PARADISE LOST, ORPHANED LAND – 17. Mai 2005 – Stuttgart, LKA/Longhorn

Ein Sänger mit Laus auf der Leber und motivierte israelische Haarspitzen prägten den Abend.

Frühjahr 1991, Schauplatz Longhorn: Der Death Metal steht in voller Blüte. Die Full Of Hate-Osterfestivals ziehen durch die Lande, in jenem Jahr mit MORGOTH, UNLEASHED, MASTER und als krönendem Abschluss PARADISE LOST, die sich damals gerade mit Shades Of God daran machten, das soeben von ihnen auf Gothic geschaffene neue Genre sogleich auch schon wieder zu revolutionieren. Entsprechend begeistert der Empfang im Longhorn, das lediglich ein paar beinharte Death-Metaller mit Melodieallergie frühzeitig verlassen.

Frühjahr 1994 (ohne Gewähr, das Hirn wird langsam löchrig…), Schauplatz Longhorn: MTV hat neben einigen Kameras auch Vanessa Kampffrisur Warwick geschickt, um sich vom Stuttgarter Publikum Schmähungen anzuhören und einen Live-Mitschnitt zu überwachen, der PARADISE LOST nach dem Release von Icon mit neu gewonnener stilistischer Bandbreite auf der Höhe ihres Erfolgs zeigen sollte – oder war dies gar nur der Beginn einer ganz großen Karriere? PARADISE LOST gaben alles, vor allem Gregor Mackintosh war mit seiner ständig wirbelnden Matte ein Augenmagnet. Festgehalten wurde dieser magische Abend auf dem Harmony Breaks-Heimvideo. Selten war die vordere Hälfte vor der Bühne des Longhorn Schauplatz solch energiegeladenen Gedränges.

Frühjahr 2005, Schauplatz Longhorn: Zehn Jahre sind vergangen seit dem Release von Draconian Times – ein Albumtitel, bei dem die Band sich kaum bewusst gewesen sein dürfte, wie bezeichnend er stellvertretend für die darauf folgenden harten Zeiten stehen sollte. Doch die Herren aus Yorkshire haben sich durchgekämpft und sich mit Paradise Lost überzeugend zurück gemeldet. Entsprechend gespannt durfte man sein, ob nun auch die seltsam distanzierten, kraftlosen Auftritte der letzten Jahre vergessen gemacht würden. Glücklicherweise ist das Longhorn wie erwähnt ein gutes Pflaster für PARADISE LOST, sodass im Vorfeld die Hoffnung auf ein neues Signal zum Aufbruch aufkam. Alle Voraussetzungen stimmten denn auch, als die Lichter ausgingen, die ersten Töne von Don´t Belong erklangen und Nick Holmes die ersten Zeilen anstimmte. Gänsehaut machte sich breit. Fast schon greifbar war die Energie des Publikums, das nur darauf wartete, von ihren Helden den Befehl zum Abfeiern zu erhalten. Doch was folgte, war eher zwiespältig, denn zu der musikalischen Wucht der vielen gut abgemischten neueren Tracks bewegte sich auf der Bühne – fast nichts! Klar, die beiden Gitarreros Gregor Mackintosh und Aaron Aedy gingen mit der treibenden Rhythmik mit, und der neue Schlagzeuger, der leider nicht vorgestellt wurde, sprühte geradezu vor Bewegungsfreude und Begeisterung, doch Blickfang Nick Holmes wirkte uninteressiert, gelangweilt und sogar frustriert, als Zuschauer es wagten, mit As I Die einen der Hits der Band einzufordern. Unbegreiflich, wie ein Frontmann derart unempfänglich für die enormen Schwingungen sein kann, die das Publikum ihm sendet, wurden doch schließlich sogar die mäßigen Songs von Symbol Of Life zum Abgehen genutzt. Und As I Die stand sowieso auf der Setlist. Doch bis dahin stand Nick Holmes wie angewurzelt hinterm Mikro, nur um während eines Soloparts die Bühne zu verlassen und zu spät zurückzukehren für seinen nächsten Einsatz. Umso trauriger war dieses Verhalten angesichts der Tatsache, dass der Mann sang wie ein junger Gott. Seine Stimme, die ihn sonst gelegentlich bei den anspruchsvollen Melodielinien vieler Stücke im Stich gelassen hatte live, klang sicher, voll und offenbarte sogar Facetten, die bei weniger Sicherheit garantiert im Wettrüsten der Dezibel untergegangen wären. Doch Schwamm drüber. Als mit All You Leave Behind in der zweiten Hälfte des Sets ein Groovemonster sondersgleichen auf dem Programm stand, hielt es auch Mr Holmes nicht mehr in der Starre aus und zeigte endlich die passenden ausholenden Gesten, die alle von ihm erwarteten. Das erwähnte As I Die brachte die Menge vor der Bühne endgültig zum Ausrasten. Leider war kurz danach bereits Schluss, bevor sich die Engländer nochmals auf die Bühne bitten ließen, um mit dem grandiosen Enchantment, dem epischen neuen Over The Madness und The Last Time einen nahezu perfekten Zugabenblock hinzulegen, in dem lediglich der ein oder andere True Belief vermisste. Überhaupt fiel auf, dass die komplexeren Songs wie eben Over The Madness mindestens genauso begeistert aufgenommen wurden wie die simpleren Rocker. Vielleicht wären etwas mehr Mut und Selbstvertrauen bei der Setlist angebracht gewesen. Mit einem zwiespältigen Gefühl im Bauch wurde die Menge in die Nacht entlassen, wo sie sich einerseits über ein musikalisch hervorragendes Konzert freuen konnte, andererseits sich aber auch Fragen stellen musste wie Wozu müssen drei Songs von der vorletzten, schwachen Platte sein, wenn eine Band Tracks wie Forever Failure, Pity The Sadness und Your Hand In Mine auf Lager hat? und rätseln durfte, welche Laus Nick Holmes an dem Abend über die Leber gelaufen war.

Ganz anders gelaunt hatten zuvor ORPHANED LAND die Bühne des Longhorn geentert. Motiviert bis unter die Haarspitzen boten die Israelis ihre etwas gewöhnungsbedürftige, aber durchaus druckvoll dargebotene Version von Gothic Metal dar. Das Publikum beglückte die Jungs im Gegenzug mit wohlwollenden Reaktionen. Besonders gefällig: das laut Sänger Kobi Farhi auf einem israelischen Volkslied basierende Nora El Nora. Einziges Haar in der Suppe: Die Melange aus gotischer Finsternis, schweren Metalgrooves und nahöstlicher Folklore funktionierte nur bedingt, da letztere sich zu oft kontraproduktiv auf die Stimmung der Songs auswirkte. Hinzu kam, dass die komplizierten Arrangements einen Einstieg ins Klanguniversum dieser originellen Band zusätzlich erschwerten. Nichtsdestotrotz ein Achtungserfolg für die Exoten!

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner