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MOONSPELL: Fernando Ribeiro über Musik, Philosophie, Mythologie, Politik, Literatur und die Annahme, dass auch portugiesische Kids bei der PISA-Studie versagt haben müssen

2001 veröffentliche Fernando Ribeiro sein erstes Buch mit Gedichten, ‚Como escavar um abismo’, das bisher leider nur in portugiesischer Sprache erschien, doch in absehbarer Zeit in mehreren Sprachen erhältlich sein soll. Seinen ersten Roman, ‚Ri-Anima-Dor’, legte er dafür zunächst auf Eis, doch aufgehoben ist bekanntlich nicht aufgeschoben… Am Rande eines Konzertes auf ihrer letzten Europatournee äußerte sich Fernando zu Themen aller Art, und auch wenn die Zeit bei weitem nicht ausreichte, um seine Gedanken, Ansichten und Gefühle wirklich dazulegen, bietet das folgende Interview aber – hoffentlich zumindest – einen kleinen Überblick über Prioritäten, Aversionen und Attitüden des Portugiesen…

Musik ist Geschmackssache. Zumindest das ist unbestritten. Kontroverser ist da schon eher, inwieweit Songtexten Bedeutung zugemessen wird, ob sie überhaupt wichtig sind, und noch strittiger ist, ob Texte wirklich als Reflektion der Meinung des Autors gesehen werden können/müssen, oder ob sie als eigenständiges lyrisches Werk betrachten werden sollten. In der Literatur streiten sich Kritiker seit jeher über die Frage, ob und wenn ja inwieweit ein Buch die Persönlichkeit des Autors wiederspiegelt, aber eine gültige Antwort kann und wird es auch nicht geben, und das gleiche gilt natürlich auch für Bands, die ihren eigenen Texten Bedeutungen von 0 – ’wir brauchten halt ’nen Text, weil wir ja keine Instrumentalsongs machen wollen’ – bis hin zu 10 – ’erst werden die Texte geschrieben, die sind wichtiger, dann schreiben wir die Musik’ – beimessen.

Irgendwo zwischen 7 und 8 – ganz persönliche Einschätzung – ist Fernando Ribeiro von MOONSPELL anzusiedeln. Seit dem Bestehen der Band setzte sich Fernando mit diversen Themen in seinen Texten auseinander, u.a. Mythologie, Literatur, Religion, und natürlich auch Philosophie, welches er mehrere Jahre studierte und eigentlich auch unterrichten wollte, bis er sich letztlich für die Musik als Beruf entschied. Vielleicht hat dieser Berufswunsch seine Einstellung in gewisser Weise beeinflusst, wenn es um Transparenz und Vermittlung der Inhalte seiner Texte ging, da er in Interviews nie müde wurde zu betonen, dass er Menschen zum Nachdenken, aber auch einfach zum Lesen von Literatur anregen möchte.

2001 veröffentliche er seinen ersten Band mit Gedichten, ‚Como escavar um abismo’, das bisher leider nur in portugiesischer Sprache erschien, doch in absehbarer Zeit in mehreren Sprachen erhältlich sein soll. Seinen ersten Roman, ‚Ri-Anima-Dor’, legte er dafür zunächst auf Eis, doch aufgehoben ist bekanntlich nicht aufgeschoben…

Am Rande eines Konzertes auf ihrer letzten Europatournee äußerte sich Fernando zu Themen aller Art, und auch wenn die Zeit bei weitem nicht ausreichte, um seine Gedanken, Ansichten und Gefühle wirklich dazulegen, bietet das folgende Interview aber – hoffentlich zumindest – einen kleinen Überblick über Prioritäten, Aversionen und Attitüden des Portugiesen…

Ich würde gerne mit einem interessanten Zitat von Victor Hugo beginnen: ‘Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden und über das nicht geschwiegen werden kann’…

Fernando: Der problematische Aspekt von Zitaten ist, dass sie immer sehr gut klingen, normalerweise aber aus dem Zusammenhang genommen wurden, und wenn man wie ich Philosophie studiert, muss man Zitaten gegenüber kritisch sein. Aber man kann vieles zu diesem Satz sagen – nicht nur über diesen von Hugo: Viele Menschen haben über die Bedeutung von Musik nachgedacht und ich stimme mit Hugo überein. Vieles wird mittels Musik zum Ausdruck gebracht, aber die Dinge, die zwischen den Zeilen stehen und nicht direkt ausgesprochen werden, sind auch sehr wichtig. Der deutsche Autor Hermann Hesse hat in einem wirklich großartigen Buch Musik als die Kraft, Dinge zum Ausdruck zu bringen, beschrieben, und hat sich sowohl auf eine direkte als auch eine indirekte Ebene bezogen.

Meiner Ansicht nach ist es ein sehr schöner Satz, obwohl er nicht auf jede Form von Musik oder jedes einzelne Stück anzuwenden ist. Ich denke, es gibt Lieder, die einfach sehr wenig zum Ausdruck bringen, wieder andere dafür umso mehr, aber wenn Menschen Musik mit Hingabe und Arbeit begegnen, können sie den Rest selbst entdecken. Viele ältere französische Autoren bezeichnen Kunst entweder als eine blühende Blume oder als Erbrechen (lacht) – dem stimme ich zu, sie kann beides sein.

Du hast auch ein Buch geschrieben. (‚Como escavar um abismo’, etwa ‚Wie man einen Abgrund aushöhlt’. Hierbei handelt es sich um ein Band ‚klassischer, satanischer Poesie im Stile Baudelaires, Miltons, Rimbauds’ (Zitat Info). Das Buch ist bisher nur in portugiesischer Sprache erhältlich – Anm. d. Verf.) Sprache ist zu einem gewissen Grad begrenzt, zudem ist sie offen für Interpretationen. Eine Rose kann beispielsweise für verschiedene Menschen verschiedene Dinge bedeuten, obwohl gewisse Konnotationen mit ihr verbunden sind. Glaubst Du, dass Musik als Medium mehr Möglichkeiten zur Vermittlung von Inhalten bietet als Worte?

Fernando: Das ist eine schwierige Frage, denn meine erste Liebe, meine erste ‘Berufung’ war Literatur und nicht die Musik. Wenn man ein Buch liest, hat man meiner Ansicht nach eine andere Art der Interpretationsfreiheit, die die Musik in vielerlei Hinsicht nicht hat. So ist auch die Art und Weise Musik zu schreiben anders als Gedichte zu verfassen. Aber mein größtes Ziel als jemand, der Texte und Musik schreibt, ist es, die bestmögliche Verbindung von Poesie und Musik zu erschaffen. In gewisser Hinsicht ist Musik etwas massiver, aber MOONSPELL sind in der glücklichen Lage, dass sich die Leute wirklich sehr für die Inhalte der Texte interessieren, und meine Erfahrung mit den an unserer Band interessierten Menschen war, dass sie Musik und Texte auf einer gleichsam bedeutenden Ebene ansiedeln und sehen nicht eines wichtiger als das andere. Es gibt viele Bands, die musikalisch sehr interessant sind, aber wenn man die Texte liest, ist dort eine gewisse Leere.

Innerhalb von MOONSPELL versuchen wir, diese Leere mit Texten zu füllen, die verschiedene Dimensionen haben, und das ist uns sogar wichtiger, als die Texte der Matrix der Songs anzupassen. Ich hoffe, dass wenn Menschen das Booklet öffnen, sie die Songtexte als eigenständige Texte lesen, die ein eigenständiges Leben haben. Ein Buch zu schreiben lehrte mich, mit Worten zu jonglieren, Worte zu schreiben, die ein eigenes Leben haben. Die Musik ist nur ein Medium, aber im Laufe der Jahre habe ich gelernt, MOONSPELLs Einflüsse und die Kommunikation mit den Menschen, die unsere Musik mögen, zu schätzen. Und natürlich kommen diese Einflüsse von beiden Seiten, der lyrischen wie der musikalischen Seite, und können wahrscheinlich auch nicht voneinander getrennt werden. Seitdem ich das Buch geschrieben habe, weiß ich, dass ich Menschen nur mit Worten bewegen kann, und das ist herausfordernder für mich, weil ich von Musik eh nicht sehr viel verstehe.

Du wolltest es zu Halloween veröffentlichen..?

Fernando: Leider hat es nicht geklappt, das Buch an diesem Tag zu veröffentlichen. Der Verleger musste den Termin vorverlegen, weil MOONSPELL an Halloween eine Show gespielt haben und wir auch noch andere Verpflichtungen an diesem Tag hatten, also war es nicht möglich. Veröffentlicht wurde es stattdessen am 24.10.

Und wie waren die Reaktionen?

Fernando: Zuerst sollte ich wahrscheinlich erwähnen, dass das Buch nur in portugiesischer Sprache herausgebracht wurde. Ich habe über Übersetzungen nachgedacht, habe dafür aber keine Zeit. Zudem ist es bei einem sehr kleinen Verlag erschienen, so dass der Druck von verschiedenen Übersetzungen nicht finanzierbar ist. Wir denken aber über eine Übersetzung nach, die als Download angeboten werden soll.

Wie dem auch sei, die meisten Leute, die das Buch gekauft haben – die erste Ausgabe ist bereits vergriffen, die zweite wurde in der vergangenen Woche gedruckt – waren natürlich Fans von MOONSPELL. Es ist schon ein großes Kompliment für mich, da ich aufgehört habe, zwischen Fans der Band und Fans des Buches zu unterscheiden. Für mich ist es das gleiche, was vielleicht ein wenig chaotischer sein mag, aber auch ein wenig gesünder ist. Es ist auf jeden Fall gut, die Leute zum Lesen von Gedichten zu animieren. Das war seit jeher eines meiner Ziele, wenn wir beispielsweise Songs über Patrick Süskind und William S. Burroughs geschrieben haben. Es scheint so, als würde man für die meisten Menschen interessanter werden, wenn man ein Autor wird und Bücher veröffentlicht. Es ist schon etwas Anderes. Es gab wirklich viele fantastische Reaktionen. Ich traf viele Leute, die zur literarischen Szene Portugals gehören, und diese Begegnungen waren sehr wichtig und inspirierend für mich. Ich weiß zwar nicht warum, aber viele Leute erwarteten von mir, dass ich meine Texte für MOONSPELL ins Portugiesische übersetzen sollte, aber das war natürlich niemals meine Intention. Die Gedichte unterscheiden sich sehr von meinen Texten, die ich für MOONSPELL schreibe, obwohl es Verbindungspunkte gibt.

Alles in allem läuft es sehr gut, es ist eine wunderbare Erfahrung, und das beste daran, ein Buch zu schreiben und es zu veröffentlichen ist, dass man gleich danach anfängt, an einem neuen Buch zu arbeiten. Ich hoffe, ein zweites Gedichtband veröffentlichen zu können, und an diesem arbeite ich bereits. Es ist aber trotz allem etwas schwieriger für mich, narrative Arbeiten zu verfassen, wie etwa Geschichten oder Romanzen.

Also hast Du daran auch schon mal gedacht?

Fernando: Ja, das habe ich tatsächlich – ich denke sogar jeden Tag daran (lacht). Es ist aber sehr schwierig, da mir die Essenz und die Handlung fehlt. Wenn ich eine Idee habe, schreibe ich sehr viele Seiten. Und wenn ich sie danach nochmals durchlese, macht alles keinen Sinn mehr. Um eine Romanze zu schreiben, muss man in vielerlei Hinsicht sehr strikt sein, und die Art und Weise des Schreibens unterscheidet sich sehr von der, Gedichte zu verfassen. Aber ich werde hoffentlich nicht sterben, bevor ich eine gute Geschichte oder Romanze fertiggestellt habe.

Das größte portugiesisches Musikmagazin fragte mich, ob ich eine Weihnachtsgeschichte schreiben würde. Das war natürlich eine große Herausforderung für mich, da es etwas im Stile von Edgar Allan Poe und beeinflusst von Tim Burton sein sollte.

Momentan versuche ich einfach, meinen Platz als Autor zu finden, neben meiner Aktivität als Songschreiber. Ich hatte viele Pläne, Romanzen und Kurzgeschichten zu schreiben – einige Kurzgeschichten sind bereits fertig – aber ich werde zunächst einmal auf jeden Fall einen weiteren Lyrikband schreiben, vor allem auch deshalb, weil es schon ziemlich weit fortgeschritten ist. Es sollte im Sommer fertig sein.

Wenn man Musik, Gedichte oder Texte schreibt, legt man seine ganzen Gefühlen in die Musik oder bringt sie zu Papier, und diesen Teil, den man preisgibt, ist man bereit, mit anderen zu teilen, zumindest teilweise. Ich denke, das ist es, was jeder Künstler macht. Glaubst Du, dass dieses Teilen – das man kontrollieren kann…

Fernando: (unterbricht) manchmal… (lacht)

Okay, aber generell kann man es kontrollieren. Es ist ein begrenzter Teil Deiner Selbst, den Du mit einer gewissen Anzahl von Menschen bereit bist zu teilen – wie wichtig ist dieser Aspekt für Dich?

Fernando: Es fängt nicht an diesem Punkt an. Ich sehe es als Folge des Schreibens, nicht als Impuls es zu tun. Viele Leute schreiben, und viele schreiben sehr gute Sachen, aber es scheint, dass nur sehr wenige diese Brücke, diese Form der Kommunikation aufbauen können, um diesen Punkt zu erreichen, an dem sie ihre Arbeiten veröffentlichen können. Bei MOONSPELL ist es eine Sache, die ich nicht mehr hinterfrage. Wenn wir komponieren, wenn wir an den Stücken arbeiten, ist jeder an die Art und Weise der Zusammenarbeit gewöhnt. Alle wissen, dass es zu aller erst ein Konzept gibt und dass wir mit aller Energie an diesem arbeiten. Während dieser Arbeit gibt es keine Interventionen, da die Umrisse des Konzeptes stehen. Und es ist an uns Fünf, diese Umrisse zu füllen. Ich schreibe die Texte alleine, werde aber von der Musik inspiriert. Es gibt keinen strikt geplanten Ablauf, es passiert ganz einfach. Es mag lachhaft erscheinen, es ist aber wirklich so: Wir treffen uns und proben jeden Tag zusammen. Und wenn ich mit der Band probe, werde ich inspiriert und schreibe die Texte.

Hinsichtlich des Buches aber habe ich die Veröffentlichung einige Male verschoben gerade wegen der Intimität der Gedichte, die zum Teil – auch gerade weil ich sie in meiner Muttersprache verfasst habe – sehr explizit und klar zu verstehen sind.

Ich habe oft darüber nachgedacht, ob es ein notwendiges Übel, ein Fluch oder ein Privileg ist. Ich denke, es ist etwas von allem. Manchmal bedeutet dir ein Song wirklich sehr viel und man möchte eine Botschaft vermitteln, aber keiner scheint sie zu verstehen; und manchmal schreibt man etwas stilvoller, was aber nicht derartige Bedeutung oder Dimensionen hat, und die Leute beschäftigen sich eher damit. Wir haben Stücke wie „Angelizer“ vom „The Butterfly Effect“-Album geschrieben, und diesen Text halte ich für einen meiner besten überhaupt. Unsere Fans mögen den Song sehr, akzeptieren ihn aber nicht als etwas völlig Simples wie beispielsweise „Vampiria“ (lacht). Man muss in gewisser Weise ein Akrobat sein und versuchen, das Beste und das Schlechteste von allen Reaktionen zu fangen, obwohl die Meinung der Leute keinen Einfluss auf die Texte haben. Die Leute mögen die Texte der Alben – einige, weil sie eine Botschaft beinhalten, andere, weil sie den Stil mögen. Es ist, wie gesagt, eine Folge dessen, was wir tun, aber nie unsere Motivation, und letztendlich wissen wir eh nicht, was die Leute haben wollen. In Portugal beispielsweise sehe ich Leute, die diese Seifenoperromane lesen, wenn es also das ist, was sie wollen … es gibt sogar Seifenoper über Vampire (lacht). Viele sogar.

Genau, Vampire: Teil des Songs „Rapaces“ vom letzten Albums waren die Zeilen “Not all vampires suck blood, not all of them die for love – ein Hinweis auf psychische Vampire?

Fernando: Ja.

Und “not all of them die for love” weist auf…

Fernando: (unterbricht) …die romantischen hin, genau.

Den ´Song Vampiria hast Du ja bereits vorher erwähnt. Also eine gewisse Faszination für Vampire…?

Fernando: Ein wenig, ja. Es hat sich in mir entwickelt. Wie die Leute wissen, ist die Vampirthematik eine sehr alte, und es ist eine seltsame Sache, dass man Vampirmythen in jeder Kultur finden kann, vom Fernen Osten bis zum Westen. Und ich glaube, das passiert nicht mit sehr vielen Themen. An diesem Punkt setzte mein Interesse an. Ich hatte immer den Traum gehabt, Literatur zu studieren – es gibt einen neuen Studienzweig, der sich ´Vergleichende Literaturwissenschaften´ nennt, und in dem Bücher verschiedener Autoren zu einem Thema analysiert werden; beispielsweise ist der Faust-Mythos sehr gut analysiert worden, und bekannte Autoren wie Thomas Mann oder Goethe selbst haben dazu beigetragen.

Aber meine Vision von Vampiren entwickelte sich größtenteils aus der Folklore, die sich mit Liebe, Tod und Blut auseinandersetzt. Ich denke, es gibt viele interessante Einsichten über psychische Vampire, die z.B. von Anton Szandor LaVey zwar nicht gefunden, aber zumindest zusammengefasst wurden. Es ist eine interessante Sache, da es etwas Reales ist, es passiert um dich herum. In Rapaces wollte ich die Vampirfolklore nicht demontieren, weil sie sehr schön und auch anregend ist, du mit Leuten Rotwein trinken und darüber reden kannst, und alle sind fasziniert. Mir ging es vielmehr darum, einen Aufruf an die Leute zu starten, die sich für diese Thematik interessieren, um ihnen zu verdeutlichen, dass es noch andere Dimensionen gibt, dass es noch andere Dinge darüber zu sagen gibt, und dass all dies im Kontext des Songs eingebunden ist. Selbst der erste Sample, die Stimme aus dem Film “Lifeforce” – einem Science Fiction-Film – hat eine sehr interessante Metapher: Die Vampire dort saugen kein Blut, sondern Energie. Das beinhaltet ein Stück Wahrheit, und meines Erachtens kann man Vampirismus auch durch Verben wie ´teilen´ oder ´handeln´ ersetzen, wobei letzteres wohl der adäquateste Ausdruck ist. Und Rapaces handelt genau davon, dass es weder rein psychische Vampire gibt – obwohl man viele davon insbesondere im Musikbusiness trifft (lacht) – noch rein romantische Vampire. Deshalb ist der Song sehr direkt, und diejenigen, die sich intensiv mit der multidimensionalen Form von Vampirismus und der Vampirthematik auseinandergesetzt haben, werden die Botschaft auch richtig verstanden haben. Selbst der Titel des Stücks entstammt einem belgischen Cartoon namens Rapaces, der von einem Krieg zwischen modernen Vampiren – Figuren in Anzügen wie die psychischen Vampire, die die Welt im geheimen regieren, wie ein Klub – und einem Geschwisterpaar handelt, wobei letztere den Thron zurückerobern wollen. Auf den ersten Blick erscheint die Geschichte ziemlich trivial, sie ist aber sehr gut gemacht und interessant.

Sowohl die mythologische als auch literarische Vampirfigur wurde im Laufe der Zeit immer wieder verändert. Frankenstein und Werwölfe beispielsweise blieben relativ konstant, aber Vampirfiguren wurden immer den Ansprüchen der jeweiligen Zeit angepasst, so unterscheidet sich der Byronsche Vampir sehr von den modernen Vampiren in Filmen, d.h. dass diese Figur im Grunde an die Bedürfnisse der Zeit angepasst wurde…

Fernando: Ja, der Werwolf als direkte Identifikationsbasis mit dem Tierreich ist in dieser Hinsicht sehr strikt. Der Werwolf der portugiesischen Mythologie, insbesondere in der des Norden des Landes, ist sehr interessant, weil die Wandlung in das Tier nicht immer die Form eines Wolfes angenommen hat. Es gibt viele Geschichten über Wandlungen in Pferde oder Lämmer, die genauso gefährlich wie Wölfe waren. Aber die Verbindung mit dem Reich der Tiere ist viel stärker, wenn man an einen Werwolf denkt, da dieses Wesen in erster Linie ein Wolf, weitaus weniger ein Mensch ist.

Frankrenstein wird am ehesten mit wissenschaftlichen Aspekten assoziiert. Bei Vampiren aber steht der Mann im Vordergrund, oder aber die Frau, da es auch viele weibliche Vampire in Kulturen gibt. Natürlich werden Vampire auch mit dem Tierreich und dem Bösen konnotiert, aber nicht so stark, und das ist meiner Ansicht nach auch der Grund, warum sich diese Figur so entwickelt hat: hier liegt eine stärkere Konzentration auf dem menschlichen Aspekt, so dass es innerhalb des Genres auch große Veränderungen gibt.

Ein weiterer Grund könnte sein, dass es leider seit einer Ewigkeit keinen guten Film über Frankenstein und Werwölfe gegeben hat. Bram Stoker´s Dracula hingegen schuf einen richtigen Trend. Jeder kaufte irgendwelche Buttons oder T-Shirts – es war ein sich gut verkaufendes Produkt. Es könnte auch etwas mit dieser Vermarktung zu tun haben, viel wichtiger aber erscheint mir die offensichtliche Verbindung des Vampirs zum Menschen mit all seinen Schwächen zu sein, der Fähigkeit zu lieben und zu hassen, zur Rebellion und – gemäß Stoker – der Möglichkeit der Wahl, ein Vampir zu sein. Das bildet ein Kontrast zu der traditionellen Ansicht, dass die Wandlung in einen Vampir als Fluch gesehen wird.

Ich glaube, viele Menschen wären lieber ein Vampir als Frankenstein, obwohl ich Frankenstein um einiges faszinierender finde, da es hier viel mehr um Wissen geht. Der Untertitel zu Mary Shelleys Roman war ´The modern Prometheus´, und das interessiert mich mehr als die Evolution des Vampirismus, mit der ich mich zwar auch beschäftige, aber ich verfasse viel mehr Texte über Wissen und Erleuchtung als über Vampire. Es gibt nur einen Song über Vampire auf dem letzten Album, auf The Butterfly Effect und Sin/Pecado gar keinen, und auf dem kommenden Album wird auch kein Stück sein, dass diese Thematik beinhaltet.

Du wolltest eigentlich Philosophielehrer werden…?

Fernando: Ja, eher aus spirituellem denn aus einem materiellen Bedürfnis heraus, denn Lehrer verdienen in Portugal sehr wenig. Es ist egal, ob du einen Universitätsabschluss in Philosophie hast, nebenbei musst du als Kassierer arbeiten. Es ist echt hart. Viele gute Freunde von mir haben einen sehr guten Universitätsabschluss gemacht, können aber in Portugal keine Stelle finden. Aber ich würde dennoch sehr gerne unterrichten. Manchmal erhalte ich Einladungen, in meiner Funktion als Sänger von MOONSPELL zu unterrichten, was sehr gut ist, denn es hat bezüglich des Philosophieunterrichts viele Türen in Portugal geöffnet. Letztes Jahr habe ich zweimal unterrichtet, und ich war von den Schülern sehr enttäuscht, da

sie sich einen feuchten Kehricht um Philosophie oder Schule überhaupt scherten (lacht). Soviel älter als sie bin ich auch wieder nicht, aber die Kluft zwischen den Generationen in Portugal – oder vielleicht sogar in ganz Europa – ist erheblich. Ich konnte sie einfach nicht erreichen, selbst mit interessanten Aspekten nicht. Immanuel Kant beispielsweise ist absolut verhasst in den Oberstufen, und sie blockten total ab. Ich habe also meine Ambitionen, Lehrer zu werden, nach den Erfahrungen in diesen Klassen ad acta gelegt – nicht mein Vorhaben, Philosophie zu studieren, aber unterrichten werde ich nicht mehr.

Diese Frustration ist aber überall weit verbreitet. Man studiert Fächer, für die man sich interessiert und die einem wichtig sind, und dann hat meine eine total desinteressierte Klasse vor sich…

Fernando: Absolut desinteressiert. Als ich noch studierte, vor nicht allzu langer Zeit, selbst als ich in der Oberstufe war, hatten die Schüler noch keine Handys. Und jetzt hatten während meines Unterrichts alle SMS an ihre Freunde geschickt, so was wie: ’Hi, dieser Langeweiler on MOONSPELL ist hier und versucht gerade, uns irgendwas beizubringen. Ich habe die Nase gestrichen voll und will feiern gehen’. Es ist ziemlich traurig, denn wir haben sehr viel der portugiesischen Kultur in unsere Musik einfließen lassen – und wir werden dies auch weiterhin tun – und viele Leute begannen, Bücher zu lesen, auf die wir in unseren Stücken Bezug genommen hatten. Aber wir sehen unser Land heutzutage anders, als wir es noch 1995 oder 96 taten, als Portugal noch interessanter war. Vielleicht bin ich auch nur etwas verbitterter geworden, wenn es um mein Heimatland geht, weil es sich seiner selbst nicht bewusst ist. Die gesamte Kultur und alle wichtigen Dinge wurden amerikanisiert, obwohl das wiederum irgendwie etwas Europäisches ist, aber wenn du durch die Straßen gingst und Leute befragtest, könnten sie dir nicht einmal die Namen von fünf portugiesischen Flüssen nennen. Früher war Portugal etwas anders, die Leute wussten zumindest solche Dinge, und mir ist so was sehr wichtig.

Warum, glaubst Du, hat eine solche Entwicklung stattgefunden? Sind die Leute ihrer Kultur gegenüber einfach ignoranter geworden oder hat die Europäische Union bereits einen reduzierenden Einfluss auf die kulturellen Identitäten ihrer Mitgliedsstaaten?

Fernando: Die Idee, die hinter der Europäischen Union steckt, existiert ja als Konzept bereits seit langer Zeit. Eine der Personen, die am stärksten an dem föderalen Konzept gearbeitet hat, war Kant. Er wollte eine Verbindung von Staaten schaffen, die kulturell und politisch aneinander gebunden waren. Leider haben Leute, die dieses Projekt – was eine Vision vieler Philosophen war – angenommen haben, den kulturellen Aspekt vergessen.

Wir in Deutschland haben beispielsweise ein Bildungssystem, das noch auf Humboldt zurückgeht. Er war auch Philosoph und hatte diese Idee von Bildung als staatlichem Auftrag, etc., aber das war Ende des 18. Jahrhunderts bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts, und so alt ist im Prinzip unser Bildungssystem…

Fernando: Ist es gut oder schlecht?

Na ja, gibt Schlimmeres, glaube ich …

Fernando: In Portugal wird das Bildungssystem jeden Tag verändert, weil man in diesem Land ökonomischen Trends folgt, und da es viele Verlagshäuser gibt, werden sogar ständig die Lehrbücher geändert; etwas Derartiges passiert auch nicht gerade oft in anderen Ländern. So ändern sie jedes Jahr die Bücher, und in den Verlagen arbeiten Leute, die beispielsweise mehr über Descartes als über andere Philosophen wissen, so dass dieser dann Schwerpunkt für dieses Jahr ist. Und es ist sehr verwirrend, nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Lehrer. Ich kenne viele Lehrer – Freunde von mir – die sehr engagiert von der Uni kamen und ihr Wissen mit Schülern teilen wollen – vielleicht so, wie wir es mit unserer Musik tun – und jetzt überhaupt nicht mehr motiviert sind. Sie lesen privat die Bücher, die sie interessieren, und das ist es dann. Im Unterricht folgen sie den Lehrwerken, aber wenn du sie etwas fragst… Ich hatte ungefähr 30 Personen in meiner Klasse, als ich zur Schule ging, und mindestens 15 von diesen Schülern waren interessiert und hatten gute Noten, und das ist heutzutage die Ausnahme. Es gibt einen guten Schüler in der Klasse, und meiner Meinung nach könnte die Regierung etwas daran ändern, aber die beschäftigt sich lieber mit anderen Dingen, zum Beispiel, ob ein Stromerzeuger verstaatlicht werden und den Gang an die Börse wagen sollte, und das ist das Thema über sechs Monate. Eigentlich arbeitet das portugiesische Parlament nur drei Tage im Jahr, das ist lächerlich! Die Abgeordneten treffen sich lieber mit ihren Wählern, aber die meisten gehen natürlich gar nicht mehr zur Wahl. Es ist sogar ein gefährliches Problem. Einmal schrieb dieses große Musikmagazin, von dem ich eben sprach, eine Kritik zu meinem Buch und über MOONSPELL, und sie schrieben etwas, was überzogen sein mag, aber ein großes Kompliment für uns war, nämlich dass MOONSPELL als Rock- oder Metalband mehr für die portugiesische Kultur getan hätten als viele der Institutionen im Lande, und viele wunderten sich über den Mut des Journalisten, dies zu schreiben, den er arbeitet auch noch für gerade eben eine diese Institutionen, die er kritisierte.

Welcher Aspekt ist wichtiger für Dich: Das zu vermitteln, was Dir viel bedeutet, oder aber die portugiesische Kultur ein stückweit zu präsentieren?

Fernando: Ich denke, ein Stück portugiesische Kultur wird immer erhalten bleiben in der Art und Weise, wie wir an Musik herangehen, in der Art und Weise, wie wir klingen und insbesondere in den Themen, über die wir schreiben. Einige sind sehr typisch für die portugiesische Kultur, aber ich könnte nichts über die aktuelle portugiesische Gesellschaft schreiben. Ich arbeite an vielen Themen, die essentiell sind für unsere Kultur, die aber durchaus auch in anderen Kulturen eine große Bedeutung haben, aber die Art und Weise, wie wir mit diesen Themen umgehen, ist etwas anderes. Und wir fühlen, dass unsere Tradition ein wichtiger Bestandteil von MOONSPELL ist. Wir werden diesen Teil auch nie verlieren, selbst wenn wie keine Stücke mehr in unserer Muttersprache aufnehmen sollten. Aber seitdem ich so viel reise, interessiere ich mich mehr für den universellen Aspekt der Kultur. Als wir beispielsweise in Russland spielten – exzellente Shows übrigens – war ich sehr beeindruckt von den Menschen dort. Ich kannte zwar einige russische Autoren, wusste aber nicht, dass die Leute im allgemeinen sehr gebildet sind. Vor der Tournee haben alle, mit denen wir sprachen, die typischen Vorurteile über die russische Mafia und übersteigerten Alkoholkonsum wiederholt, aber Russland hat ein sehr strenges Bildungssystem – sie müssen einiges über ihre Kultur wissen, um etwas aus ihrem Leben machen zu können, während wir in Portugal diesem stupiden Ideal des ‚Self-made mans’ hinterherlaufen, der zwar nicht lesen kann, aber etwas Bedeutendes erfunden hat und dadurch reich wurde. Das ist ja sehr nett, aber man sollte sich schon Wissen aneignen. Aber leider folgt Portugal nicht diesem Beispiel, auch die portugiesischen Bands nicht: Sie bekommen z.B. eine gute Kritik im Terrorizer-Magazin, und das ist es dann – ihre Karriere ist vorbei. Mit MOONSPELL haben wir versucht, es anders zu machen. Deshalb unterscheiden wir uns auch von der portugiesischen Mentalität, wir folgen vielleicht eher der alten Identität, dem Volkstümlichen, dem Verlangen, die Welt zu entdecken, etc. Den Triumph der neuen Identität und des Business zu sehen, ist auf eine gewisse Weise ziemlich widerlich, aber eines unserer Ziele war, eine Bilanz zwischen dem Universellen und dem Besonderen zu schaffen.

Durch die Europäische Union ist die Idee nach einem gemeinsamen Bildungssystem mehrfach diskutiert worden, also dass Kids in allen Staaten so ziemlich das gleiche lernen sollen…

Fernando: Ich denke, das ist unmöglich. Ich hoffe es!

Du hast Philosophie studiert, und wenn man sich beispielsweise mit Nietzsche beschäftigt, fragt man sich, wie man seine Werke in andere Sprachen übersetzen kann, ohne dabei die Bedeutung des Geschriebenen zu verlieren. Es gibt zu viele Dinge, die einfach nicht übersetzt werden können…

Fernando: Es ist ein unmögliches Unterfangen, weil man sich in großem Umfang auch immer mit der Geschichte des jeweiligen Landes auseinandersetzen muss, die sich im Falle von Portugal und Deutschland stark unterscheiden. Es ist etwas anderes, wenn sie nur Dinge über die EG unterrichten wollen. Das entstammt den späten 70er Jahren, vielleicht wollen sie ein rein ökonomisch ausgerichtetes Programm. Ich hoffe, dass es unmöglich ist, denn einer Sache bin ich mir sicher: die Europäische Gemeinschaft hat kulturelle Aspekte überhaupt nicht berücksichtigt. Das hat viele Abwehrmechanismen in Menschen hervorgerufen, und jetzt sind die Kluften zwischen Portugal und Spanien, Finnland und Schweden noch größer, da die Leute das beschützen wollen, was von ihrer Kultur übrig geblieben ist, und es gab auch keinen Versuch, diesen Aspekt zu berücksichtigen. Ich habe so meine Zweifel, ob alle in der EU wissen, wo Portugal genau liegt und dass wir Portugiesisch sprechen, nicht Spanisch.

Und das ist echt das Witzige an der Sache – jeder in Europa beschuldigt die Amerikaner, Kultur gegenüber ignorant zu sein, aber ich war einige Male da, und ich denke, sie haben durchaus ihre eigene. Das soll keine Entschuldigung sein, aber man darf nicht vergessen, dass die USA ein sehr junges Land sind und unsere Geschichte weitaus älter ist. Wir sollten vor allem erst mal auf uns selbst schauen. Aber das einzige, was Amerikaner wissen, beschränkt sich auf ihre eigenes Land, Mexiko, Portugal und Spanien, und das war’s.

Wir malen immer ein sehr strahlendes Bild von uns selbst, wenn wir uns mit anderen vergleichen. So sagen wir immer, dass wir kultureller seien als die USA. Aber es gibt einige Dinge in der amerikanischen Kultur, die mir sehr am Herzen liegen, dennoch aber sollte Europa unabhängig von dieser Kultur sein. Die EU tötet Länder. Es wird nur das getan, was gut für einige herrschende Klassen ist, beispielsweise der Euro. Unsere Steuerberater mögen die neue Währung, weil es vieles einfacher macht – es gibt halt nicht mehr die ganzen unterschiedlichen Währungen wie Gulden, D-Mark, etc. Es ist praktisch, aber zurückblickend muss man sagen, dass Dinge, die die einzelnen Länder auszeichnen und unabhängig sein lassen, z.B. Flaggen und die eigene Währung sind. Viele Menschen sind sogar für diese Unabhängigkeit gestorben. Natürlich ist diese Sichtweise ein wenig nostalgisch, und wir sollten uns Gegebenheiten anpassen. Aber wir sollten die Hintergründe nicht vergessen, woher wir kamen und wie wir Dinge erreichten. Ein gemeinsames Bildungssystem kann einfach nicht funktionieren. Ich kenne z.B. Portugal und Deutschland. Man kann einfach nicht die gleichen Interessen haben, die gleiche Art und Weise, Dinge zu vermitteln, aber ich glaube, das ist genau der Grund, warum alle auf Europa schauten: Es ist wegen der großen Vielfalt auf einem vergleichbar kleinen Raum. Ich glaube, wir werden mit diesem EU-Ding nichts erreichen. Es ist einfach und praktisch, wie viele andere Sachen auch.

Was hältst Du eigentlich vom Europäischen Parlament? Es wird viel geredet, es kommt aber meiner Ansicht nach nichts dabei rum…

Fernando: Ich glaube, es ist ein netter Job, Mitglied des Europäischen Parlament zu sein. Aber bei den Wahlen, zumindest in Portugal, haben die Leute überhaupt nicht ihre Stimme bei dieser Wahl abgegeben. Es kümmert sie einfach nicht. Die Parteien stellen einfach Kandidaten auf, und es sind die Leute, die vier Jahre einen sehr gut bezahlten Job machen wollen. Wir haben in Europa keine Stimme. Jeder in Portugal kennt den Satz, den ein Kolumnist in einer portugiesischen Zeitung mal schrieb: Portugal hat ein europäisches Gesicht, aber der Rest des Körpers ist wie aus der Dritten Welt. Und damit lag er nicht wirklich falsch (lacht), obwohl ich selbst die Welt nicht so unterteile, weil es hierbei nur um wirtschaftliche Aspekte geht. Dieser Bezug zur Dritten Welt war nur etwas, um die Leser zu erschrecken, aber das mit dem europäischen Gesicht ist eine sehr interessante Sichtweise auf Portugal. Das Europäische an Portugal ist das Aussehen, aber hinsichtlich der wirklichen Probleme geht es schon in die Richtung, dass der Dreck unter den Teppich gekehrt wird, und das passiert of in Portugal. Es ist wirklich der ‚bad spirit’ des Landes. Das hat mit vielen Dingen zu tun, zum Beispiel mit der fehlenden Fähigkeit, den Problemen auf den Grund zu gehen und sie zu lösen. Es gibt sogar ein Sprichwort über diese Unfähigkeit im Land.

Ähnlich wie in Spanien?

Fernando: Nicht wirklich. Spanien ist ein Land, das viel mehr von internen Konflikten bestimmt wurde als Portugal, und natürlich mögen die Basken die Leute aus dem Süden oder Madrid nicht, wenn du aber nach Spanien gehst, siehst du saubere Museen und dass sich um die Dinge gekümmert wird. Jemand, der nach Portugal kommt, wird entsetzt sein über den Zustand vieler unserer kulturellen Schätze, beispielsweise der größten Bücherei des Landes, in der viele der bedeutendsten Bücher liegen, z.B. von portugiesischen Königen, etc. Es gab einen Astrologen in Portugal, der dorthin ging, um einige Nachforschungen über Fernando Pessoa anzustellen, und die zuständige Dame der Bücherei sagte ihm: ‚Gehen Sie dorthin, in der Nische werden Sie etwas finden’, und er findet nicht weniger als 3.000 astrologische Abhandlungen von Pessoa, die sowohl kulturell als auch finanziell ein Vermögen wert sind, aber niemand schenkte ihnen Beachtung. Er hätte diese Schriften einfach mitnehmen und sie einem Sammler verkaufen können.

Das passt ja zu dem Vernachlässigen der eigenen Kultur und Identität, von dem wir eben sprachen. Spanier sind im allgemeinen sehr stolz auf ihre Geschichte und Kultur. Wenn Du beispielsweise El País liest – also kein billiges Blatt – findest du auch all diese Skandale, die man versucht zu vertuschen…

Fernando: Ja, aber die Spanier sind heißblütiger als die Portugiesen. Sie haben diese Skandalpresse, die wir gerne hätten. Vielleicht ist es das, was Portugal braucht – keine Skandale, aber etwas weniger von diesem scheinheiligen Frieden. Wir leben ruhig vor uns hin, aber jeder ist verärgert und kurz vorm Explodieren. Ich kann Dir endlose Geschichten über Portugal erzählen. Zum Beispiel hat Portugal, glaube ich, zwei Nobelpreise gewonnen, einen für Medizin zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und einen für Literatur für José Saramago – und er lebt beispielsweise in Spanien. Und weiß Du, warum? Weil er sehr heftig von der portugiesischen Gesellschaft kritisiert worden ist, weil er dem linken Flügel zuzurechnen ist – er ist sogar Mitglied der Kommunistischen Partei – und das Land wird immer noch von diesen Geistern heimgesucht, die Liberalen gegen die Kommunisten, was völlig blödsinnig ist heutzutage, und José Saramago war irgendwann so angenervt von der Regierung und den anderen Autoren, dass er nach Lanzerote zog, einer spanischen Vulkaninsel, wo er immer noch lebt. Ich glaube, dass sogar die Feier anlässlich der Verleihung seines Nobelpreises in Spanien stattfand, nicht in Portugal. Oder sieh Dir MOONSPELL an: Ich war Mitglied der portugiesischen Autorengesellschaft, und ich hatte keine Ahnung, wohin meine Autorenrechte gingen. Also wurde ich Mitglied eines ausländischen Autorenverbandes, und seit diesem Wechsel klappt alles viel besser. Das ist genau die Sache: Die besten Wissenschaftler von den portugiesischen Universitäten arbeiten an Projekten in den USA, insbesondere in den Gegenden von Boston und Massachusetts. Es gibt viele Beispiele, vom kleinen Mann bis hin zum Experten, alle fliehen aus Portugal, weil sich die Situation niemals ändern wird. In Spanien gibt es einige Ausnahmen: Gaudí war reich, Dalí war ein Millionär, aber die meisten portugiesischen Dichter und Maler starben in absoluter Armut. Das ist irgendwie ziemlich traurig und deprimierend. Und das geht seit Jahrhunderten so.

Diese portugiesische Form der Depression ist ja auch Teil von „Darkness and Hope“, wie Du beim letzten Interview erwähnt hast und was sich auch in dem falschen Verständnis von Portugal als Paradies für Touristen ausdrückt, die aber nur kurz im Land verweilen und die Mentalität nicht durchdringen können. Ihr habt aber auch den traditionellen Fado, der oft sehr traurig und deprimierend sein kann, teilweise vielleicht sogar vergleichbar ist mit einigen der traurigen spanischen Romances, den Canciones, von denen es auch leichtere gibt …

Fernando: Ja, aber der Fado ist viel städtischer als die Leute meinen. Es gibt zwei große Richtungen des Fado in Portugal, Lisbon und Coimbra, und dies sind natürlich Namen von Städten in Portugal. Coimbra ist eine Universitätsstadt, und ich bevorzuge diese Form des Fado, weil sie sehr melancholisch ist und es Regeln und Ethiken dazu gibt. Der portugiesische Fado wurde stets in den klassischen und den Fado unterteilt, der auf den Straßen gespielt wurde und das rauere Verhalten dort widerspiegelte. Wenn du zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit jemandem gesprochen hättest, der Fado spielte, dann wäre es ein Vandale gewesen, der sich ständig prügelte, wahrscheinlich ähnlich wie ein Rockmusiker heutzutage, zumindest glichen sich beide. Der Coimbra-Fado hat einen strengen ethischen Kodex, der nicht durchbrochen werden kann, und er ist seit langer Zeit unverändert geblieben. Zum Beispiel darf man während der Aufführungen nicht Beifall klatschen, das ist verboten. Du musst mit geschlossen Augen zuhören, und das ist eher mein Ding. Er wird auf den Straßen gespielt, hauptsächlich von Universitätsdozenten, die ihn erhalten wollen, und ich glaube, dass diese südliche Form der Depression – die ich gerne den ‚Southern Death Style’ nenne, nicht den südlichen Lebensstil – etwas sehr Interessantes und gleichzeitig Verwunderndes ist. Und es viel mit… ja, mit ‚Darkness and Hope’ zu tun, definitiv. Und alle Namen entstammen diesem Stück, alle Stücke kommen aus dieser Quelle, und ich arbeite zurzeit an neuen Stücken, die das gleiche Thema haben, da es wirklich sehr interessant ist und viele Fragen unbeantwortet lässt, wobei ich versuche, den Schleier ein wenig zu lüften, indem ich die Texte schreibe.

Ein weiterer wichtiger Teil der portugiesischen Geschichte ist der Katholizismus, das Christentum. Du hast oft in Deinen Texten Bezug darauf genommen. Die Sache ist diese – woran man auch glaubt, ist eine persönliche Sache, aber organisierter Glaube ist immer problematisch…

Fernando: Ich glaube aber, dass es heutzutage kein so großes Problem mehr ist. Zumindest In Portugal sind Religion und das Christentum zu einer seltsamen Sache geworden. Es ist eher wie ein Klub, in dem Leute ihre Ehepartner finden, sich zu Picknicks treffen und beten, aber das war´s dann auch. Das ist Religion heute in Portugal, und ich bin froh zu sehen, dass der prozentuale Anteil von Leuten, die zur Kirche gehen, minimal ist im Vergleich zu den Zahlen vor zehn Jahren. Es ist aber eine Leichtgläubigkeit festzustellen, wie beispielsweise die Sache mit Fatima (ein portugiesisches Dorf, in deren Nähe angeblich im Jahre 1917 eine Erscheinung gesichtet wurde, und seitdem hat sich der Ort zu einer Pilgerstätte entwickelt – Anm. d. Verf.). Das alles wurde total kommerzialisiert. Man geht dorthin, um für einen Euro – so viel kostet es, glaube ich, heutzutage – einige Kerzen anzuzünden, und das ist etwas, das zur Organisation gehört, weniger zum ursprünglichen Glauben. Diese Entwicklung ist natürlich ein Problem für portugiesische Leute, denn diese religiöse Lücke wird durch nichts Anderes gefüllt. Beispielsweise bleiben die Leute nicht zu Hause und lesen etwas über spirituelle Themen, sondern sie sehen anstatt dessen dauernd TV. Es ist ein zweischneidiges Schwert in Portugal, da sich die Menschen von der Kirche abwenden, sie aber diese spirituelle oder religiöse Lücke nicht mit irgendetwas füllen. Es stimmt, ich habe sehr viel darüber geschrieben, aber es ist eigentlich nicht meine Art, Propaganda für das zu betreiben, was ich glaube oder nicht glaube. Wir haben aber eigentlich nie Probleme mit den Christen in Portugal bekommen. Mike und ich sind sogar mal eingeladen worden, unser damals aktuelles Album – es war Sin/Pecado – einer christlichen Gemeinde zu präsentieren. Ein Priester, der sehr offen für Dinge war, kam auf mich zu und sagte, er möge unsere Musik sehr und fände die Inhalte sehr intelligent, dass er meine Meinung aber natürlich nicht teilen könne.

Die Kirche ist schon etwas moderner geworden, hauptsächlich findet aber zurzeit eine Entfremdung statt, und die Menschen versuchen nicht, Heilung oder Motivation zu finden, indem sie zur Kirche gehen, das gibt es in Portugal nicht mehr.

Der Satz des Jahres 2001 war: ’Der 11. September änderte alles’, d.h., dass es irgendwie nach einer Verlagerung aussieht: Vor einigen Jahrhunderten wurde durch eine Glaubensorganisation die Inquisition hier in Europa gestartet, und nun gibt es diese extremen Tendenzen in einer anderen Religion, in einem anderen Teil der Erde, obwohl die Problematik dort natürlich auch eng mit der Geschichte Europas verbunden ist, z.B. im Nahen Osten. Nur grundsätzlich basiert es auf einem gemeinsamen Nenner: Wenn Glaube zum Äußersten betrieben wird…

Fernando: Der Glaube ist eine Sache, aber die Furcht vor Gott eine andere. Ich glaube, das ist das Problem: Die Angst vor Gott, die aufoktroyiert wird, das Bild dieses angsterregenden, mächtigen Gottes, das in jeder Religion existiert. Jeder sieht den 11. September als einen religiösen Angriff, aber es ist nicht nur das. Ich denke, das ist die Dimension des Problems, welches die Presse heraufbeschwören will – dass es nur ein religiöses Problem ist, dass es mit diesem Problem der Angst vor Gott zusammenhängt. Was aber angegriffen wurde, war das ökonomische Symbol der Vereinigten Staaten von Amerika – und dort gibt es viele ´Kirchen´, die angegriffen werden können. Es ist kein neuer Kreuzzug oder eine Intifada, obwohl es das ist, was sie daraus machen wollen, da die Leuten immer noch ziemlich leichtgläubig und abergläubisch sind, was Religion betrifft. Es gibt immer noch diese Sprichwörter, man ´klopft auf Holz´, etc. Das alles wurde vermischt mit dem weit verbreitetem Aberglauben und mit einer Tatsache, nämlich der, dass die USA unantastbar sind, und vorantreiben, während wir nur ´Beifahrer´ sind. Und das wurde durch den 11. September verändert: Die Frage der Verletzbarkeit. Das ist der Grund, warum jeder so schockiert war – ich selbst eingeschlossen – denn ungeachtet des Problems, wer richtig und wer falsch handelt, Israel ist in einer schwierigen geographischen Lage, und ich wäre nicht gerne in ihrer Position – denke ich, es ist nicht fair, es in einem globalen Kontext zu sehen. Portugal hat beispielsweise nicht viel damit zu tun, was in Palästina passiert, also sollten wir auch nicht unter den Effekten dieses Konflikts zu leiden haben. Andererseits ist es immer sehr einfach, die USA als ´Sündenbock hinzustellen. Sie sind zwar nicht so unschuldig, wie sie sich gerne dargestellt wissen wollen, es wird aber auch immer gleich mit dem Finger auf sie gezeigt, selbst wenn es nicht gerechtfertigt ist. Viele Leute kopieren das Amerikanische, weil sie neidisch sind.

Es ist ein sehr komplexes Problem, es hat aber mehr mit Politik denn Religion zu tun. Wie Du ja weißt, haben in islamischen Ländern alle politischen Parteien eine religiöse Basis. Es sind keine sozialistischen, kommunistischen, rechtgerichteten Parteien oder sonst was, sondern Religion und Politik sind für sie untrennbar miteinander verbunden. Ich weiß nicht, wer zu beschuldigen ist, ich weiß nicht, ob man die Terroristen gefangen nehmen muss oder nicht, aber dieser Anschlag hat das Fundament der Welt erschüttert, weil er zeigte, wie zerbrechlich es ist und wie weit Leute gehen können. Und sie sind sehr weit gegangen.

Es gab immer diese Illusion, dass wir in unserer westlichen Welt sicher sind und dass es der richtige Weg ist, den wir eingeschlagen haben, und all dies zerfällt nun in Stücke…

Fernando: Ja, aber ich dachte, die Leute wären weitaus paranoider. Auf The Butterfly Effect ging es nicht um den 11. September, aber um diese Spannung, die Du erwähntest – und stell Dir vor, was passiert wäre, wenn die Terroranschläge nicht 2001, sondern zum Jahrtausendwechsel stattgefunden hätten – es wäre noch dramatischer gewesen. Trotz allem denke ich, dass es zu schnell abgeklungen ist. Niemand schert sich mehr darum, was in Afghanistan passiert. Jeder saß zwei Wochen vor dem Fernseher oder dem Radio, nachdem die Luftangriffe gestartet wurden, aber kurz danach hatte es jeder akzeptiert; ein Krieg, der nicht das Erscheinungsbildes eines Krieges hat. Die Menschen in den USA wollen, dass ihr Kriegsinstinkt geweckt wird, und das ist die große Frustration. Niemand kämpft mehr irgendwo. Es ist seltsam, nicht wie im Zweiten Weltkrieg, wo man sich hinsetzte und stundenlang die Zahl der Opfer zählte. Es erscheint vollkommen virtuell zu sein, und ich denke, das macht die Leute nur noch konfuser. Das ist auch der Grund, warum niemand wirklich sich zu einer Seite bekennt. Selbst bei Tony Blair konnte man einen Hauch des Zögerns erkennen, anders als in anderen Kriegen, in denen die Länder sich sofort zu ihren alliierten Nationen bekennen und irgendwo zusammen kämpfen.

Sicherlich hat all dies auch mit Politik zu tun, dennoch aber berufen sich diese Terroristen auf einen Gott und kämpfen ´gegen Ungläubige´. Und dieses furchterregende Konzept eines Gottes ist nach wie vor weiter verbreitet als alles andere, und alle Religionen – bis auf Buddhismus – ist lebensnegierend und begrenzend. Es gibt einige Gegenbeispiele, z.B. Anton Szandor LaVey oder moderne Psychologie, etc. – die andere Ansichten verbreiten über eine gesunde Form der Erziehung, über eine gesunde Einstellung zum Leben, die fast mehr dem Satanismus als anderen Religionen zugerechnet werden kann. Also warum folgen Menschen immer noch diesen traditionellen Religionen, die zum großen Teil destruktiv sind, vor allem für das eigene Ich?

Fernando: Das ist eine gute Frage, und darüber diskutieren nicht nur moderne Atheisten. Die interessantesten Theorien sind meiner Ansicht nach – es sind leider nicht meine eigenen Theorien, weil ich im falschen Jahrhundert geboren wurde – eine Mischung aus dem, was Feuerbach und Nietzsche über Religion gesagt haben. Eigentlich war es wohl eher eine Kombination aus Religion und Wissen. Nietzsche war etwas sozialer, er hatte andere Ansichten über seine Arbeit als Feuerbach, aber ein wichtiger Punkt ist meines Erachtens nach dahin zurückzugehen, warum Religion überhaupt begann. Sie begann als Erklärung, als ethisches Ding, als Würdigung der menschlichen Fähigkeiten. Als man sie organisierte und sie durch Mitglieder verbreitete, veränderte sie sich. Zum Beispiel gibt es im Islam die extreme Interpretation, die wir heute kennen. Aber wir haben auch Leute kennen gelernt, die das Intro von „Under The MOONSPELL“ in einer Moschee in Portugal neu aufgenommen haben, und es waren sehr nette Leute. Sie wollten uns unbedingt arabisch beibringen (lacht). Es waren sehr freundliche, zurückhaltende Menschen, und sie hatten eher eine intellektuelle als eine rein religiöse Beziehung zu der arabischen Kultur.

Ich glaube aber, dass die wirkliche Erklärung dafür ist, dass der Mensch die Kontrolle verloren hat. Und es ist schwer, das zurückzugewinnen, was eigentlich unser ist, und das ist genau das, was Nietzsche gesagt hat, weil wir immer noch nicht die Fähigkeit besitzen, universelle und einfache Ansichten zu entwickeln. Alles, was wir über Götter etc. sagen, ist von Menschen geformt und basiert auf allzu Menschlichem, und das nicht nur, was Religion betrifft. Auch Technologie gehen wir so an. Es werden viele Dinge entwickelt, aber durch die etablierte Machtverteilung können sie nicht an die Oberfläche gelangen. Es gibt eine Gruppe Wissenschaftler, die das religiöse Gefühl untersuchen und es auf eine Art Hormon zurückführen. Sie versuchen, die chemische Reaktion von Religion zu etablieren, so dass sie es isolieren und den Menschen erklären können. Natürlich interessiert es mich, ich lese alles darüber und ich freue mich wirklich auf das Resultat, aber für die meisten Menschen ist es einfacher, die ‚sichere’ Version des Übernatürlichen für sich zu bewahren. Die Wissenschaft ist ein wichtiges Instrument, etwas über uns selbst zu lernen, und wir lernen immer mehr und mehr darüber, dass nur ein sehr kleiner Teil unseres Gehirns benutzt wird, und das ist eine mittlerweile anerkannte Tatsache. Und ich glaube, dass alles, was wir als Übernatürliches sehen, in diesem anderen Teil des Gehirns zu finden ist.

Es ist wichtig, diese menschlichen und evolutionären Mittel zu haben, um diese Prozess zu isolieren und zu zeigen, was Nietzsche und Feuerbach mit Worten und nicht mit Fakten gezeigt haben. Ich persönlich sehe keine Notwendigkeit, Religion zu organisieren. Damit angefangen und das berücksichtigend, was ich oben erwähnte, versuche ich, ein wenig gegen all das zu revolutionieren, obwohl es wahrscheinlich auf dem falschen Wege geschieht: viele Leute treten aus der Kirche aus, aber nur, um es durch das Fernsehen zu ersetzen, und vielleicht ist das nur der Anfang und das TV wird der vollkommene Ersatz. Aber ich kann nicht wirklich für eine religiöse Person sprechen, weil ich denke, dass sogar sie sich heutzutage ein wenig fehl am Platze fühlen in der Kirche. Ich gehe manchmal dorthin, um dieser sehr ätherischen Musik zuzuhören, aber in unserer modernen Zeit ist alles, was in der Kirche geschieht, lächerlich sogar für die Gläubigen; selbst die Bewegung des Verbeugens ist etwas, das abgelehnt wird.

In der modernen Psychologie wird behauptet, dass das Niederknien für einen Gott im Grunde eine Wiederholung von Schemata aus der Kindheit ist, wo der Vater oder beide Elternteile dominant waren, so dass es eine Wiederholung dessen ist, was man erlebt hat…

Fernando: Na ja, als Philosophiestudent bleibe ich von der Psychologie fern (lacht), da ich glaube, Psychologie wurde seit je her überbewertet. Ich lese zum Beispiel gerne Bücher von Freud, der vielleicht der wichtigste Autor des 20. Jahrhunderts ist, aber dann liest du im Alten Testament, dass es viele Menschen gab, die zur Unterhaltung des Pharaos kamen und Träume interpretierten. Und Psychologen lesen das und sagen: ‚Wow, das ist schon jahrhundertealt’, und dann diskutieren sie darüber und machen es zu einer Erfindung Freuds, was wahrscheinlich sogar gegen dessen Willen war. Aber Psychologie… ich weiß nicht, für mich ist es eine klinischere Sache. Sie können nicht gerade viele Theorien etablieren, und das beweist für mich mehr oder weniger die Tatsache, dass es kein Wissen in dem Sinne darstellt. Philosophie ist in dieser Hinsicht viel weiser und funktioniert besser als die Psychologie, was zudem irgendwie ein Trend ist; jeder hat seinen Psychiater, Nervenzusammenbrüche sind etwas, dass Leute gerne ihren Freunden demonstrieren, sie haben eine kleine Dose mit Pillen… Ich meine, ich kenne solche Leute und ich bin in dieser Hinsicht sehr altmodisch. Das Leben, dass ich als Mitglied von MOONSPELL führe, mit allen Erfolgen und Niederlagen, könnte psychologisch sehr interessant sein und ideal für einen Nervenzusammenbruch, ich hatte aber nie einen. Und warum? Weil ich nie glaubTe, einen zu bekommen. Und ich glaube stark and Willenskraft und diskutiere oft und heftig mit meinen Freunden, weil ich realisiere und akzeptiere, dass es viele Faktoren gibt für Nervenzusammenbrüche, wie Familienhintergründe und die Welt im allgemeinen, ich bleibe aber ruhig in meiner Ecke, widerstehe diesen Krankheiten, die meiner Ansicht nach etwas anderes sind. Die heutigen psychischen Erkrankungen wie Nervenzusammenbrüche sind wahrscheinlich am profitabelsten für Psychologen, und sie sind so populär und treten mit einer solch großen Häufigkeit auf, weil die Leute glauben, dass sie interessanter werden, wenn sie einen gehabt haben. Ich bin mir sicher, dass Du schon viele Musiker interviewt hast, die versucht haben, seltsam und verrückt zu wirken. Ich habe viele Musiker dieser Art getroffen, auch andere Künstler, die sich so verhalten. Ich denke, es ist ziemlich stupide, sich so zu verhalten, und ich verstehe es auch nicht.

Zurück zu Nietzsche: In seinen frühen Werken war er noch sehr positiv und hoffnungsvoll. Als er in der Schweiz war, schrieb er noch über die Jungend als Hoffnung und andere positive Dinge, wenn du aber die späteren Werken liest, merkt man eine generelle Veränderung. Er war letztlich ein sehr desillusionierter Mensch…

Fernando: Nietzsche ist einer der Philosophen, der zeigt, wie sehr das Leben die Philosophie beeinflusst, anders als beispielsweise Kant, der kaum ein soziales Leben hatte und dessen Art, die Dinge zu erfassen, sehr geradeaus war. Ich habe viel über Nietzsche gelernt, über seinen Bruch mit Wagner und dem Wagnerschen Geist, seinen Bruch mit der Liebe und der Gesellschaft, aber darin liegt die Schönheit des Ganzen, eine solche, von einem Menschen geführte Philosophie. Und man sieht viele Leute wie Schopenhauer, der wie der König der Pessimisten war, und dann schrieb er viele hoffnungsvollere Texte später in seinem Leben – ganz im Gegensatz zu Nietzsche.

Ich genoss das Privileg, Philosophie zu studieren, und mit den Mitteln, die ich von meinen Lehrern bekam, kann ich sehr gut zwischen der Biographie eines Schreibers und dem, was es bedeutet, unterscheiden, und das Interessante an Nietzsche, und auch das Erschreckende, ist in meinem Lieblingsbuch von ihm. Leider kann ich kein Deutsch; ich habe nur den Titel dieses Buches auf deutsch gelernt, kann mich aber momentan nicht an ihn erinnern. Egal, es ist keines seiner berühmtesten Werke. In ihm fordert er eine Genealogie der Moral und dieses Buch, welches irgendwie nicht besonders von seinem Leben beeinflusst ist, von seinem Hang zu Optimismus, Pessimismus, Brüchen etc., dieses Buch enthält die essenziellsten Dinge wie die Neubewertung der Werte, zum dem zurückzukehren, was unser ist. Es handelt von Willensstärke und vielen anderen sinnvollen Dingen, die bis heute Gültigkeit besitzen. Ich versuche, zwischen Nietzsches Leben und seinem Werk zu unterscheiden, obwohl ich seinen Lebensstil mochte. Er mochte ihn wohl weniger (lacht). Ich denke aber, er hatte alles, um ein solch großer Philosoph zu werden, er hatte die richtige ‚Dosis’ von Leid, um solch interessante Arbeiten zu erschaffen.

Als er über die verschiedenen Arten der Historie schrieb, während seines Aufenthaltes in der Schweiz, wurde die Geschichte an sich immer wichtiger für ihn, und ich denke, dass das seine grundsätzliche Haltung änderte…

Fernando: Ja. Obwohl Nietzsche Philosoph war, spezialisierte er sich auf Philologie, und das was sehr, sehr wichtig, da mit Nietzsche die Philosophie begann, die Philologie mit einzubinden. Nietzsches zeitgenössische Philosophen wählten nicht die richtigen Worte. Es war sehr klug von ihm, damit zu beginnen, denn es ist sehr schwer, gegen jemanden zu kämpfen, der die Vergangenheit dadurch versteht, dass er die Worte der Vergangenheit in ihrer Ursprünglichkeit versteht. Und Nietzsche gewann dadurch viele philosophische Kämpfe. Andere waren nicht so gut vorbereitet, und das ist der Grund, warum er so vollkommen war. Wenn du an Nietzsche herangehst, geht du an die knackigen, gepfefferten Sätze an der Oberfläche ran, aber es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Und so möchte auch ich etwas über Nietzsche lernen, obwohl die Zitate irgendwie ziemlich spektakulär sind, anders als die von Kant, der nie Gesichte schrieb. Ich habe viele Bücher von Kant gelesen und ich kann mich an ein Buch mit Auszügen von Texten erinnern. Dort findet man die einzigen poetischen Metaphern, die Kant je benutzte, wo es um einen Mann und eine Insel geht oder so, was aber ziemlich schlechte Poesie ist…

Nietzsche jedoch schrieb Gedichte, die okay sind, aber nicht zu meinen favorisierten gehören (lacht)… Er schrieb auch Klavierstücke, etc., also hatte er etwas Selbstgeschaffenes, etwas durch sein Wissen Geschaffenes, durch sein Leben und seine Energie beeinflusst, etwas, von dem seine Philosophie genährt wurde. Darum ist Nietzsche interessant, weil er diese große intellektuelle Seite hat, aber in einer ansprechenden Art und Weise. Darum zitieren so viele Bands Nietzsche – obwohl nicht immer mit guten Resultaten, aber zumindest zitieren sie ihn.

‚Wenn Du zu einer Frau gehst, vergiss die Peitsche nicht’ – das ist noch ein Zitat von Nietzsche… (grinsend)

Fernando: Das kannte ich noch nicht – aber es klingt gut (lacht).


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