Leserbrief von Thor Joakimsson
Einspruch, liebe Vampster-Kollegen,
und zwar entschiedener Einspruch, denn mit Eurem Text unter der Überschrift „Quo vadis, Prophecy Productions?“ habt Ihr Euch ziemlich heftig verhoben! Ihr wollt nicht, so wie das Eurer Wahrnehmung nach anscheinend andere (Medien?) machen, „einfach ignorieren und totschweigen“, sondern Ihr habt Euch dazu entschieden, „kritisch zu hinterfragen (…) und eine Diskussion anstoßen“. Nun denn, Ihr seid nicht die ersten Metal-Schreiber bzw. -Journalisten, die aufgrund der Einladung zum Prophecy Fest sowie des Signings von Solstice Vermutungen anstellen über die vermeintliche politische Agenda des Labels, und daher lese ich Euren Kommentar bzw. Eure beiden Kommentare mit Irritation: Erstens frage ich mich, was da an bisheriger Diskussion an Euch bereits vorbeigegangen ist, und zweitens frage ich mich, mit welcher Verhältnismäßigkeit Ihr Eure Beobachtungen ins Gewicht setzt – zum Beispiel zur Geschichte von Prophecy Productions, zur Vielzahl an Bands und Künstlern, die Prophecy Productions auf verschiedene Weise prägten und prägen, zur… hoppla, welchen Bezugsrahmen setzt Ihr…?
„In diesem aufgeheizten Klima in Deutschland 2024, 79 Jahre nach dem Ende des zweiten Weltkrieges, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung, 30 Jahre nach brennenden Asylheimen, zehn Jahre nach der Gründung von Pegida, sind rechte Positionen salonfähiger denn je. Patriarchale Strukturen wanken mehr als in den 10.000 Jahren zuvor, konservative Menschen – Männer wie Frauen, eben alle, vom Patriarchat geprägten Individuen – fürchten um die Ordnung, in der sie ihr Leben zugebracht haben und flüchten sich in immer extremere rechte Positionen.“
Meinst Du das ernst, Christoph? Du beginnst Deinen Kommentar zum Umgang von Prophecy Productions mit ausgerechnet dieser Auflistung? Was soll dadurch zum Ausdruck gebracht, was soll nahegelegt werden? Dass Prophecy Productions vermeintlich „rechte Positionen“ fördert, die Menschen schlimmstenfalls dazu motivieren, Asylheime in Brand zu setzen? Verzeihung, das wäre infam.
In der Einleitung Eures Artikels ist von Aussagen die Rede, die „dem rechtsradikalen Spektrum zugeordnet werden können“, in Deiner eigenen Einleitung schreibst Du von „rechten Positionen“ und „immer extremere(n) rechte(n) Positionen“, im weiteren Artikel u.a. von reaktionärem Konservatismus – leider, ohne das alles näher zu definieren. Durch diesen schwammigen Gebrauch werden die Begrifflichkeiten einmal mehr verwässert. Es ist ein gehöriger Unterschied, ob ein Mensch konservative/rechte (also im demokratischen Rahmen auf Bewahrung zielende), rechtsradikale (auf einem geschlossen rechten Weltbild gründende) oder rechtsextreme (mit Gewalt durchzusetzende, ein totalitäres System anstrebende) Ideen vertritt. Der deutsche Widerstand gegen Hitler und die Nazis war vielgestaltig, und neben sozialdemokratischen, kommunistischen, jugendlich-anarchistischen u.a. Widerständlern gab es auch Widerstand aus dem rechts-konservativen Spektrum. Im Angesicht des Horrors des Nationalsozialismus haben Menschen im Widerstand übrigens die Gräben zwischen links und rechts trotz vorheriger gegenseitiger Ablehnung überwunden (u.a. nachzulesen in dem in diesem Jahr erschienenen, sehr empfehlenswerten Buch „Wir Kinder des 20. Juli“).
Du schreibst: „Generell ist diese strikte Links-Rechts-Denke schon auch ein sehr deutsches Ding, und leider muss es im Angesicht unserer Geschichte auch so sein.“ Ist das so, und muss das wirklich so sein? Ich denke, dass wir sowohl konservative (rechte) als auch progressive (linke) Ideen wertschätzen sollten, und dass die totale Fixierung auf eine Seite und die totale Verdammung der anderen Seite ins Unheil führt. Warum sollten Menschen, die sich eher links oder eher rechts verorten, nicht auch Ideen aus der anderen Richtung wertschätzen können? Beim Umweltschutz finde ich es zum Beispiel sehr naheliegend, dass es um eine Bewahrung einer möglichst großen Vielfalt von Arten gehen sollte, und dass dieses Ziel angesichts aktueller Herausforderungen auch neue, progressive Ansätze erfordert. Bestenfalls fließen rechte und linke Ideen zusammen, und das mag nicht nur beim Umweltschutz gelten.
Du schließt Deinen Kommentar mit folgender Wahrnehmung: „Derzeit fühlt es sich jedoch leider so an, als wollten sie (Prophecy) ihr altes Publikum trotz neuer Ideologie nicht verlieren und als hätten viele Medien Angst in die Konfrontation zu gehen.“ Von welcher neuen Ideologie schreibst Du? Und wie passt diese Ideologie zu einem Label mit einem vergleichsweise bunten Roster, in welchem – wir kommen zurück zu Deiner Einleitung, Stichwort „Patriarchat“ – doch einige Bands mit Musikerinnen und Persönlichkeiten zu finden sind, die sicher nicht durch Patriarchat-konformes Duckmäusertum auffallen wie z.B. Bethlehem, Dool oder Perchta, deren aktuelles Album eine starke Weiblichkeit in verschiedenen Aspekten feiert und zu enttabuisieren sucht…? Ich zitiere Euren Kollegen Florian Schaffer, der über das Perchta-Album „D’Muata“ in seiner Rezension auf Vampster.com schrieb: „Ihren in der Tiroler Tradition beheimateten Wurzeln bleibt die Formation auf ihrem Zweitwerk dabei treu: In Mundart erzählt Sängerin Frau Percht von Geburt und Mutterdasein, dem Berufsstand der Hebamme, und der femininen Sexualität; verschweigt nicht die damit verbundenen Herausforderungen und gesellschaftlichen Vorbehalte. Dass Perchta auf diese Weise gezielt mit Tabus brechen, während sie sich traditionelles Instrumentarium à la Hackbrett oder Maultrommel („Hebamm“) zunutze machen, hat fast schon Symbolcharakter. Als würde das Gespann der manchmal noch arg konservativen Denkweise auf dem Land den Spiegel vorhalten: weil eben das, was „D’Muata“ ausspricht, schon immer Teil der Lebenswirklichkeit war.“ – Würde Prophecy eine patriarchale Ideologie verfolgen, dann würde das Label wohl kaum eine solche Künstlerin unterstützen, oder? Ganz nebenbei hat Euer Kollege wunderbar herausgestellt, dass bei Perchta Konservatives und Progressives zusammengehen – ich würde behaupten, das gilt für nicht wenige Bands auf Prophecy: Eine starke Verwurzelung in v.a. musikalischen, hier und dort auch lokalen Traditionen, Geschichte oder Mythologie, und eine persönliche Interpretation derselben, die sich nicht sonderlich um Mainstream-Kategorien schert, und oft mit Bewunderung für „die Natur“ einhergeht – jedoch nichts irgendwie Rechtsextremes an sich hat.
Und damit wären wir beim nächsten Thema und Andreas‘ Text, in dem mir eine Passage beim Lesen nahezu Schmerzen bereitete: „Verklärung von kollektivem Abschlachten, Führer- und Heldenkult, ‚die Natur‘ als Leitbild, generell Eskapismus und Naturverklärung, das ist doch, seien wir ehrlich, alles hoch problematisch, und der Schritt zum Faschismus ist kein großer mehr.“
Lieber Andreas – was schreibst Du da bitteschön unter der Überschrift „Quo vadis, Prophecy Productions“…? Welche der Prophecy-Bands verklären denn – wie manche Epic-Metal-Bands? – ein kollektives Abschlachten, welche Prophecy-Bands fördern einen Führer- und Heldenkult? Dass Du direkt an diese beiden Vorwürfe anschließt mit der Behauptung, dass es – auch – von „der Natur, generell Eskapismus und Naturverklärung kein großer Schritt mehr zum Faschismus sei“ – lieber Himmel, hast Du Deinen eigenen Kommentar nicht noch einmal gelesen, bevor Du ihn veröffentlicht hast? Eine Naturverklärung im weiteren Sinne war die Geburtsstunde von Prophecy Productions mit der Veröffentlichung von Empyriums „A Wintersunset…“ in 1996. Seitdem sind ich weiß nicht wie viele Alben auf Prophecy erschienen, auf denen „die Natur“ auf die eine oder andere Weise „verklärt“ wird – doch mit welchem Ziel? Natur als Rohstofflager für Brennmaterial und Kriegswesen…? Oder doch vielleicht als bewahrenswerter Rückzugsort? Die Antwort hast Du in Deiner Einleitung selbst gegeben: „Dieses Märchenhafte, der Welt Entrückte, Naturromantische, das habe ich damals gebraucht und brauche es angesichts einer Welt, in der es so viel Schrecken gibt, bis heute.“ – Willkommen im Club, Andreas, und – das meine ich ironiefrei – weiterhin willkommen auf dem Prophecy Fest, auf dem in diesem Jahr einige Besucherinnen und Besucher den Mut fassten, meinen Freund Dan Capp selbst zu Vorwürfen und Gerüchten zu fragen, und er sich im persönlichen Gespräch die Zeit nahm, ihnen seine Sicht der Dinge zu erklären. Das führte dazu, dass manche überrascht waren, wie gut sich mit Dan reden und diskutieren lässt. Ich kam z.B. zu einem Gespräch mit einem gebürtigen Kolumbianer hinzu, der im Anschluss daran definitiv keine Sorge mehr hatte, auf dem Festival im Allgemeinen oder von Dan im Besonderen diskriminiert zu werden.
Das Festival – meinst Du das ernst, wenn Du als Kritikpunkt daran die auf dem Zeltplatz abgespielte Musik einer Band nennst, die niemals auch nur ansatzweise in Frage käme, auf dem Prophecy Fest aufzutreten? Du schreibst: „Die Geister, die man rief, sie sind dann halt auch gekommen.“ – Wer sagt Dir, dass es nicht die Geister sind, die von Menschen „gerufen“ wurden, die mit ihrer zum Totalitären neigenden Kritik so wie Christoph und Du maßlos übers Ziel hinausschießen, wenn sie Prophecy Productions als ideologisches Einfallstor in den Rechtsextremismus hochjazzen?
Was mich an alledem nicht nur irritiert, sondern auch ärgert, ist Eure eigene Ignoranz gegenüber Widersprüchen, die Euch doch kaum entgehen können: Wenn Christoph seinen Kommentar schon mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs einleitet, warum kommt dann niemand von Euch auf die Idee, dass der Nationalsozialismus mit seiner Zerstörung der Natur im Allgemeinen und riesiger Waldflächen im Besonderen im völligen Widerspruch zur Naturromantik und somit zu einem Wesenskern von Prophecy Productions steht? Warum fragt sich niemand, wie es Dan Capp geschafft hat, eine klipp und klar antifaschistische Erzählung einzulesen und zu promoten? Warum wird der Blick auf vermeintlich fragwürdige Kontakte verengt und andere Kontakte werden außen vorgelassen? Weil sie das Bild vom eindeutig Rechtsextremen stören? Weil es nicht zur vermuteten patriarchalen Agenda passt, wenn Dan Capp mit Künstlerinnen zusammenarbeitet, die bestimmt kein altbackenes Patriarchat bewahren wollen? Das ist jedenfalls der Eindruck, der sich mir aufdrängt, wenn ich Kommentare wie die Euren lese. Und damit möchte ich nicht sagen, dass es keine kritikwürdigen Ansichten gibt, die Du und ich bzw. Ihr und wir z.B. an Dan kritisieren und mit ihm diskutieren könnten – echtes Interesse vorausgesetzt. Dass bestimmte Kritikpunkte allerdings so unverhältnismäßig groß gemacht werden, um dahinter eine neue Ideologie von Prophecy Productions zu „enttarnen“ – also ob auf dem Label keine anderen respektablen Bands wären, die irgendwie ein Gegengewicht zum befürchteten Absturz in den Rechtsextremismus bilden könnten –, das mutet – freundlich formuliert – grotesk an.
Andreas, Du schreibst: „Ich glaube, dass faschistoide Vorstellungen – etwa vom Recht des Stärkeren, von der Macht des völkischen Kollektivs oder vom Nutzen starker Führungsfiguren bzw. einer starken Nation als Ganzes, die für einen da sein soll – einfach immer schon sehr weit verbreitet sind in einer kapitalistischen, auf Nationalstaaten basierenden Gesellschaft (und natürlich auch in der Metal-Szene und in der Musik und den Texten vieler unserer Lieblingsbands), unter dem Eindruck globaler Krisen und Bedrohungen für das eigene kleine private Glück (…) nun aber offener zutage treten.“ Du schreibst auch, das Du bis vor einigen Jahren selbst begeisterter Besucher vom Prophecy Fest warst, also hast Du dort die Stimmung erlebt und gesehen, wer sich vor und in der Balver Höhle tummelt – glaubst Du, dass sich dieses Publikum, das Martin Koller skizziert hat, wirklich nichts Besseres zu tun hat, als aufgrund von etwaig fragwürdigen Aussagen einiger Musiker Herz und Hirn auszuschalten und in völkischen Phantasien zu schwelgen, frei nach dem Motto „und im nächsten Jahr jagen wir die Muselmanen vom Veggie-Stand zum Teufel!“? – Wie bitte, mit solcher Polemik schieße ich übers Ziel hinaus? Genau das, liebe Vampster-Kollegen, wir sollten also alle mal die Kirche im Dorf lassen.
Liebe Grüße
Thor Joakimsson
Mørkeskye-Fanzine / Trollmusic
Antwort von Andreas Holz
Lieber Thor,
wie gut, dass du selbst erwähnst, was wir gemeinsam haben: die Liebe zur naturromantischen Metal-Musik der 90er. Ich bin ja mittlerweile auch mit unpolitischen Musikern voll zufrieden, verlange von niemandem einen politischen Persil-Schein; von mir aus können sie privat sogar Autoren im Schrank stehen haben, die ich politisch katastrophal finde – solange sie die Öffentlichkeit damit in Ruhe lassen, ist das für mich in Ordnung. Warum auch mit Politik nerven, wenn’s um Bäume geht?
Aber als Dan Capp diese unsere Leidenschaft dann eben für seine politische Alt-Right-Propaganda missbrauchte, konnte ich das irgendwann nicht mehr unkommentiert lassen. Was hat es mich damals genervt, als ich zum ersten Mal den auf der Facebook-Seite von WOLCENSMEN verlinkten Telegram-Kanal „The Fyrgen“ angeklickt habe: ein romantischer Folk-Musiker, der einen Kanal eröffnet, in dem er Covid und Impfungen leugnet, den Staat als Firma bezeichnet und seine Leser darüber schwadronieren lässt, wer im Geheimen wohl die Welt beherrscht? Was sollte das? Ging es noch infamer: erst traumhaft schöne Musik machen und dann die davon Angefixten mit Schwurbelpropaganda überschütten? Das macht unsere gemeinsame Leidenschaft doch kaputt, dachte ich, das kann man dem doch nicht durchgehen lassen!
Ich hatte mich geirrt: Es war einfach vielen völlig egal. Klar: Das ist ihr gutes Recht. Jeder darf mit jedem in einer Band spielen, ein Bier trinken, Plattenverträge anbieten, was auch immer. Es ist aber auch mein gutes Recht, mich dann davon zu distanzieren und meine Enttäuschung kund zu tun darüber! Erst recht, nachdem Capp sich dann in Rich Walker mit einem weiteren leidenschaftlichen Hobby-Politiker zusammen getan hat und die beiden in ihrer Funktion als Bandkollegen Interviews gegeben haben mit Aussagen, durch die sie sich sowas von ins Abseits geschossen haben, dass es wirklich aberwitzig ist, dass wir den Vorwurf bekommen, sie irgendwie „canceln“ zu wollen. Wie kann man jemanden „canceln“, der – wie Rich Walker – behauptet, eine ein Kinderbuch vorlesende Drag Queen sei eine Gefahr für Kinder und müsse deshalb zu Klump gehauen werden? Oder jemanden, der – wie Dan Capp – behauptet, das UK sei von Parasiten regiert, die das wahre England und den wahren englischen Mann unterdrücken?
Und das sind nur zwei der Beispiele für rechtsextreme Propaganda, die wir in unserem Artikel zitiert haben (und die, egal wie oft du das noch behauptest, niemals von irgendwas anderem, was sie so tun und sagen, aufgewogen werden können – diese Aussagen stehen für sich und sich eindeutig). Distanziert haben sich Capp und Walker bisher von keiner ihrer völlig realitätsfernen Aussagen, und es wurde von ihrem neuen Label auch nicht verlangt. Stattdessen behauptet Capp jetzt in seinem Telegram-Kanal „The Fyrgen“ allen Ernstes, er sei gar nicht rechts, er sei bloß ein Familienmensch, der nach der Wahrheit suche, das Gute wolle und dafür nun von bösen Kommunisten gejagt werde. (Wenige Tage später grüßt er dann übrigens an gleicher Stelle zum neuen Jahr alle, die, wie er, gegen „das pädophile, technokratische, talmudische System“ stehen…) Man lasse sich das mal auf der Zunge zergehen: Erst Meinungen äußern, die den Verfassungsschutz auf den Plan rufen könnten und dann bei vorsichtigem Gegenwind dafür die beleidigte Leberwurst spielen und sich als Betroffener einer Hetzjagd inszenieren!
Wie gesagt: Es ist ein freies Land, Prophecy darf sich selbstverständlich dafür entscheiden, diesen Leuten ein Forum und einen Plattenvertrag zu bieten und ihre Aussagen als kleine Spinnereien genialer Künstler abzutun, wie es Martin Koller erstaunlicherweise in seiner Stellungnahme tut. Aber ich darf mich darüber auch aufregen und wundern, ich darf deren Konzerte nicht mehr besuchen, und ich darf darüber schreiben, wieso ich auf dieses Vergnügen verzichte! Gerade weil ich Prophecy Productions mal so geliebt habe, war es mein Bedürfnis, meine begründete Enttäuschung über ihre Entscheidungen kund zu tun – nicht mehr und nicht weniger habe ich getan, und wenn Mr Capp jetzt der Meinung ist, von mir verfolgt zu werden, dann passt das vielleicht in sein paranoides Weltbild, mit der Wahrheit hat es nichts zu tun, und es ist – nette Gespräche beim Festival hin oder her (als ob das jemals jemand bestritten hätte!) – keine Grundlage für einen Dialog.
Aber da war ja noch ein spannenderes Thema: der Zusammenhang von Naturverklärung und Faschismus. Natürlich ist das nicht das Gleiche, und natürlich ist nicht jeder, der gerne wandern geht, ein Faschist. Ich habe, wie du weißt, nichts gegen Folklore und Naturmystik oder die Beschäftigung mit dem eigenen kulturellen Erbe – herrje, meine Playlisten und Plattenschränke sind voll von solchen Sachen, und ich bin nicht zuletzt auch aus linker Perspektive der begründeten Meinung, dass es notwendig ist, sich seiner Traditionen bewusst zu sein. Aber der Zusammenhang zum Faschismus und zum völkischen Denken besteht nun einmal und ist ein seriöser Forschungsgegenstand. Dazu empfehle ich an dieser Stelle mal einen wissenschaftlichen Artikel, will aber auch noch selber was Inhaltliches beisteuern: Was ist eigentlich das Problematische daran, sich an „der Natur“ als Leitbild zu orientieren? Warum bestehe ich darauf, dass es sich lohnt darüber zu reflektieren, wenn man naturromantische Musik hört und genießt?
Nun: „Die Natur“ als allseits bekannte Größe gibt es einfach nicht. Es gibt biologische Phänomene, die wir Menschen mit unseren Sinnen und Methoden wahrnehmen und beschreiben können (und wir lernen da ständig hinzu), aber alles darüber hinaus spinnen wir uns zusammen, ist Ideologie. Das heißt: Sobald ich behaupte, irgendwas sei „natürlich“, lüge ich bzw. reproduziere meine eigenen Vorstellungen – vor allem, wenn es um „den Menschen“ geht, der sich ja nun zu allem Überfluss noch dadurch auszeichnet, dass er sich seines Verstandes bemächtigen kann – was ihn wiederum dazu befähigt sich von früheren Verhaltensweisen emanzipieren zu können: Gesellschaftlicher Fortschritt ist möglich, gesetzt den Fall, es kommen nicht Leute daher, die das verhindern, indem sie lautstark behaupten, es sei irgendwie „natürlich“, was „immer schon so gewesen“ sei (z.B. eben „das Volk“). Das ist die Gefahr, und dagegen geht meine Rede in diesem Zusammenhang.
Daraus folgt für mich auch: Als progressiv denkender Mensch muss ich der Natur gegenüber ehrfürchtig gegenüber stehen, und zwar gerade weil ich sie (noch?) nicht erfassen kann. Dann – und nur dann! – bewege ich mich achtsam in dieser Welt und versuche sie zu erhalten, da ich ihre Vielfalt und Schönheit als solche wertschätze. Wenn ich in ihr sehen möchte, was ich will, und das als Grundlage für mein reaktionäres Wertesystem verkläre, tue ich das nicht.
Abschließend möchte ich klarstellen: Es war nicht meine Absicht, Prophecy Productions vorzuwerfen, als „ideologisches Einfallstor in den Rechtsextremismus“ zu fungieren. Ich denke, Christoph und ich haben durchaus die Vielfalt des Programms und den kulturellen Stellenwert von Prophecy Productions für die Metal-Welt beschrieben – das war ja gerade unser Ausgangspunkt, von dem aus wir unsere Irritation und Enttäuschung kundgetan haben. Zugegeben, es mag nicht zielführend gewesen sein, den Kommentar zur auf dem Zeltplatz nachts von irgendwem abgespielten Musik zu thematisieren. Aber genau so unsinnig ist es wohl, den Spieß umzudrehen und zu behaupten, wir würden, weil wir Phänomene kommentieren, diese Phänomene überhaupt erst erzeugen, oder schlimmer noch: die stinknormale demokratische Empörung über einen Missstand wäre der Missstand selbst.
Soweit möchtest du es sicherlich doch auch nicht kommen lassen?
Viele Grüße,
Andreas