hochwertig, das Drumming variabel und präzise, das Geshoute aggressiv – ein wahres Fest für Oldschool-Fans. Da auch SACRIFICE mit „Volume Six“ ein ähnlich wuchtiges Geschoss abgefeuert haben, scheint es ein gutes Jahr für all jene zu werden, die den Thrash gern rauer und brutaler mögen. Ganz klare Kaufempfehlung! Aber eins sollte auch klar sein: Dieses Album wirkt erst, wenn man es so laut hört, dass der Putz von der Decke rieselt.
Veröffentlichungstermin: 28.02.2025
Spielzeit: 36:46
Line-Up:
Fernando Camacho: Vocal/ Guitar
Sebastian Quiros: Guitar
Daniel Kohkemper: Bass
Daniel Gonzalo Quirós: Drums
Produziert von CHEMICIDE und Martin Furia
Label: Listenable Records
Bandcamp: https://chemicide.bandcamp.com/
CHEMICIDE „Violence Prevails“-Tracklist
1. Do As I Say, Not As I Do
2. Red Giant (Lyric Video bei Youtube)
3. Systemic Decay
4. Parasite
5. Violence Prevails (Video bei Youtube)
6. Prey of Failure
7. Chokehold
8. Supremacy
9. That’s Right, We’re That Spic Band !!! (Los Crudos Cover)
10. 72 Seasons (Metallica Cover)