Seit einem halben Jahr habe ich einen neuen Mitbewohner. Es ist mir ziemlich peinlich, dass ich ihn erst jetzt erwähne. Er heißt In Focus und ist das dritte Kind seiner Eltern ALIAS EYE. Seit seinem Einzug sind wir uns die meiste Zeit aus dem Weg gegangen. Er hat nämlich einen ziemlich sperrigen Charakter und ich nur begrenzt Geduld. Dabei war mir klar, dass hinter der Fassade des ersten Eindrucks wahrscheinlich ein ganz umgänglicher Typ steckt. Bei unserer ersten Begegnung überraschte er mich mit seiner ausgesprochen direkten Art. Ich hatte eher ein introvertiertes, schüchternes Bürschchen erwartet. In Focus stolperte dagegen mit der Tür ins Haus. Was folgte, kann man entweder als innige Umarmung oder ungelenke Attacke interpretieren. Dann begann er einen Witz zu erzählen, hörte jedoch vor der Pointe auf. Es folgte eine lückenhafte Shakespeare-Rezitation und eine knapp gehaltene Kurvendiskussion. Als er Luft holen musste, zeigte ich ihm schnell seinen Platz im Promostapel. Von Zeit zu Zeit arbeitete er sich nach oben. Doch nie hatte ich die Muse, seinen Ausführungen länger als eine Viertelstunde lang zu folgen.
Nun habe ich endlich Zeit für ein ausführliches Gespräch mit In Focus gefunden. Und tatsächlich ist er ein wirklich netter Kerl! Hin und wieder geht sein Temperament mit ihm durch. Aber dafür ist er eine ausgesprochen charismatische Persönlichkeit. Seine Stimme (Philip Griffiths) hat einen kräftigen Klang und passt die Phrasierung einzelner Sätze dem jeweiligen Kontext souverän an. Sein Bewusstsein für Ästhetik ist nicht immer konventionell. Er lebt aber nicht in einer Traumwelt. Dadurch bleiben die meisten seiner Gedankengänge auch für gewöhnliche Menschen nachvollziehbar. Was im ersten Moment wie Überheblichkeit wirkte, ist in Wahrheit ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Wie der Albumtitel andeutet, braucht man den richtigen Fokus, um die Klänge zu verstehen und zu genießen.
Während bei A Different Point Of You die Betonung noch auf ARTrock lag, bietet In Focus nun (ausgesprochen eigenständigen) artROCK. Gitarren und Schlagzeug wurden sehr druckvoll in Szene gesetzt, ohne Progfans mit allzu metallischen Elementen vor den Kopf zu stoßen. Es gibt neben klassischem Futter wie Rhodesian Rhapdsoy einmal mehr ein gelungenes Akkordeon-Experiment (Enlighten Them) und gefühlvolle Klavierteile, bei welchen Erinnerungen an Mainstream-Pop-Interpreten wach werden (Books und das Intro von Hold On). Die meisten Stücke haben einen gewissen Querdenkercharakter, der den Einstieg zu einer Herausforderung macht. Umgekehrt überspannen ALIAS EYE den Bogen nicht, sondern setzen auf kompakte Arrangements (durchschnittliche Liedlänge unter 4 Minuten!), die spieltechnische Kunststücke sehr songdienlich integrieren. In Sachen Spielwitz kann das süddeutsche Quintett mittlerweile mühelos mit Bands wie SPOCK´S BEARD konkurrieren, auch wenn es deren Eingängigkeit (noch) nicht erreicht. In Focus ist jedenfalls ein gelungenes, zeitgemäßes Progrock-Album, das nicht nur musikalisch einiges zu bieten hat, sondern auch mit lesenswerten Texten und einem passenden Titelbild aufwarten kann.
Veröffentlichungstermin: 15.01.2007
Spielzeit: 44:40 Min.
Line-Up:
Philip Griffiths: Gesang
Matze Wurm: Gitarre
Vytas Lemke: Keyboards
Frank Fischer: Bass
Ludwig Benedek: Schlagzeug
Produziert von ALIAS EYE
Label: QuiXote Music
Homepage: http://www.aliaseye.com
Tracklist:
1. I´m Your Lie
2. In Denial
3. The Call
4. Enlighten Them
5. Books
6. History Lesson
7. Rhodesian Rhapsody
8. Hold On
9. To Be Or Not To Be… Revisited
10. Falling
11. How We Perceive…