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DEPRESSIVE AGE: Symbols for the Blue Times

Noch in dreißig Jahren werde ich, so meine Lebensdauer es will, "Symbols for the Blue Times" anhören können und dabei keinen Deut weniger Gänsehaut haben wie heute, etwas, das auf einer Welle schwimmende Acts nie vollbringen werden.

Ein immer wieder gerne in Reviews im Zusammenhang mit Eindruck machenden Alben verwendeter Ausdruck ist ´zeitlos´. Doch nur selten kann man sich solche Kritiken drei Jahre später mit der betreffenden Platte im Player durchlesen, ohne einen Lachkrampf zu bekommen, weil man sich mittlerweile nichts Altbackeneres vorstellen kann. Bei „Symbols for the Blue Times“ hingegen braucht man meiner Meinung nach nicht lange zögern, um das Prädikat ´zeitlos´ in seiner positivsten Bedeutung zu verleihen. Auch wenn manch einer damals der bis dahin bei aller Eigenständigkeit eher in Thrashregionen angesiedelten Berliner Band DEPRESSIVE AGE Anbiederung an neuere Strömungen vorwarf – das Album stellt alles andere als einen sich an die damals grassierende Grunge/Alternative-Welle anbiedernden Schleimbeutel dar, sondern ein Werk, das zur Zeit seiner Erscheinung wie heute noch einen ganz eigenen, originellen und weitab aller Musikstilschubladen angesiedelten Charme versprühte. Die einzige Parallele zu SOUNDGARDEN, ALICE IN CHAINS etc. war der Einsatz von Groove und düsteren Stimmungen. Und statt sich weiter von den letzten im Sound des Vorgängeralbums „Lying in Wait“ enthaltenen Thrashkonventionen einengen zu lassen, hatte das Quintett auf seinem dritten Album seinen ganz persönlichen Ausdruck von Melancholie gefunden. Unterstützt wurde das von einer gewöhnungsbedürftigen, weil wärmer als der damalige Standard klingenden Produktion.

“Symbols for the Blue Times” bietet pure, wundervolle Melancholie

Beginnt die Platte eher unspektakulär mit den eingefadeten Klängen von „Hills of the Thrills“, so ist „World in Veins“ der erste Überhammer mit seiner zwischen verzweifelt-traurigen Akustikparts und wilden Wahwahausbrüchen wechselnden Dynamik. Ähnlich angesiedelt sind der Quasititeltrack „Hut“ und „Rusty Cells“, während „Garbage Canyons“, „Subway Tree“ und „We Hate Happy Ends“ die härtere Seite der Band betonen. Die aber wohl mit Abstand genialsten Momente hat „Symbols for the Blue Times“, wenn die Band zu den Akustikgitarren greift und tiefgehende Balladen (ich nenne sie einmal so, ohne dabei auf Stehbluesschnulzen einer Band aus Hannover verweisen zu wollen) wie „Port Graveyard“ und „Sorry, Mr Pain“ zelebriert. Besonders ersterer Song bietet mit seinem perfekten Spannungsbogen, den gefühlvollen und doch alles andere als schmalzigen Gesangslinien und der bitteren Verzweiflung, die in den Zeilen und Tönen liegt, alles, was es braucht, um mich auch nach all den Jahren und all den Veränderungen, die ich seither durchgemacht habe, ganz tief in der Seele zu berühren und mich bei dem, was ich gerade tue, innehalten zu lassen. Gitarrist Jochen Klemp hatte hier alleine selbst Paul McCartney und John Lennon als Songwriter übertroffen! Doch auch „Friend within“ ist mit seinem langsamen Aufbau, seiner etwas ungewöhnlichen Gitarrenarbeit und den sich direkt ins Herz bohrenden Ohrwurmmelodien ein absoluter Höhepunkt der Musikgeschichte. Pure, wundervolle Melancholie ist es, die sich selbst in der größten Hektik dem Hörer bemächtigt. Besonders auffällig ist hier auch, wie DEPRESSIVE AGE ihre Ideen beständig weiterentwickeln und aus dem anfänglichen Akustikteil rockige Riffs entstehen lassen, statt einfach nur Riff an Riff zu hängen. Was METALLICA in punkto Arrangements auf ihrem schwarzen Album angestrebt hatten, setzten DEPRESSIVE AGE auf „Symbols for the Blue Times“ in Vollendung um.

DEPRESSIVE AGE haben lesenswerten Texte

Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben sollen die trotz gelegentlicher Englisch-Schwächen tiefgründigen, abwechslungsreichen und absolut lesenswerten Texte von Jan Lubitzki. Egal ob er bei „World in Veins“ sich dem komplexen Thema Sucht annimmt, bei „Neptune Roars“ ohne erhobenen Zeigefinger über den rücksichtslosen Umgang des Menschen mit der Natur anprangert oder sich in „Mother Salvation“ mit dem Tod seiner Mutter auseinandersetzt, immer findet er Möglichkeiten, seinen Schmerz, seine Wut und seine Ängste in treffende, unkonventionelle Symbole und Metaphern zu kleiden, ähnlich wie es das in meinen Augen kongeniale und packende Covermotiv schafft.

Pures Herzblut scheint aus den Boxen zu fließen

DEPRESSIVE AGE gingen 1994 voll und ganz auf in dem, was sie hervorbrachten, was nicht nur die um die Band kursierenden Geschichten, dass sie als Probanden Medikamente an sich austesten ließen, um Geld zum Überleben und Musizieren zu verdienen, oder dass Sänger Jan Lubitzki beim Videodreh zu „Friend Within“ eine Nacktschnecke verschluckte, die sich so erfolgreich der Verdauung widersetzte, dass er Tage danach ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, beweisen, sondern auch Takt für Takt in der Musik auf diesem Klassikeralbum nachzuhören ist. Pures Herzblut scheint da aus den Boxen zu fließen.

An dieser Stelle spare ich mir die obligatorische Klage über die Ungerechtigkeit in der Welt, die DEPRESSIVE AGE nach einem weiteren Klassealbum namens „Electric Scum“, veröffentlicht unter dem veränderten Bandnamen D-AGE, in der Obskurität verschwinden ließ, während HAMMERFALL und andere Retro-Langweiler die Massen zum CD-Kauf verleiteten. Denn noch in dreißig Jahren werde ich, so meine Lebensdauer es will, und sicher nicht nur ich, „Symbols for the Blue Times“ anhören können und dabei keinen Deut weniger Gänsehaut haben wie heute, etwas, das auf einer Welle schwimmende Acts nie vollbringen werden. Hoffen wir, dass die Herren Lubitzki, Klemp und Co. daraus eine tiefe Befriedigung ziehen, die eventuelle Trauer angesichts der Businessrealitäten vergessen macht…

Veröffentlicht: 1994

Spielzeit: 56:28

Tracklist:
Hills of the Thrills
World in Veins
Garbage Canyons
Hut
Subway Tree
Port Graveyard
We Hate Happy Ends
Fiend within
Neptune Roars
Sorry, Mr Pain
Kotze!
Rusty Cells
Mother Salvation
Line-up:
Jan Lubitzki – Gesang
Jochen Klemp – Gitarre
Ingo Grigoleit – Gitarre
Tim Schallenberg – Bass
Norbert Drescher – Schlagzeug
Produziert von: DEPRESSIVE AGE & Gerdi Gerhardt

Label: GUN Records

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