JINJER, THE AGONIST, KHROMA, SPACE OF VARIATIONS – “Macro”-Tour, Backstage Werk, München, 16.12.2019

Sie haben es tatsächlich geschafft. Wie fast jede andere Show auf ihrer aktuellen „Macro“-Europatour ist auch das Münchner Backstage Werk ausverkauft. Jene Halle, in der JINJER Anfang des Jahres noch als Support von AMORPHIS und SOILWORK gespielt hatten, füllen die Ukrainer nun als Main Act. Der Hype um das Quartett aus Osteuropa kann einem schon unheimlich werden, wenn sogar einer der größten Clubs der Tour an einem Montagabend keine Abendkasse mehr bietet.

Diesem Phänomen wollen wir trotz anstrengender Arbeitswoche auf den Grund gehen, als wir Ticket gegen Stempel und die kalte Münchner Abendluft gegen stickiges Hallenambiente tauschen – allein an der namhaften Verstärkung THE AGONIST kann es schließlich kaum liegen, dass der Club schon am frühen Abend gut gefüllt ist.

SPACE OF VARIATIONS

Zunächst einmal liegt es aber an SPACE OF VARIATIONS, die JINJER aus der Ukraine mit auf Tour genommen haben, dem Laden einzuheizen. Eine halbe Stunde steht dem Quartett dafür zur Verfügung, von der es offenbar keine Sekunde ungenutzt verstreichen lassen will: Es dauert keine drei Minuten, da springt Sänger Dima schon in den Graben, um mit dem Publikum auf Tuchfühlung zu gehen.

Der selbstbewusste Frontmann ist an diesem Abend hochmotiviert und scheint wenig Interesse daran zu haben, im Backstage lediglich den Anheizer zu spielen. Gleichzeitig tobt Gitarrist Alex Zatserkovny, der in seiner 80er-Jahre-Trainingsjacke manchmal wie eine lebendige Karikatur wirkt, über die Bretter und zeigt nur dann so etwas wie Mäßigung, wenn der elektronisch angereicherte Metalcore seine Gesangstalente verlangt.

Die Energie auf der Bühne wirkt schnell ansteckend

Logisch, dass diese Energie trotz der zerfahrenen Lightshow ansteckend wirkt und schnell auf das immer zahlreicher werdende Publikum übergreift. Zum Banger „Tibet“ springen bereits die ersten Fans in den vorderen Reihen auf und ab, bevor mit der neuen Single „Razorblade“ im Pit erste Prellungen verteilt werden. Für einen Opener ist die Stimmung ausgesprochen gut, weshalb Frontsau Dima im groovenden „Fuck This Place Up“ kurzerhand in die Meute vor sich springt, um sich auf deren Hände durch die Halle tragen zu lassen. Es wäre der passende Höhepunkt einer soliden Show, würde mit dem knackigen „Будут Наказаны“ nicht noch der erste Circle Pit des Abends folgen, der uns vor allem eines zeigt: München lässt heute richtig die Sau raus – Montag hin oder her.

SPACE OF VARIATIONS Setlist

  1. Suicide Rave
  2. Dance On My Bones
  3. Tibet
  4. Moonlight
  5. Razorblade
  6. Perfect Enemy
  7. Fuck This Place Up
  8. Будут Наказаны

KHROMA

Nach solch einem schwungvollen Start können es KHROMA nur schwer haben. Die Finnen wirken im Vergleich geradezu unterkühlt – nicht etwa aus geografischen Gründen, wie man aufgrund ihrer Herkunft vermuten könnte, sondern weil die Musik zwischen Sludge, Djent, Industrial und Nu Metal anfangs geradezu erdrückend wirkt. Dass die Synthesizer, die Sänger Riku Rinta-Seppälä mittels eines Audioboards zu seiner Linken steuert, im Mix leider zu sehr untergehen, macht die Sache für KHROMA nicht einfacher.

Die Stimmung ist daher etwas gedämpft im Backstage – für Circle Pits eignet sich der eigenwillige Sound des Quartetts kaum. Dafür treffen die Riffs tief in die Magengrube: Mikko Merilinna bedient auf seinem 8-Saiter am liebsten die tiefen Regionen, während Bassist Maarik Leppä nicht nur musikalisch mit seinem Instrument beinahe den Boden wischt. Die intensive Performance spiegelt sich im Songmaterial wie der aktuellen Single „Kill The Friction“, wo der zuvor so stoisch anmutende Frontmann Riku Rinta-Seppälä in seiner Stimme erstmals Emotionen zeigt.

Drummer Antti Honka begeistert ein ums andere Mal

Heimlicher Star ist für uns aber Drummer Antti Honka, der uns nicht nur mit blitzsauberem Spiel überzeugt, sondern uns gerade in der zweiten Hälfte dank krummer Rhythmik und vertrackten Patterns den Mund wässrig macht. Ein bisschen MESHUGGAH klingt in „A Simple Lie“ und dem rohen „The Push“ hin und wieder durch – nur beim Publikum scheint das irgendwie nicht so recht anzukommen.

Kurzzeitig fragen wir uns, ob nur die Münchner mit der Musik KHROMAs wenig anfangen können oder ob sich die Finnen auf dieser Tour eben mit der Außenseiterrolle begnügen müssen. Die vier Musiker selbst scheint das wenig zu interessieren; viel mehr freuen sie sich über das graduell wachsende Feedback, das zum Ende des halbstündigen Auftritts in einigen kreisenden Köpfen kulminiert – da schließen wir uns gerne an.

THE AGONIST

Als nach dem Intro die ersten Töne von „In Vertigo“ erklingen, müssen wir uns erstmal schütteln. Der Mix im Werk ist zunächst so matschig, dass die Leadgitarren kaum durch die massive Decke aus Bass und Schlagzeug brechen können. Klasse dagegen sind von Beginn an die aggressiven Vocals von Sängerin Vicky Psarakis, die uns live mit ihren mächtigen Growls die Kinnlade herunterklappen lässt.

Ob man davon in der Arena vor der Bühne überhaupt etwas mitbekommt, bezweifeln wir jedoch in aller Entschiedenheit. THE AGONIST stehen keine zwei Minuten auf den Brettern, da gleicht der Pit schon einem Schlachtfeld, das auf eine kontrollierte Eskalation hinsteuert. Schon beim Hit „Panophobia“ formiert sich der erste von vielen Circle Pits, die zu immer größeren Durchmessern anwachsen, bevor die Münchner das gediegene Intro vor „Dead Oceans“ dazu nutzen, ohne Zutun der Kanadier eine Wall of Death zu organisieren.

THE AGONIST hätten auch den Headliner-Slot füllen können

Bei so viel Bewegung verwundert uns nicht, dass Frontfrau Vicky aus dem Grinsen kaum mehr herauskommt. Lange muss die Sängerin nicht bitten, um die Menge während der neuen Single „The Gift Of Silence“ zum Klatschen oder Mitsingen zu animieren. Dass etwa in „Gates Of Horn And Ivory“ die hohen Parts nicht immer die stimmliche Durchschlagskraft haben wie die restlichen Gesangslinien, fällt angesichts der engagierten Performance nicht ins Gewicht.

Zumal auch dann immer noch ein enorm treibendes Melodic Death Metal-Fundament den Song vor sich hertreibt und insbesondere im Bereich der Gitarren brilliert. Das Riffing wechselt zwischen direkt und progressiv („Orphans“), während die Soli sitzen. Das Backstage dankt es zum Finale „As One We Survive“ mit einem letzten Pit, der schnell die Ausmaße der Arena sprengt und einige Besucher zur Flucht auf die gestuften Ränge anhält. Wären THE AGONIST nicht schon nach 40 Minuten am Ende, hätten wir hier auch gut und gerne den Headliner sehen können.

THE AGONIST Setlist

  1. In Vertigo
  2. Panophobia
  3. Gates Of Horn And Ivory
  4. The Gift Of Silence
  5. Dead Ocean
  6. Orphans
  7. Burn It All Down
  8. As One We Survive

JINJER

Es gibt einen Moment an diesem Abend, da würden wir JINJER am liebsten den Hals umdrehen. Als nach geschlagenen 37 Minuten Umbaupause endlich die Lichter ausgehen und statt der Band ein dreiminütiger Countdown auf der LED-Wand hinter dem Drumriser erscheint, würden wir gerne die Bühne stürmen. Dem stimmungsvollen Ambient-Intro „lainnereP“ ist es zu verdanken, dass wir stattdessen noch einmal tief Luft holen, bevor wir unseren Frust wenig später auf konstruktivere Weise loswerden können.

Der Zähler tickt nach unten, die Gitarre erklingt und aus dem Hintergrund tritt Sängerin Tetiana Shmailiuk hervor – heute im schwarzen Kleid und mit Pferdeschwanz. „Good evening, kids, take your seats.“, begrüßt uns die charismatische Frontfrau mit den ersten Zeilen von „Teacher, Teacher“, bevor das Backstage Werk vollkommen austickt. Hinsetzen will sich offenbar niemand, stattdessen wird von der ersten Sekunde an gemosht, was der Pit hergibt.

Bassist Eugene Abdukhanov sorgt für Bassläufe zum Niederknien

Die Vorschusslorbeeren als exzellente Live-Band rechtfertigen JINJER innerhalb von Minuten. Dafür bürgt nicht nur die ausverkaufte Halle, die sich in einen wahren Hexenkessel verwandelt, sondern auch die Performance der Ukrainer, die spieltechnisch keinen Grund zur Beanstandung lässt. Die verschachtelten Arrangements sind auch live absolut auf den Punkt, während uns Bassist Eugene Abdukhanov nicht nur in „Ape“ mit einigen Bassläufen zum Niederknien begeistert. Wenn der Mann am Tieftöner nicht gerade am Bühnenrand klebt, zieht er sich auf ein Podest im Hintergrund zurück, wo er vor einer der drei LED-Tafeln an seinen Posen arbeitet.

Ansonsten hält sich die gesamte Instrumentalfraktion auf der Bühne eher bedeckt, konzentriert sich auf ihr sauberes Spiel und überlässt das Rampenlicht der charismatischen Frontfrau Tetiana Shmailiuk, deren Präsenz wir nur als vereinnahmend beschreiben können. Die Sängerin begeistert nicht nur mit ihrer kraftvollen Stimme, die im ersten großen Highlight „I Speak Astronomy“ auch in den Höhen brilliert, sondern ist stets der Mittelpunkt des Bühnentreibens. Von einem kleinen Podest am Bühnenrand aus dirigiert sie die wogende Menge vor sich, wenn sie nicht gerade ihr Kleid über die Bretter fliegen lässt.

Bei JINJER steht vor der Bühne niemand mehr still

Mit wenigen Worten, aber ungemein viel Energie führt uns die Dame durch den Abend und die facettenreiche Diskografie JINJERs, wobei mit Ausnahme von „Cloud Factory“, das lediglich mit „Who Is Gonna Be The One“ bedacht wird, alle jüngeren Veröffentlichungen gleichermaßen zum Zug kommen. Die Fans feiern Aktuelles genauso wie die Klassiker, indem sie zu „Judgement (& Punishment)“ mit seinen Reggae-Zitaten auf und ab springen oder vergeblich versuchen, beim Mitklatschen in „On The Top“ den Takt zu halten. Zumeist aber wird im Backstage Werk ohnehin gemosht, wo Rhythmusgefühl nicht ganz so wichtig ist. Insofern ist Tetianas Aufforderung: „Let me see you move!“ zu Beginn von „Perennial“ direkt hinfällig, da zu diesem Zeitpunkt vor der Bühne ohnehin niemand mehr stillsteht.

Als JINJER nach einer ganzen Reihe von Hits mit „Words Of Wisdom“ den vorerst letzten Song ankündigen, scheinen alle Münchner noch einmal ihre Kraftreserven zu mobilisieren, um den Ukrainern einen gebührenden Abschied zu bereiten. Mit Erfolg, denn kurz darauf lässt es sich Shmailiuk – hörbar außer Atem – nicht nehmen, einige warme und aufrichtige Worte an das Publikum zu richten, bevor auch das letzte Mitglied des Quartetts die Bühne verlässt. Dass die Musiker noch einmal zurückkehren werden, ist keine Überraschung. Schließlich fehlt mit „Pisces“ noch einer der größten Erfolge JINJERs, der nach kurzer Pause dann auch zusammen mit der bayerischen Landeshauptstadt gesungen wird.

JINJER sind oben angekommen

Nach rund 70 intensiven Minuten ist dann endgültig Schluss, die Scheinwerfer gehen an und erlauben es unseren Augen, sich nach dem durchgehend hektischen Lichtgewitter langsam wieder an die Realität zu gewöhnen. „Is It lonely on the top?“, hat uns Tetiana Shmailiuk eine halbe Stunde vorher noch in “On The Top” gefragt. Nun, offenbar ist man dort vielmehr in bester Gesellschaft, wie uns ein letzter Blick durch diese gerade noch brodelnde Halle versichert.

JINJER Setlist

  1. Teacher, Teacher
  2. Sit Stay Roll Over
  3. Ape
  4. Judgement (& Punishment)
  5. I Speak Astronomy
  6. Dreadful Moments
  7. Who Is Gonna Be The One
  8. Retrospection
  9. Perennial
  10. On The Top
  11. Pit Of Consciousness
  12. Just Another
  13. Words Of Wisdom
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  14. Pisces

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THE AGONIST

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