ANATHEMA: A Natural Disaster (zum zweiten)

„A Natural Disaster“ ist 100% ANATHEMA und bleibt doch Stückwerk.

Verzagen ist eine äußerst menschliche Eigenschaft. Man gerät ins Zaudern angesichts anstehender großer Aufgaben, man scheut vor nötigen Schritten zurück, man zieht sich zurück auf bekanntes Terrain, man bringt sich in Sicherheit. Besonders nach einer herausragenden, begeisternden Leistung kann sich Verzagen einstellen. Fragen kommen auf, Fragen danach, ob man noch mal die Kraft aufbringen kann, so etwas Außergewöhnliches zu erschaffen. Was damals leicht und spielerisch war, scheint jetzt unter dem Zwang der Wiederholung solch eines Kraftaktes schwierig und krampfhaft. Fragen danach, welchen Weg man gehen soll, wohin die Reise führt. Lieber hält man ein und blickt zurück auf das, was hinter einem liegt, denn daraus erwuchs bereits schon einmal Hervorragendes…oder?

Ich weiß nicht, ob diese Fragen auch Danny Cavanagh, der „A Natural Disaster“ laut Info im Alleingang geschrieben hat, durch den Kopf gingen und ihn in der kreativen Entwicklung hemmten. Genauso wenig ist mir bekannt, ob sie durch die Köpfe der restlichen ANATHEMA-Mitglieder geisterten und sie musikalisch lähmten. Ich bin auch kein Tiefenpsychologe und kann daher nicht nachvollziehen, ob das Verzagen vielleicht auch nur unbewusst stattfand bei den Songwritingsessions zu „A Natural Disaster“. Was mir als Basis für eingangs erwähnte Mutmaßungen dient, ist einzig die Musik auf der neuen CD der Briten. Angesichts der mutigen, überwältigenden und grandiosen Vorgängerscheibe “A Fine Day to Exit“ waren die Erwartungen zumindest von meiner Seite aus enorm. ANATHEMA hatten, ohne ihre natürliche Entwicklung zu leugnen, neue Türen aufgestoßen, neue Horizonte entdeckt und das alles mit einer Leidenschaft verbunden, die kein anderer in dieser Intensität jemals auf ein Album hatte bannen können. Doch statt weiter vorzudringen in das Universum perfekt arrangierter Songs, die vor Ideen, Atmosphäre und Gefühl nur so strotzten, aber jeglichen Kitsch außen vor ließen, verzagen ANATHEMA auf „A Natural Disaster“. Wie äußert sich das? Zunächst einmal in der Rückbesinnung auf vorherige Geniestreiche: Statt nach vorne zu schauen, ruhen sich die mittlerweile drei Cavanagh-Gebrüder und ihre Mitstreiter auf Erreichtem aus, gehen auf Nummer Sicher. Klar ist es schön, bei „Pulled under at 2000 Metres a Second“ plötzlich wieder diese unwiderstehlichen 6/8tel-Rhythmen zu hören, die auf „The Silent Enigma“ so typisch waren. Es ist wundervoll, mit „Balance“ einen Track zu hören, der auch auf dem überirdischen Vorgänger zu den Highlights gezählt hätte. Doch neue Impulse sucht man vergebens, und die Verquickung von bisher typischen Markenzeichen aus den verschiedenen Bandphasen wirkt hilflos und uninspiriert. Die alte Härte, die in „Pulled under at 2000 Metres a Second“ oder dem fast schon gebolzten Mittelteil des abschließenden Instrumentals „Violence“ wiederaufflackert, wird nicht virtuos eingebunden in einen schlüssigen Gesamtkontext. Ähnlich versäumt es die Band, die eingangs bei „Harmonium“ erklingenden Drumloopsamples in ein Album umspannendes Stilmittel auszubauen. So hart es klingt, „A Natural Disaster“ ist 100% ANATHEMA und bleibt doch Stückwerk. Anteil daran haben alle Beteiligten, besonders Sänger Vinnie versäumt es, mit eigentlich von ihm gewohnten ausufernden, eingängigen Hooklines voller Sehnsucht und Leidenschaft Akzente zu setzen und damit eine Grundlage für ein schlüssiges Gesamtwerk zu liefern.

Man darf jedoch nicht den Fehler machen und Verzagen mit Scheitern oder dem lautlich so nahen Versagen verwechseln. „A Natural Disaster“ ist ein sehr gutes Album, oder besser formuliert: „A Natural Disaster“ bietet viele sehr, sehr starke Songs, als da wären: „Balance“, das aus zarten Flageolettklängen und den ebenfalls schon seit „The Silent Enigma“ bekannten Bassdrum-und-Ride-Beats ein unbändiges Feuer an Emotionen entfacht. Das direkt daraus hervorgehende hypnotische „Closer“, das mit spacigen Vocaleffekten spielt. „A Natural Disaster“ mit unwiderstehlichen weiblichen Vocals von Schlagzeuger John Douglas´ Schwester Lee und wehmütigen Gitarren. „Pulled under at 2000 Metres a Second“, das die im Titel anklingende Dynamik kongenial umsetzt und plötzlich enormen Sog entfacht. „Are You There?“, das die gefühlvolle Seite von ANATHEMA voll zur Entfaltung bringt, ohne jedoch die Klaustrophobie von „Lost Control“ oder das allumfassende Sehnen von „A Fine Day to Exit“ zu erreichen. „Flying“, das mit einer ungewöhnlichen Gitarrenmelodie und viel Emotion aufhorchen lässt.

Diese Höhepunkte retten die Platte nicht vor dem Eindruck, dass vieles vorschnell als fertig deklariert wurde (das kitschige Instrumental „Childhood Dream“, das auch auf einer Kaufhaus-Entspannungs-CD zu finden sein könnte, soll als Beispiel genügen), dass nicht genügend Input von allen Beteiligten kam, um die Meisterleistungen, zu denen ANATHEMA zweifelsohne sonst fähig waren, nochmals zu erreichen. Es fehlen schlicht der Blick für´s Gesamtbild und das Bemühen, aus allen Ideen das Maximale herauszuholen…und gerade das war stets ein Anspruch der ANATHEMA-Fans an ihre Faves, wie ich behaupten möchte. „A Natural Disaster“ ist das Hin- und Herwinden in einer unangenehmen Situation, das ratlose Sich-Umschauen nach einem Hinweis, nach einem Richtungsanzeiger, das Verzagen angesichts einer großen Herausforderung. Wie eingangs erwähnt: Das ist menschlich, deshalb geht kein Vorwurf, sondern große Bewunderung an ANATHEMA, dass sie selbst bei nicht voll ausgereizten kreativen Möglichkeiten immer noch ein Klassealbum aufgenommen haben. Es bleibt allein der Wehmut, der einen ergreift, wenn man an das denkt, was die Band zu leisten imstande gewesen wäre, wenn sie so mutig und inspiriert wie bei „A Fine Day To Exit“ vorangeprescht wäre.

Spielzeit: 55:25 Min.

Line-Up:
Danny Cavanagh – guitars
Vincent Cavanagh – vocals, guitars
Jamie Cavanagh – bass
John Douglas – drums
Les Smith – keyboards

Produziert von Dan Turner
Label: Music for Nations

Homepage: http://www.anathema.info
Email: anathema@goodkarma.co.uk

Tracklist:
01. Harmonium
02. Balance
03. Closer
04. Are You There?
05. Childhood Dream
06. Pulled Under
07. A Natural Disaster
08. Flying
09. Electricity
10. Violence

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