In Sachen progressivem Rock oder Art Rock im weitesten Sinne muss man schon des Öfteren mal verschiedene Barrieren durchbrechen um Zugang zu manchen Werken zu finden. Wenn dies geschafft ist, entfaltet sich eine wunderbare Welt, die den Hörer gnadenlos absorbiert, eine gewisse Zeit überhaupt nicht mehr loslässt. Es gibt nur noch das eine Album und dann ist plötzlich Schluss. Man hat das Gefühl, ein Stück Musik Hördurchlauf für Hördurchlauf erkundet zu haben und kann es dann beruhigt in den CD-Schrank stellen – wie ein gelesenes Buch. Man ist auch stolz darauf dieses Stück kreativen Schaffens verstanden und in seiner Bibliothek zu haben. In seltenen Fällen kramt man die Alben immer wieder raus, solche Alben tragen dann Namen wie Lateralus, Images & Words oder auch Dark Side Of The Moon.
Oft wächst das Interesse an einem Album durch die Namen der beteiligten Musiker oder durch das Label, auf dem es veröffentlicht wird. So ist das auch im Falle von Picture. InsideOut hat bei KINO mit Pete Trewavas (Bass: MARILLION, TRANSATLANTIC), Chris Maitland (Drums: früher PORCUPINE TREE), John Mitchell (Gitarre, Gesang: ARENA, THE URBANE) und John Beck (Keyboard: IT BITES) gleich eine ganze Reihe Musiker zu bieten, die sich bisher nicht nur in ihren Hauptbands einen Namen gemacht haben. Die Barriere, die man anfangs zu überwinden hat, ist der Sound, der etwas leise und flach daher kommt. Da hilft allerdings das gute, alte Heavy Metal-Rezept: alle Regler auf 10. Ist dies geschehen, eröffnet sich eine wunderbare Welt, in der auch die Dramaturgie, die man mit dem Begriff Kino verbindet, stattfindet. An dieser Stelle sei auf das 2002er BOZZIO/SHEEHAN Projekt Nine Short Films verwiesen, das sich auch schon daran probierte, cinematische Effekte als Konzept für ein Album zu verwenden. Anders als bei diesen beiden Musikern gehen KINO jedoch mit weniger elektronischen Sounds und modernen, düsteren Themen um, als mit klassischen Neo Prog-Klängen. Der Unterschied ist wie der eines Hollywood B-Movies zu einem Film Noir. Beides ist anziehend und keinesfalls anspruchslos, doch KINO ist – wie der Film Noir – klassisch. Das hört man an dem aufwändigen Harmoniegesang, der seine Wurzeln bei den BEATLES hat, an dem klassischen Piano, an der klassischen Dramaturgie. Die (Klang-)Bilder sind klar gezeichnet, sie erfüllen einen eindeutigen Zweck, entsprechen sogar unmissverständlichen Klischees. Dabei schafft es die Band auch – trotz der langen Lieder – überflüssige Parts zu streichen. Die schrägen Neo-Prog-Harmonien fehlen ebenso wie die üblichen Keyboard-Soli. Stattdessen findet man überleitende Brücken, kraftvolle Klangcollagen und überraschende Einwürfe. Das ganze verschmilzt dann zu edel klingenden Songs, die jeweils ihrer ganz eigenen Dramaturgie folgen.
Neben dem monströsen Opener Losers Day Parade können vor allem Leave A Light und das an Phil Collins erinnernde Perfect Tense überzeugen.
Nicht selten hört man Parallelen zur zweiten CD von DREAM THEATERS 6DOIT. Zum Beispiel die Harmonien von Room For Two kommen einem doch bekannt vor. Allerdings kann man sagen, dass Picture die bessere zweite Hälfte gewesen wäre. KINO bringen die Stärken des Sounds, der eben nicht auf einer heftigen Gitarre, nicht nur auf krachendem Drumming mit lauten Crashs und hochtechnischen Basslinien basiert, schön zu Geltung. Ein bisschen Vintage-Sound, ein wenig Moderne, das Gespür für die richtigen Harmonien und das erkennen der Grenzen, in denen progressive Musik gleichzeitig angenehm und hörbar bleibt, zeichnen dieses Album aus.
Picture ist eine rundherum gelungene Erscheinung, abgesehen vom Sound, in den man sich kurz reinhören muss. Laut Info-Blatt soll KINO auch kein einmaliges Projekt bleiben. Warten wir mal ab, ob sich diese Aussagen vielleicht den Grenzen der Marktwirtschaft beugen muss. Es wäre zumindest schön, wenn es nicht so wäre, denn unter den ganzen Allstar-Projekten gehört dieses mit Sicherheit zu den besten – auch, wenn wir hier wahrscheinlich nicht von einem Klassiker reden, aber da verhält es sich auch wie mit den Filmen: Nicht jeder unterhaltsame Film muss – ohne zu wissen, was dazu fehlt – zwangsläufig ein Klassiker sein.
Veröffentlichungstermin: 28.02.2005
Spielzeit: 54:51 Min.
Line-Up:
John Beck – Keyboard
John Mitchell – Gitarre, Gesang
Chris Maitland – Drums
Pete Trewavas – Bass
Label: Inside Out
Tracklist:
01 Losers Day Parade
02 Letting Go
03 Leave A Light On
04 Swimming in Women
05 People
06 All You See
07 Perfect Tense
08 Room For Two
09 Holding On
10 Picture