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LOCRIAN: End Terrain

Unversöhnliche Story und zugängliche Musik: LOCRIAN erklimmen mit „End Terrain“ neue kompositorische Höhen und vermengen Drone, Post Metal und progressive Rock auf unerreichbar hohem Niveau.

Das war’s also. Wir hatten unsere Chance, und wir haben sie nicht genutzt. Weder die da oben mit den Fäden in der Hand, noch wir hier unten. Schluss, aus, vorbei. Die nach uns machen noch das Licht aus, dann wird diese kleine Kugel noch ein paar Milliarden Jahre ihr Potenzial vergeuden, bevor sie zusammen mit der sterbenden Sonne verglüht. Bumms, aus die Maus. War auch nicht schade drum, seien wir ehrlich. Vier Grad mehr und hier lebt nichts mehr. Wir haben schon 1,1° C geschafft, und es geht von Jahr zu Jahr schneller.

Während wir hier noch wahlweise denken, wir könnten noch was drehen, oder dass passiert eben nichts passiert, weil früher gab’s ja auch schon warme Februare, ist doch schon längst das „End Terrain“ erreicht. Schon immer haben LOCRIAN ihre Botschaften des Untergangs in die Welt hinausposaunt, besonders eindrücklich bei „Infinite Dissolution“, das sich mit dem derzeitigen Artensterben, der sechsten Auslöschung befasst. Und was passiert? Es interessiert keinen so richtig und ist doch in vollem Gange. LOCRIAN, die nun neun Jahre endlich den eigentlichen Nachfolger zu „Infinite Dissolution“ präsentieren, haben auch schon aufgehört zu warnen. Warum auch? Vergebene Liebesmüh. Stattdessen zeichnet das US-Trio ein dunkles Bild vom Ende.

Eine Dystopie, die unter die Haut geht: „End Terrain“ baut das konsequent aus, was LOCRIAN zwischen 2010 und 2015 angelegt haben.

Doch so unversöhnlich die Geschichte sein mag, so zugänglich ist die Musik. „End Terrain“ zeigt, dass LOCRIAN ihrem experimentellen Charakter zum Trotz unglaublich gute Songschreiber sind und neben dem maximalistischen Anspruch, den sie mit ihrem siebten regulären Album – die zahlreichen EPs, Kollaborationen und experimentellen Releases nicht mitgerechnet – zelebrieren, auf den Punkt komponieren können. Das beweist schon der Opener „Chronoscapes“, der die Hörer*innen gleich in die dystopische Welt von „End Terrain“ wirft, voller Chaos, Lärm und zugänglicher Harmonien.

In weniger als vier Minuten lassen LOCRIAN im Zeitraffer vieles von dem ablaufen, was in der kommenden Dreiviertelstunde zu hören ist, danach kehrt so etwas wie Ruhe ein. Das achtminütige „Utopias“ basiert auf einem pulsierenden Groove von Steven Hess und zahllosen Soundscapes, in dem Terence Hannum mit Cleangesang den Erzähler gibt, fährt verzerrtem Lärm, Progrock-Gitarrensoli und atmosphärische Synthesizer auf, bis im zweiten Teil ein treibender, vertrackter Groove das Stück auf Post Rock-Art immer weiter steigert, bis hin zu einem Crescendo aus Lärm und Brutalität, jedoch mit einem melancholischen Unterbau. Fucking wow.

Organisch, dynamisch, lebendig: LOCRIAN wissen genau, wie die Musik auf „End Terrain“ am besten klingt.

Auch in der Folge schöpfen LOCRIAN aus dem Vollen: Die vergleichsweise kompakten Songs schaffen es punktgenau, Spannung zu erzeugen und aufzubauen. „The World Is Gone, There Is No World“ verbindet subtile Drones, Gitarren, Synthesizer und Gesänge und fließt in einen düsteren Groove und wird immer wieder von peitschendem Lärm unterbrochen. Doch LOCRIAN können auch sehr direkte Musik schreiben. „Excarnate Light“ wird angeführt von hypnotischen Leadgitarren, baut im Mittelteil immense Spannung auf und endet mit einem wuchtigen Riff, das sogar zum Headbangen einlädt.

Mit „Umwelt“ und „Innenwelt“ stehen auf „End Terrain“ ruhige, experimentelle Interlude, bei denen sich genaues Hinhören empfiehlt. LOCRIAN schichten hier verstörende Sounds übereinander und erzeugen doch ein klares und bisweilen melancholisches Klangbild. Es sind diese zahlreichen Schichten, die LOCRIAN auf „End Terrain“ übereinander legen und somit ein Maximum an Worldbuilding erreichen. Es hätte ein verkopftes Album werden können, doch LOCRIAN sind eingespielt genug, um die Songs und die Story sprechen zu lassen. Die Grundideen der neun Songs sind verglichen mit „Return To Annihilation“ ein wenig simpler, doch die vielen Gitarren, Synthesizer, das Cello, die Vocals, sogar die Details im Drumming sind Farbtupfer, die erst das komplette Bild entstehen lassen und aus einer Skizze ein farbenprächtiges Ganzes werden lassen.

Punktgenaues Songwriting und eine kluge Dramaturgie: LOCRIAN betreiben auf „End Terrain“ Worldbuilding im großen Stil.

Somit ist es nicht verwunderlich, wie ausgewogen „End Terrain“ geworden ist. „Black Prisms Of Our Dead Age“ ist atmosphärisch-proggy und „In The Thrones Of Petrifaction“ pulsiert trotz aller Wut, mit der Terance Hannum verzweifelt schreit, und positioniert sich zwischen PELICAN und ZOMBI, nur viel mitreißender und zwingender. Dass diese vierzig Minuten so organisch, lebendig und dynamisch klingen, schafft das Trio nicht nur durch die immense Erfahrung in Songwriting und die Arrangements, auch Soundtechniker J. Robbins hat großen Anteil daran. Die neun Songs leben, atmen und sind dadurch, trotz all der futuristischen Ausrichtung, angenehm altmodisch: Es braucht kein Mastering bis an die Schmerzgrenze, um ein lautes Album zu erschaffen. Stattdessen braucht es Balance und Fingerspitzengefühl – „End Terrain“ hat beides, musikalisch und technisch.

Und am Ende ist das alles vorbei, sogar der eingangs zur Schau gestellte Defätismus. Mit dem triumphalen Finale besingen LOCRIAN zum letzten Mal eine dem Untergang geweihte Welt, und doch klingt „After Extinction“ beinahe friedlich und drückt auf die sprichwörtliche Resettaste – „End Terrain“ endet mit dem Gedanken, dass diese Welt vielleicht doch noch eine Chance hat, wenn auch nur mit anderen Bewohnern. Insofern ist „End Terrain“ irgendwie ein tröstliches Album und schenkt in aller Düsternis doch Hoffnung. Und vielleicht haben wir es bis zu einem gewissen Grad doch noch in der Hand, sofern wir endlich aufwachen und handeln. Insofern sollte dieses musikalische Mahnmal alle begleiten, die nicht auf die Zukunft scheißen. „End Terrain“ könnte LOCRIANs Sprungbrett heraus aus dem Underground sein und offenen Geistern, auch aus dem Bereich Post Rock und Progressive Rock, große Freude bereiten, ohne diejenigen zu enttäuschen, die die experimentelle, lärmende Seite der Band lieben. Keine Frage, „End Terrain“ ist LOCRIANs bisher bestes Album geworden.

Wertung: 9 von 9 Letzte Chancen

VÖ: 5. April 2024

Spielzeit: 41:14

Line-Up:
Terence Hanum – Vocals, Synthesizers, Electronics
André Foisy – Guitars
Steven Hess – Drums, Electronics

Guests:
Erica Burgner-Hannum – Vocals (Tracks 2, 5 & 9)
Gordon Withers – Cello (Tracks 5 & 6)

Label: Profound Lore

LOCRIAN „End Terrain“ Tracklist

1. Chronoscapes (Official Video bei Youtube)
2. Utopias
3. Umwelt
4. The World Is Gone, There Is No World
5. Excarnate Light (Official Visualizer bei Youtube)
6. Black Prisms Of Our Dead Age
7. Innenwelt
8. In The Thrones Of Petrifaction
9. After Extinction (Official Audio bei Youtube)

Mehr im Netz:

https://locrian.bandcamp.com/
https://www.facebook.com/LocrianOfficial/
https://www.instagram.com/locrianofficial/

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