Sind wir nicht alle ein bisschen TORI? Wer Anfang der 90er auf gepflegte Musik stand oder mit Leuten rumhing, die auf gepflegte Musik standen, der hat garantiert seinen einen, besonderen Song auf Little Earthquakes, der tiefe Erinnerungen weckt. Nee, nicht die an Partys und wilde Zeiten, meist an sehr emotionale Momente, selbst so manchem ach so harten Metal-Freak treibt sein Song wohlige Schauer über den Rücken oder auch dicke Tränen über die Wangen. Mit dem Debüt hat TORI AMOS überrascht, begeistert, Spuren hinterlassen. Nicht nur wenn man mit dem hübschen Rotschopf bereits vertraut war, ihr Einstand mit der Band Y KANT TORI READ war damals nicht so prickelnd. Zu sehr wurde versucht, TORI mit ihrer Band zwischen angesagten Rock-Ladies wie LEE AARON, PAT BENATAR und Co. zu platzieren. Das war – durchaus nachvollziehbar – gescheitert und Myra Ellen Amos machte solo als TORI AMOS weiter. Das Label traute der Sache nicht und schickte TORI vorerst nach England, wo die damalige Queen extravaganter Musik KATE BUSH immer noch sehr angesagt war und man dort mehr Chancen sah für den neuen Sound von Frau Amos. Und man lag richtig, dort fand sie schnell das passende Publikum. Dass dort ausgerechnet die A-capella-Nummer Me And A Gun ihre erste und gleich recht erfolgreiche Veröffentlichung war, mit der sie ihre eigene Vergewaltigung verarbeitet, das hätte in den USA sicher nicht funktioniert. Mit der nächsten Single Silent All These Years sollte dann auch die USA wieder in Angriff genommen werden, um ihr Debüt Little Earthquakes auch dort zu vermarkten. Voll am Zeitgeist vorbei, alle warteten auf die nächste Grunge-Sensation oder auch auf die nächste MICHAEL JACKSON-Single, R´n´B-Softies wie BOYZ II MAN und sexy TLC machten auf heile Welt. Und dann kommt TORI AMOS mit so einem einzigartigen, faszinierenden Album fernab aller angesagten Musiktrends.
Crucify packt einen sofort mit einem Groove, der gebremst durch die zarte Bridge so fordernd wirkt, da wippt sofort alles mit. Die bezaubernde Stimme erkennbar von der Frontfrau von Y KANT TORI READ, aber so präsent, so spinnig, so nach vorn direkt in Herz und Hirn des Zuhörers, ein Song und der Name TORI AMOS war das Sinnbild für anspruchsvolle, eigenständige Musik. Girl, so unschuldig, vertonte Schüchternheit. Wie sollte es möglich sein, bei Silent All Those Years nicht mit verklärtem Blick dazusitzen und jedem zerbrechlichen Wort zuzuhören. Baut sich die Pianoballade auf, dann huscht doch mal kurz KATE BUSH durch das Bild, das der Song vor dem geistigen Auge aufbaut. Tief vergrabene Emotionen, musikalisch greifbar gemacht. Die werden auch beim noch so verbohrten Zuhörer nach oben gewühlt, bei Winter fließen die eigenen Gefühle in Strömen, das introvertierte China, siehe oben. Welche Macht doch gerade ruhige Musik haben kann, wenn sie vom richtigen Künstler präsentiert wird! Ok, eben China hat einen dezent kitschigen Soundtrack-Touch, ist aber sooo schön mit seinen spinnigen Ausbrüchen. Eben diese verrückten Elemente zeichnen das Album mit aus, bei Happy Phantom hat man durchgehend ein fettes Grinsen im Gesicht. Wer das typische, eigenwillige Stageacting von Frau Amos kennt, wenn sie wie erotisiert auf ihrem Pianohocker herumtanzt – bei diesem Song denkt man sofort daran. Das sehr poppige Tear In Your Hand klingt fast aufdringlich, man mag fast an ROXETTE denken, die mit ihrem Hitalbum Joyride und den Singles daraus gerade die Charts weltweit aufrollten. Dem gegenüber steht die folgende A-capella-Nummer Me And A Gun, Schmerz, Angst, im Stil früh 70er Protestsongs, man leidet mit. Auch die anderen Songs haben ihr Eigenleben, und wenn sie mal nicht gleich musikalisch zünden, dann finden sich hier gerade die intensiven, hintergründigen Lyrics, für die TORI AMOS seither steht. Ergreifend, mitfühlbar, ausdrucksstark mit genug Raum, um sich hier und da auch selbst wiederzufinden. Und wo der Großteil der früh-90er Musik sofort seiner Zeit zuzuordnen ist, klingt dies hier absolut zeitlos, das ist Musik für die Ewigkeit, die auch in Form dieses schick aufgemachten Re-Release gnadenlos und dauerhaft den Player belegt. TORI AMOS selbst hat mit nur einem Album ihren eigenen Stil etabliert, der zukünftig immer wieder variieren sollte, aber immer eben sofort typisch TORI AMOS blieb. Eine Musiksammlung ohne Little Earthquakes ist keine Musiksammlung, daran gibt es keinen Zweifel.
Den gab es auch nie bei der Ankündigung der Bonus-CD, dass Tori hier mehr auspackt als übriggebliebene Outtakes war klar. Die vollgepackte Bonus-CD enthält die B-Seiten ihrer Singles, bei denen man meist gar nicht nachvollziehen kann, warum sie nicht selbst auf dem Album gelandet sind. Viele der Songs sind eher ruhig, ok, das wären wohl zu viel zerbrechliche Klänge gewesen auf einem kompletten Album. Aber auch hier gibt es genug durchgeknalltes Zeug wie Ode To The Banana King oder Humpty Dumpty. Manches weist auch Ähnlichkeiten auf zu den Albumsongs, kann auch hier überzeugen bis fesseln. Das knackig groovende Take To The Sky, ehemals die B-Seite zur Winter-Single, wurde bereits im Vorfeld als aktuelle Single herausgebracht. Bei Sweet Dreams swingt man sofort mit, Mary ist auf ganz eigene Art total catchy, TORI´s Version von NIRVANA´s Smells Like Teen Spirit ist ähnlich legendär wie ihre Coverversion von Reign In Blood. Bevor die zarte, introvertierte Ballade Here In My Hand die Bonus-CD beendet gibt es noch fünf Live-Aufnahmen von Albumsongs, aufgenommen in Cambridge im April ´92, die Sammler bereits als B-Seiten von Crucify kennen oder besitzen. Das ist hier vielleicht der einzige Nörgelpunkt, echte Fans haben die meisten der Singles und entsprechend die B-Seiten im Schrank stehen. Aber eben nur die, und wer nicht komplett versorgt ist, wohl die meisten, der kann allein unter dieser Sammlung an B-Seiten so manches Highlight für sich entdecken. Die Live-Version von Crucify, man sieht sie sofort vor sich auf der Bühne, wie sie ihre zwei Pianos und nebenbei ihren Hocker bearbeitet, während sie mit einem Blick über das Publikum schwebt, der irgendwo zwischen Unschuld, Sexappeal und Wahnsinn liegt.
Insbesondere da Album und Bonus-Songs mit einem sehr angenehmen Remaster zeigen, wie zeitlos diese Songs sind, die heute die gleiche Wirkung haben wie 1992, als sich TORI AMOS aufmachte, zur Göttin für so viele Fans zu werden, gehört dieser Re-Release gleichwohl in den Player eingeschworener Fans als auch Neulinge, die mit der faszinierenden Künstlerin und ihrer fantastischen Musik bisher nicht vertraut sind. Das schicke Digipack bringt noch ein Booklet mit inklusive den Single-Covers und Linernotes von J.D. Considine, ehemals Schreiber für´s ROLLING STONE und REVOLVER-Magazin. Den Re-Release gibt es auch als Download, das Album selbst kann man zudem auch als Vinylversion bekommen, da wird garantiert noch das Sparschwein gekillt.
Veröffentlichungstermin: 10.04.2015
Spielzeit: 57:16 / 76:54 Min.
Produziert von Tori Amos
Label: Rhino Records / Warner Music Entertainment
Homepage: http://www.toriamos.com
Mehr im Netz: https://www.facebook.com/toriamos
Tracklist:
CD 1: Original Album
1. Crucify
2. Girl
3. Silent All These Years
4. Precious Things
5. Winter
6. Happy Phantom
7. China
8. Leather
9. Mother
10. Tear In Your Hand
11. Me And A Gun
12. Little Earthquakes
CD 2 – Bonus Disc:
1. Upside Down (Silent All These Years single)
2. Thoughts (Silent All These Years single)
3. Ode To The Banana King (Part One) (Silent All These Years single)
4. Song For Eric (Silent All These Years single)
5. The Pool (Winter single)
6. Take To The Sky (Winter single)
7. Sweet Dreams (Winter single)
8. Mary (Crucify single)
9. Sugar (from China single)
10. Flying Dutchman (China single)
11. Humpty Dumpty (China single)
12. Smells Like Teen Spirit (Winter single)
13. Little Earthquakes (Live in Cambridge – Apr 5, 1992) (Crucify single)
14. Crucify (Live in Cambridge – Apr 5, 1992) (Crucify single)
15. Precious Things (Live in Cambridge – Apr 5, 1992) (Crucify single)
16. Mother (Live in Cambridge – Apr 5, 1992) (Crucify single)
17. Happy Phantom (Live) (Silent All These Years single)
18. Here In My Head (Crucify single)