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TIAMAT: Wildhoney

"Wildhoney" wurde zu meiner ganz persönlichen Droge… was brauchte ich da noch Alkohol, Gras oder welche von den in "Whatever That Hurts" besungenen Kakteen mit lustiger Wirkung!?

Ein Plattenladenbesitzer in Stuttgart-Mitte kann vermutlich noch heute ein Klagelied davon singen, wie ihn vor acht Jahren ein damals gerade volljähriger Rachendrachen bis zur Ermattung genervt hat, um zu erfahren, ob das neue TIAMAT-Album „Wildhoney“ denn nicht vielleicht doch schon da wäre, auch wenn die offizielle Veröffentlichung noch ausstand. Grund für den Psychoterror: zum einen die grenzenlose Begeisterung für die faszinierenden, obskuren Fantasiewelten, die Johan Edlund und seine Mitstreiter auf „Clouds“ und „The Astral Sleep“ entworfen hatten, zum anderen das im Drachenvideorecorder in Dauerrotation befindliche, vorab auf MTV gezeigte Video zu „Whatever That Hurts“, bei dem Musik und Optik eine bei Musikvideos seltene kongeniale Ergänzung erfuhren. Klar, das Marionettenmännchen war bei TOOL geklaut, aber zu den mächtigen Riffs und bizarren Klangwelten dieses an sich so einfach gestrickten und doch so einzigartigen mystischen Übersongs passten die Collagen und Trickaufnahmen in erdigen Tönen perfekt.

Nie wieder vermochte es ein Album, mich so ganzheitlich wie “Wildhoney” zu vereinnahmen

Dann kam endlich der Tag, an dem der gute Mann mit dem Plattenladen mir endlich die ganz in Orange und Gelb gehaltene CD sichtlich erleichtert schon beim Betreten des Geschäfts entgegen streckte… kaum zuhause, wurde die Anlage angeworfen und mit ehrfurchtsvoller Spannung der Dinge geharrt, die da kommen mochten. Und was kam, war ein derart beeindruckendes, berauschendes, nahezu magisches Klangerlebnis, dass mich keine zum Essen rufende Drachenmutti, keine am Telefon wartende erste große Liebe und auch keine Fußballübertragung von den Boxen wegbekommen konnte. Gebannt lauschte ich den majestätischen Riffs der ersten Songs, den Klangspielereien von „25th Floor“ und den psychedelischen Schlusstönen von „A Pocket Size Sun“, um gleich wieder die CD von vorne laufen zu lassen. Noch nie zuvor und auch später nie wieder vermochte es ein Album, mich derart ganzheitlich zu vereinnahmen. Die raue und doch melodische Stimme von Johan, die fein gewebten Keyboardteppiche und die wahrlich genial zu nennenden Gitarrensoli nahmen mich mit auf eine Reise durch Traumwelten, zeigten mir neue Perspektiven auf und ließen Tränen der Ergriffenheit aus meinen Drachenaugen kullern. In Songs wie „Visionaire“ fand ich Kraft, die Kraft zu erkennen, auch dann bzw. gerade dann ein Individuum zu sein, wenn ich anders bin als all die konformen Altersgenossen, die blind jedem neuen großen Ding hinterher rannten; die Kraft, tiefe Emotionen als das mich Definierende nicht nur zu akzeptieren, sondern auch als meine persönliche Stärke zu erkennen und zu schätzen. „Wildhoney“ wurde zu meiner ganz persönlichen Droge… was brauchte ich da noch Alkohol, Gras oder welche von den in „Whatever That Hurts“ besungenen Kakteendestillaten mit lustiger Wirkung!?

TIAMATs “Wildhoney” ist Liedkunst in Vollendung

Was mit dem scheinbar in einem Feuchtbiotop aufgenommenen Intro „Wildhoney“ beginnt und mit dem beschriebenen Meisterwerk „Whatever That Hurts“ sowie dem direkt daraus entstehenden Mystikhammer „The Ar“ seine Fortsetzung findet, deutet mit „25th Floor“ die gegen Ende dominanter werdenden Psychedelicelemente an, um dann noch einmal mit dem atmosphärisch dichten, von grenzgenialen Soli abgerundeten „Gaia“ sowie dem vielschichtigen „Visionaire“ Liedkunst in Vollendung zu bieten und dann bei der trotz Sirtaki-Rhythmus irgendwie traurigen und doch Hoffnung spendenden Ballade „Do You Dream Of Me?“, dem mit direkt in die Seele eindringenden Synthies und Leadgitarren ausgestatteten Instrumental „Planets“ und der abschließenden ruhigen, achtminütigen Improvisation „A Pocket Size Sun“ seinen überraschenden und ebenso faszinierenden Abschluss zu finden.

TIAMAT bieten Erhabenheit und dunkle Mystik statt ausgelutschter Friedhofsromantik

An der Länge und dem Verwursteltheitsgrad (cool, das Rechtschreibprogramm von Word kennt ´Verwursteltheitsgrad´!) meiner Sätze erkennt man schon, dass es schwer fällt, die ganze Begeisterung und die tiefe Bewunderung und Ergriffenheit, die ich noch heute ungemindert beim Hören von „Wildhoney“ verspüre, in schnöde Worte zu verpacken. Einer der greifbareren Gründe für die außerordentliche Stellung, die dieses Album nicht nur bei mir einnimmt, dürfte sicherlich der große Vorsprung von TIAMAT gegenüber den Heerscharen der in Kitsch verharrenden Gothicmetalbands sein. Erhabenheit und dunkle Mystik ersetzten ausgelutschte Friedhofsromantik und Schwulst. Hinzu kommt außerdem wohl auch das große Maß an Geheimnissen und Rätseln, mit denen einen „Wildhoney“ noch beim x-ten Hördurchlauf konfrontiert. Immer wieder schimmern neue mögliche Deutungen durch die Zeilen der Texte, immer wieder entdeckt man an sich neue Stimmungen, die einem einen neuen Zugang zu den zehn Liedern ermöglichen.

Unnötig zu erwähnen, dass zwei, drei Jahre später ein uns mittlerweile bekannter Stuttgarter Plattenhändler von einem auf „A Deeper Kind Of Slumber“ wartenden Rachendrachen erneut an den Rand der Verzweiflung getrieben wurde…

Tracklist:
Wildhoney
Whatever That Hurts
The Ar
25th Floor
Gaia
Visionaire
Kaleidoscope
Do You Dream Of Me?
Planets
A Pocket Size Sun

Line-up:
Johan Edlund – Gitarre, Gesang
Johnny Hagel – Bass

Gast-/Sessionmusiker:
Magnus Sahlgren – Leadgitarre
Lars Sköld – Schlagzeug
Waldemar Sorychta – Keyboards
Birgit Zacher – zusätzl. Gesang

Erscheinungsjahr: 1994

Produziert von Waldemar Sorychta

Homepage: www.churchoftiamat.com

Spieldauer: 42:10

Plattenfirma: Century Media

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