ISIS: In the Absence of Truth

ISIS laden ein zu einer einstündigen Realitätsflucht – feinstes Kopfkino für Liebhaber.

Nothing is true, everything is permitted orakelte einst Hassan-I Sabbah, der alte Mann vom Berge und wie recht er doch hatte. Auch Drogenkoryphäe Willam Bourroughs wandte das Zitat des alten Mannes vom Berge an, doch wohl in einem anderen Kontext. Basierend auf welchen Kontext wir dies nun beziehen, und davon abhängig ob man Pessimist oder Optimist ist, erfährt man In the Absence of Truth oft ganz anders. Ist dies nun ein wütender, oftmals gebremster Aufschrei oder eine von Zweifeln durchzogene Kampfansage?

Das heißt nichts Anderes, als dass sich ISIS auf ihrem vierten Album mehr denn je der Aussagekraft der Musik verschrieben haben und dass man sehr tief in das lyrische Konzept der Band eintauchen muss, um die Musik richtig zu verstehen. Oder einfach nur genau zuhören und seine eigene Interpretation finden, so wie ich es gemacht habe. Fakt ist, dass ich gleich beim ersten Hören sprachlos war. Beginnend mit Wrists of Kings wird klar, dass ISIS nicht gewillt sind, zu ihren reinen Noisecore-Wurzeln zurückzukehren. Stattdessen baut sich der Opener langsam auf, ist sehr minimalistisch angelegt, wird aber dank dem klaren, rauen Gesang von Aaron Turner ziemlich hymnisch. Was ist los im Hause ISIS? Hat die Zusammenarbeit mit Mitgliedern von TOOL etwa Früchte getragen?

ISIS entwickeln sich einfach nur logisch weiter, legen nach dem verspielten Panopticon wieder größeren Wert auf Atmosphäre, grenzen die progressiven Spielereien aber nicht aus. Daraus ergibt sich ein Fortschritt, der so gesehen keiner ist, sondern eher eine Besinnung auf Stärken, die der Band vorher schon bewusst waren. Das heißt nichts Anderes, als dass die Ideen besser zünden, weniger Riffs, größere Durchschlagskraft – egal ob Not in Rivers, but in Drops, Dulcinea, Holy Tears oder Garden of Light, alle Songs haben Ideen, die sich vielleicht nicht wie ein roter Faden durch das ganze Stück hindurch ziehen, aber unweigerlich im Kopf des Hörers aufsteigen, wenn er nur an diesen Titel denkt. Bizarrer wird es beim Instrumental Firdous E Bareen, das wie ein Remix eines ISIS-Songs klingt, mit leicht elektronischer, Ambient lastiger Schlagseite, ein sehr gelungenes Experiment.

Nein, In the Absence of Truth ist kein einfaches Album, aber auch keines, das so schwierig ist, dass man daran verzweifeln möchte. ISIS haben ihre Mitte gefunden, balancieren ihre Stücke so aus, dass der Hörer relativ schnell Zugang findet, sich aber nie langweilt und immer wieder Neues entdeckt. Eben wie eine Reise in eine Welt, die es neu zu erforschen gilt. ISIS klingen irgendwie außerirdischer als sonst, hatten hörbar viel Möglichkeit zu experimentieren, bleiben aber glücklicherweise im Rahmen und helfen den Songs, statt sie zu stören. So besteht Over Root and Thorn erst minutenlang nur aus Collagen, bevor er schließlich so richtig beginnt – erst dezent, dann wütend und weitere Metamorphosen durchmacht. Und dadurch, wie auf dem ganzen restlichen Album, kommt die Laut-Leise-Dynamik so gut zum Einsatz wie nie zuvor in der Bandgeschichte.

Zwar ist dieses Album irgendwie unnahbar, trotzdem verliert man sich darin. Man schwebt mit den Gitarren weg, man wird vom Geschrei geweckt, vom klaren Gesang besänftigt. So gesehen also nichts Neues. Die Weiterentwicklung von ISIS bezieht sich eher auf die Keyboards, da diese nicht mehr nur für Atmosphäre verantwortlich sind, sondern auch wie in Garden of Light als tragende Melodieinstrumente eingesetzt werden – von Klischees jedoch keine Spur. Drummer Aaron Harris spielt viel komplexer, vor allem im Hinblick auf die Toms, wodurch die atmosphärischen Passagen noch besser zur Geltung kommen. Vor allem Aaron Turners klarer wie rauer Gesang ist aber Schuld an der ruhigeren Ausrichtung, da seine Stimme gewachsen ist und wie in Dulcinea und Holy Tears für Gänsehaut sorgt. Es klingt, als würde alles schweben.

Von Stagnation kann man auf In the Absence of Truth keinesfalls sprechen, wer die Scheibe hört, wird jedoch sofort und zweifelsfrei ISIS erkennen, eben weil die Band dermaßen charismatisch ist. Die Zeiten der großen Stilbrüche sind vorbei, doch zu sagen hat die Band noch immer etwas. Zum einen weil sie inzwischen ein dermaßen breites musikalisches Feld abdecken, zum anderen weil in ihrer Musik so viel Intensität enthalten ist, dass man selbst bei einer Oceanic-Kopie noch hin und weg wäre. So weit ist es mit In the Absence of Truth natürlich nicht, denn das ist noch immer feinstes Kopfkino: gehaltvoll, wunderschön und groß. ISIS laden ein zu einer einstündigen Realitätsflucht, in eine Welt der Philosophie, wo nicht der Schein zählt, sondern das Wesentliche. Und gerade darum ist dieses Album so wertvoll. Zweifellos eines der Highlights dieses Musikjahres, eingebettet in ein wunderschönes Artwork und für die Konsumenten der üblichen verdächtigen Interpreten selbstverständlich essentiell.

Veröffentlichungstermin: 3. November 2006

Spielzeit: 64:49 Min.

Line-Up:
Aaron Turner – Vocals, Guitar
Michael Gallagher – Guitar
Jeff Caxide – Bass
Aaron Harris – Drums
Bryant Clifford Meyer – Synthies

Produziert von Matt Bayles und ISIS
Label: Ipecac Recordings

Homepage: http://www.sgnl05.com

Tracklist:
1. Wrists of Kings
2. Not in Rivers, but in Drops
3. Dulcinea
4. Over Root and Thorn
5. 1,000 Shards
6. All Out of Time, All Into Space
7. Holy Tears
8. Firdous E Bareen
9. Garden of Light

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