SIGH: Imaginery Sonicscape

Ein grandioses Albums, das man wohl ob seiner kompromißlosen Bereitschaft, alles durcheinanderzuwirbeln, was das CD-Regal an Einflüssen hergab, nur heiß und innig lieben oder abgrundtief hassen kann. Hab’ mich für’s erste entschieden. Nicht zuletzt deshalb, weil der Wahnsinn Methode hat…

‘Corpsecry – Angelfall’ beginnt as konventionell as konventionell can: 80er-Riffs zwischen Thrash und Heavy Metal, melodische Gitarrenleads, ein wenig Keyboard-Verstärkung und ein Grunz-Gröhl-Gesang, der die ersten Minuten dieses Albums endgültig in Nähe der Göteborger Schule rückt. Feine Sache zwar, insbesondere dank der fast schon gefühlvoll-bluesigen Leadpassagen, die nach zwei Minuten und Zerquetschte folgen, aber noch kein hinreichender Grund, im Infoblatt mit Namen wie John Coltrane oder Stilen wie Free Jazz und gar der Klassik des 20. Jahrhunderts um sich zu werfen. Doch bei genauem Hinhören drücken sich in der zweiten Hälfte des Openers tatsächlich ein paar ziemlich abgepfiffene Soundeffekte verschämt im Hintergrund herum, bevor der schöne, aber wieder reichlich konventionelle (und natürlich synthetische) Orchester-Teppich das ganze gemächlich ausklingen läßt. Die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm.

Auf ‘Scarlet Dream’ ist es dann soweit: die bunten elektronischen Spielereien wagen sich nach vorne und gehen eine überaus spannungsreiche und vitale Liaison mit dem Heavy Thrash Death-Metal ein. Das Leitriff klingt dabei verdächtig nach “Phantom der Oper”, und siehe da: Süß tönende Frauenstimmen sind auch dabei! Die angenehme Leadgitarre des Openers übrigens ebenso. Irgendwann haben dann die Percussions ihren großen Auftritt und übergeben den Staffelstab gekonnt und ohne zu holpern an eine coole Dubeinlage, die kurz darauf von orientalisch angehauchten (und natürlich synthetischen) Streicherflächen überdeckt werden. Schließlich übernehmen wieder die Gitarren, intonieren einmal mehr das “Phantom”-Thema, der Damenchor darf auch noch mal, und nach rund fünf Minuten endet der Song. Das Erstaunliche: Trotz der immensen Vielfalt stilistischer Versatzstücke hat sich das bunte Stück Musik, das übrigens – oh Wunder Nummer zwei! – nie überladen wirkt, bereits tief ins Klanggedächtnis gegraben.

Weniger hitlastig, dafür umso atmosphärischer das nun folgende ‘Nietzschean Conspiracy’ (sic!): Klingt, als wären SAMAEL auf einem Trip zwischen PINK FLOYD und Jazz. Eine einzige ausschweifende, morbide, bizarre und dennoch erhabene Klanglandschaft (von mir aus auch Sonicscape). Die nächste Überraschung lauert um die Ecke: ELO! Naja, fast. Genauer gesagt: ‘Xanadu’. Zumdnest klingen die ersten Takte von ‘A Sunset Song’ ähnlich und ebenso lieblich wie der Schmachtfetzen, den Olivia-Nudel-John einst für die Herren Lynne und Co. intonierte. Dann darf mal kurz gerockt und geröhrt werden, aber nur so lange, bis Easy Listening-Orgelgeklimper dem rauhen Aufbegehren den garaus macht. Aber keine Sorge, so schnell läßt sich Mirai Kaswashima nicht unterkriegen: er kommt wieder, und in den folgenden Minuten pendelt das Sück fließend zwischen coolem Death’n’Roll und ‘Xanadu’ hin und her. Mit Ausnahme des Intermezzos Anfang Minute vier: Da huscht mal eben John Travolta 30 Sekunden lang mit Samstagnacht-Fieberanfall über die schillernde Tanzfläche.

Nach einer kurzen klassischen Klavier-Einlage namens ‘Impromptu (Allegro Maestoso)’ folgt ‘Dreamsphere (Return To Chaos)’, mixt wild alles durcheinander, was schon die ersten vier Songs an unterschiedlichen Elementen zu bieten hatten. Gibt es die Kategorie Death Ethno Pop Thrash Heavy Industrial Klassik Metal schon? Nein? OK, dann gibt es sie jetzt. Depthik Metal at it’s best. Inklusive DEEP PURPLE-Orgelsolo. Aber ohne Dub. Und so geht’s auch auf ‘Ecstatic Transformation’ weiter: Orgelig, aber dublos. Dafür mit kräftig rockenden 70er-Dröhngitarren, die jeder Stoner-Combo gut zu Gesicht stehen würden. Und einem sanft vor sich hinpluckernden Mittelteil, der klingt, als wären die SHADOWS wiederauferstanden (ohne Cliff Richard allerdings – doch Hand auf’s Herz: hätte an dieser Stelle auch niemanden mehr gewundert!) und hätten sich mit Rick Wright vom rosa Schweinchen zusammengetan, um ein Sci Fi-Projekt zu gründen.

Beim fünfteiligen und elfminütigen ‘Slaughtergarden Suite’ ist Schluß mit lustig: Ein Horror-Soundtrack mit schleichenden Computerbeats, einer nervenzehrenden, schrillen Glocke, die den Rhythmus vorgibt, und den adäquat-schaurigen Kathedralensounds, die in jedem vernünftigem mitternächtlichen Spukschloß aus dem modrigen Keller tönen. Dann folgt Jazz. Dann ein schaurig-schöner langsamer Walzer. Dann wieder Jazz, allerdings in seiner entspannten Fahrstuhl-Variante. Dann noch ein bißchen Keyboard-Geklimper inklusive Vinyl-Rauschem. Dann nichts mehr.

‘Bring Back The Dead’ ruft den Opener in Erinnerung und begnügt sich mit einem vergleichsweise geringen Maß an musikalischen Experimenten, das aber immer noch ausreichen wird, Stil-Puristen in den Wahnsinn zu treiben.

Der Schlußtrack ‘Requiem – Nostalgia’ klingt zunächst, wie ein Requiem zu klingen hat: Getragen, klassisch, monumental. Hinzu gesellen sich nacheinander Opern- und Frauengesang, ein Hauch Mittelalter, ein Hauch Zukunft, ein Hauch Göteborg, ein Hauch Wahnsinn, noch ein Hauch Wahnsinn, ein Klassik-Zitat (guess the composer!) und Babygelächter. Würdiger Abschluß eines grandiosen Albums, das man wohl ob seiner kompromißlosen Bereitschaft, alles durcheinanderzuwirbeln, was das CD-Regal an Einflüssen hergab, nur heiß und innig lieben oder abgrundtief hassen kann. Hab’ mich für’s erste entschieden. Nicht zuletzt deshalb, weil der erwähnte Wahnsinn Methode hat und mir nur eine einzige Band einfällt, die – ohne direkte klangliche Nähe unterstellen zu wollen – ähnlich abgedreht agiert, dabei aber – ebenso wie SIGH – nie ihre Songfäden zu verlieren droht oder gar wie ein mühsam errichtetes Kunst-Konstrukt anmutet: Die Franzosen CARNIVAL IN COAL.

Veröffentlichungstermin: 25.07.2001

Spielzeit: 63:35 Min.

Line-Up:
Mirai Kawashima – vocals, bass, synth, sampling, programming, vocoder

Satoshi Fujinami – drums, percussion

Shinichi Ishikawa – electric, acoustic guitars
Label: Century Media

Hompage: http://listen.to/sigh

Email-Adresse der Band: nd6m-kwsm@asahi-net.or.jp

Tracklist:
Corpsecry – Angelfall

Scarlet Dream

Nietzschean Conspiracy

A Sunset Song

Impromptu (Allegro Maestoso)

Dreamsphere (Return to the Chaos)

Ecstatic Transformation

Slaughtergarden Suite

I : At Dawn

II: The Dead are Born

III: Destiny Divided

IV: Slaughtergarden

V: Aftermath

Bring Back the Dead

Requiem – Nostalgia

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